Behinderung als Lebensstil?

27.05.2002 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Medizinethik allgemein

Merkwürdigkeiten angesichts der Empörung Nichtbehinderter über ein taubes Wunschkind

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.05.2002, Nr. 120 / Seite 42: Warum meinen die meisten Nichtbehinderten, dass sich zwei gehörlose lesbische Frauen nicht wünschen dürfen, ein gehörloses Kind zur Welt zu bringen?

"Zwei Menschen zeugen ein Kind" ist keine Meldung. "Gehörlose bekommen taubes Kind" würde allenfalls unter "Vermischtes" ein paar mitleidige Zeilen füllen. Wenn die gehörlosen Eltern aber lesbisch sind und auch noch durch Auswahl des Samenspenders die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, daß ihr Kind gehörlos zur Welt kommt, ist das in der Welt der Nichtbehinderten Anlaß für große Stories. Seitdem sich auch in deutschen Redaktionen herumgesprochen hat, daß Sharon Duchesneau und ihre Lebensgefährtin Candace McCullough aus Maryland, unterstützt von einem ebenfalls tauben Samenspender auf eigenen Wunsch ihr zweites gehörloses Kind bekommen haben, haben die Mitarbeiterinnen des Deutschen Gehörlosenbundes allerhand zu tun, mit Journalisten über den Anteil gehörloser Menschen in Deutschland, die gern gehörlose Kinder hätten, zu spekulieren.

Die "Sie sind lesbisch, sie sind taub - und wollten Kinder, die nicht hören können"-Geschichte beschäftigt die Medien transatlantisch, weil sie aufs schönste zu zeigen scheint, daß die Behinderten auch keine besseren Menschen sind und sich auch Designer-Kinder wünschen, nur eben welche von anderer Qualität: taube eben oder welche ohne Arme oder vielleicht sogar welche, die nicht sehen können. Was also soll die Aufregung über die eugenische Dimension und die diskriminierende Wirkung von Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, wenn die vermeintlichen Opfer dieser von der Gesellschaft so stark nachgefragten Techniken sie selber nutzen?

Der amerikanische Bioethiker Arthur Caplan spitzt die Frage noch weiter zu. Der Gebrauch, den Behinderte von den Techniken der assistierten Reproduktion machen, sei schlimmer als die Selektion, die Nichtbehinderte betreiben. Während die Präimplantations- und Pränataldiagnose das ethisch wertvolle Ziel verfolge, Behinderung zu vermeiden, habe das lesbische Paar sich dafür entschieden, sein Kind mit einer "Dysfunktion" zu belasten, und habe ihm damit Entwicklungsmöglichkeiten genommen. Das sehen die Eltern des Kindes ganz anders, denn sie begreifen sich weder als Behinderte noch als Menschen mit einer "Dysfunktion", sie sehen sich als kulturelle Minderheit.

Aber wer entscheidet, was eine "Dysfunktion" ist und was nur eine "Differenz" zu den gesellschaftlich vorherrschenden Wertvorstellungen? Und was heißt eine Sichtweise, wie Caplan sie hier propagiert, für andere Menschen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit "dysfunktionelle" Kinder auf die Welt bringen? Oder umgekehrt: Wenn die Herbeiführung von "Dysfunktionen" negativ und ihre Vermeidung wünschenswert ist - wie weit müssen Paare dann gehen, um die Gesellschaft nicht zu schädigen beziehungsweise ihr zu nützen? Wer Caplan folgt, wird es schwer haben zu erläutern, warum keine Bedenken dagegen bestehen, daß gehörlose heterosexuelle Paare Kinder bekommen, die mit genauso hoher Wahrscheinlichkeit gehörlos sein werden wie jetzt Gauvin, das Baby des lesbischen Paares. Und auch die Träger anderer genetisch mitverursachter "Dysfunktionen" werden dann erklären müssen, warum sie das Risiko eingehen wollen, ihr Kind mit "funktionellen Defiziten" zu belasten.

Wer Caplans auf klaren Wertvorstellungen aufbauenden Argumenten folgt, muß die Kultur der qualitätsbewußt gesteuerten Reproduktion konsequent vorantreiben - und zwar nicht um, wie es heute noch zumeist mit einer Formel aus dem Gemeinschaftskundeunterricht heißt, die "Wahlfreiheit der Eltern" zu befördern, sondern um eine aus biologischer Sicht optimale Funktionsfähigkeit des Nachwuchses zu sichern.

