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13.12.2001 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Gen-Medizin

Veröffentlicht in: FAZ 13.12.2001

Ethikregeln lassen sich temperieren: In Großbritannien wird das Spektrum der Präimplantationsdiagnostik erweitert

Die Anwendungsmöglichkeit der Präimplantationsdiagnose wird in Großbritannien ausgeweitet. Bislang durfte das Verfahren, bei dem außerhalb des Mutterleibs befruchtete Eizellen genetisch untersucht und erst dann in den Mutterleib implantiert werden, lediglich zum Ausschluß schwerer genetisch bedingter Krankheiten Anwendung finden. Künftig können Eltern mit Hilfe der PID versuchen, einen Blut- oder Gewebespender für ein bereits geborenes, krankes Kind zu erzeugen. Diese Ausweitung des Anwendungsgebietes der PID erfolgte gestern durch einen Beschluß der Human Fertilisation and Embryology Authority, deren Arbeitsweise DFG-Präsident Winnacker jüngst als Modell moralischer Konsensbildung empfohlen hat (F.A.Z. vom 23. November). Anlaß für die weitreichende Entscheidung bot der Antrag einer Familie aus Nottingham, die ein an Beta-Thalassämie (auch als Sichelzellenkrankheit bekannt) erkranktes Kind hat. Diese Familie wollte die PID nicht nur einsetzen, um ein zweites Kind, das nicht an Beta-Thtalassämie erkrankt ist, zur Welt zu bringen. Dieses Kind sollte gleichzeitig auch noch ein geeigneter Blutspender für das erste Kind sein.

Die sogenannten Beta-Thalassämie ist eine schwere, genetisch verursachte Schädigung des blutbildenden Systems. In ihrer schwersten Form haben die roten Blutkörperchen eine erheblich verkürzte Lebensdauer. Das in ihnen gebundene Eisen lagert sich teilweise in der Haut und in den Organen ab. Außerdem dehnt sich das Knochenmark in den Knochen erheblich aus, was zu deutlich sichtbaren Knochendeformationen, vor allem im Gesicht und an den Extremitäten, führt. Beta-Thalassämie ist konventionell nur symptomatisch zu behandeln. Da Beta-Thalassämie seit 1999 auch mit Hilfe der Präimplantationsdiagnose festgestellt werden kann, ist in einigen Ländern, vor allem in Zypern, wo diese Krankheit besonders verbreitet ist, die Durchführung dieser Selektionsmethode vorangetrieben worden. Mittlerweile hat sich gezeigt, daß die Transplantation von Nabelschnurblut, in dem Stammzellen enthalten sind, gute Behandlungsergebnisse zeigt.

Bislang wurde nur aus den Vereinigten Staaten ein Fall bekannt, in dem mit Hilfe der PID ein Kind erzeugt wurde, das nach der Geburt als Blut- oder Gewebespender für ein Geschwister-Kind zur Verfügung stand. Adam Nash, der seine vier Jahre zuvor geborene Schwester Molly, die an der Fanconi-Anämie litt, mit Stammzellen aus dem Nabelschnurblut versorgte, war allerdings ohne die Genehmigung einer staatlichen Behörde gezeugt und ausgewählt worden. Nach Bekanntwerden dieses Falles von gezielter Erzeugung eines Spenders gab es eine scharfe ethische Kontroverse über die Zulässigkeit dieses Vorgehens.

Gefragt wurde, ob es sich nicht um die unzulässige Instrumentalisierung eines Menschenlebens handelt. Dem wurde entgegengehalten, daß die gezielte Erzeugung eines Kindes, das als Spender von Blut oder von Gewebe in Frage kommt, auch auf natürlichem Weg versucht wird. Dabei sind die Erfolgsaussichten zwar erheblich niedriger, die Erwartungen an das Kind jedoch nicht geringer. Allerdings ist unbestritten, daß durch die Anwendung der Präimplantationsdiagnose, die eine hohe Erfolgsrate verspricht, eine deutliche Ausweitung dieser Praxis zu erwarten ist. Außerdem wird das, was bisher den Charakter einer privaten Verzweiflungstat hatte, jetzt durch den Beschluß einer Institution wie der Human Fertilisation and Embryology Authority in den Rang einer gesellschaftlich anerkannten Therapiemethode erhoben.