Das gilt um so mehr, als den beiden lesbischen Frauen, die an der Gallaudet Universität studierten, an der in Gebärdensprache gelehrt und kommuniziert wird, auch von Caplan nicht viel mehr vorgeworfen werden kann, als daß sie überhaupt Kinder bekommen haben. Denn anders als schwangere Frauen und ihre Männer, die vermeiden wollen, behinderte Kinder in die Welt zu setzen, hat die Mutter von Gauvin keine der Techniken angewandt, die in der gegenwärtigen bioethischen Debatte umstritten sind: Sharon Duchesneau hat sich weder einer Pränataldiagnose unterzogen noch etwa eine Präimplantationsdiagnose durchführen lassen, um sicherzustellen, daß sie ein nichthörendes Kind bekommt beziehungsweise keinesfalls ein hörendes.

In den Interviews, die sie seit der Geburt ihres Jungen namens Gauvin gegeben haben, haben die lesbischen Eltern auch immer wieder deutlich gemacht, daß sie sich auch über ein hörendes Kind gefreut, es also keineswegs abgetrieben hätten, wäre die pränatale Identifikation denn möglich gewesen. Die einzige Entscheidung, die sie getroffen haben, um die genetische Ausstattung ihres künftigen Kindes zu beeinflussen, war, einen Samenspender zu suchen, der selbst seit Geburt nicht hören kann, der also Teil ihrer "Community" ist. Sie haben dem Zufall mithin zwar durch die Wahl des Samenspenders auf die Sprünge geholfen, ohne aber ihren Plan durch gezielte Eingriffe zu verwirklichen. Damit bleiben sie im Rahmen des ganz normal Verrückten, das heute als Reproduktionsautonomie längst philosophisch abgesegnet ist.

Und auch die Medien nehmen längst routiniert hin, daß Paare, die sich aus welchen Gründen auch immer einen Samenspender suchen, wenn sie keinen Samencocktail mixen, sondern wissen wollen, wer der biologische Vater ist, stets eine bewußte Entscheidung für jemanden mit einer bestimmten biologischen Ausstattung treffen - nur, daß die Wunsch-Konstitutionen, aus denen sie wählen können und sollen, dann Angelegenheit der Samenbanken sind und dem entsprechen, was die große Mehrheit selbstverständlich wünschenswert findet, lange Beine, hoher IQ, blaue Augen. Mit der Kreation eines "Designer-Babys" hat diese Kombination aus Zufall und begründeter Hoffnung auf bestimmte Eigenschaften aber, anders als die im Rahmen der Präimplantationsdiagnose gezielte, nach vorher festgelegten Kriterien getroffene Auswahl eines von mehreren extra dafür geschaffenen Embryonen, wenig zu tun.

Denkt man in Deutschland über die Geschichte von Gauvin und seinen beiden Müttern Sharon Duchesneau und Candace McCullough nach, bleibt etwas anderes allerdings tatsächlich brisant. Die beiden Frauen hätten hierzulande gar keine Chance gehabt, mit ärztlicher Unterstützung überhaupt ein Baby auf die Welt zu bringen. Die Richtlinien des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer zur Durchführung assistierter Reproduktion verbieten nämlich "alleinstehenden Frauen und gleichgeschlechtlichen Paaren, einen Kinderwunsch zu erfüllen". Begründet wird das ganz pauschal und ohne nähere Begründung mit dem Kindeswohl - eine These, die sich mit den Erfahrungen in Ländern, in denen die heterologe Insemination auch für gleichgeschlechtliche Paare problemlos erlaubt ist, kaum stützen lassen würde.

Vor allem scheint die Ausschlußpolitik der Bundesärztekammer, die sich in dieser Richtlinie auf dem Stand von 1998 ausdrückt, mit der Einführung der eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft schwerlich in Übereinstimmung zu bringen sein. Die spannenden bioethischen Diskussionen, so lehrt dieses Beispiel, brauchen ein Umfeld, in dem ein größeres Maß an kultureller und gesellschaftlicher Toleranz herrscht.

Weiterführende Links

    Zeit-Artikel über den Fall | http://www.zeit.de/2002/18/Wissen/200218_m-lesbenbaby.html
    Die ausführliche Reportage der "Washington Post" | http://www.washingtonpost.com/ac2/wp-dyn/A23194-2002Mar27
    Taubenschlag - Das Portal für Gehörlose und Schwerhörige | http://www.taubenschlag.de/

 

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