Wo sind die Grenzen zu ziehen? Zwar wird bislang vorwiegend über die Erzeugung von Kindern für die Spende von Nabelschnurblut diskutiert, über eine Spende also, die in nur sehr geringem Ausmaß invasiv ist. Denkbar ist aber auch, für andere notwendige Spenden gezielt Kinder zu erzeugen. Dieses Problem ist der Human Fertilisation and Embryology Authority, wie ihr Entschluß zeigt, auch bewußt: Ausdrücklich wird erörtert, ob es möglich sein soll, Kinder zu erzeugen, die als Knochenmarkspender gebraucht werden, beziehungsweise ob Kinder, die wegen ihrer Fähigkeit, Nabelblut zu spenden, ausgewählt wurden, nach dem Scheitern einer Nabelschnurblut-Behandlung als Knochenmarkspender zur Verfügung stehen können.

Die Antwort des Gremiums fällt unentschieden aus: Diese Kinder dürften unter genau den gleichen Voraussetzungen Knochenmark für ihre Geschwister spenden wie andere Kinder. Der Wunsch der Eltern allein reiche als Legitimation dafür nicht aus. Im Mittelpunkt stehe stets das Kindswohl. In der bioethischen Debatte zeigt sich allerdings, daß dieser Begriff im Zweifelsfall weit auslegbar ist: Das Wohl eines Kindes wird nach Auffassung vieler Ethiker auch dadurch gefördert, daß sein Geschwisterkind eine bessere Chance hat zu überleben. So plausibel diese Erwägung an sich ist, so problematisch erscheint sie im neuen Kontext, den die Wächter der britischen Reproduktionspraxis jetzt geschaffen haben: Bevor die Familie die Chance hat, im Miteinander neue soziale Beziehungen zu entwickeln, ist dem jüngeren Kind schon die Bestimmung als biologische Ressource zugewiesen. Sich davon zu emanzipieren dürfte um so schwerer sein, je schwerer die Eingriffe wiegen, die dieses Familienmitglied dulden muß, und je öfter sie vorgenommen werden müssen.

In Großbritannien ist mit dem Grundsatzbeschluß der Human Fertilisation and Embryology Authority für die Familie aus Nottingham der Weg für ihr als Spender geeignetes nächstes Kind zwar geebnet, zeugen können die Eltern und Mediziner es jetzt aber noch nicht. Anders als beispielsweise in den Vereinigten Staaten oder auch in Belgien ist die Präimplantationsdiagnose im Vereinigten Königreich, ebenso wie die Forschung mit Embryonen, nur unter dem Vorbehalt erlaubt, daß sie in jedem Einzelfall von einem Unterkomitee der Human Fertilisation and Embryology Authority, die 1990 durch ein Gesetz begründet und mit umfangreichen Kompetenzen ausgestattet wurde, genehmigt wird.

Das Unterkomitee hat vier Kliniken lizensiert, Anträge auf Durchführung der PID zu stellen, und hat in den letzten Jahren erst in wenigen Dutzend Fällen die Durchführung der PID gestattet. Allerdings geht Ruth Deech, die Vorsitzende der mit hochrangigen Wissenschaftlern und Ethikern besetzten Institution, davon aus, daß sich die Zahl der Genehmigungen in den nächsten Jahren vervielfachen wird. Die Präimplantationsdiagnose, die in der Bundesrepublik durch das Embryonenschutzgesetz nach Meinung der meisten Juristen verboten wird, darf in Großbritannien, außer in den jetzt neu genehmigten Fällen, nur zu Verhütung schwerster Erbkrankheiten durchgeführt werden. Was eine solche Krankheit ist, wird vom zuständigen Unterkomitee jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der familiären Situation geklärt, allerdings orientiert es sich grundsätzlich an den Krankheiten und Behinderungen, die auch eine Abtreibung möglich machen. Es wurde auch schon gestattet, die Präimplantationsdiagnose zur Verhinderung der Geburt eines Kindes mit Trisomie 21 (als Down-Syndrom bekannt) einzusetzen.

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