Das Ziel heißt Tod

02.09.1998 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: Konkret 09 / 98, S. 38

Deutsche Gerichte machen vor, was der Gesetzgeber sich noch nicht traut: die Legalisierung der Euthanasie

Die letzte Wahl steht auch dem Schwächsten offen, Ein Sprung von dieser Brücke macht mich frei. (Friedrich Schiller, Wilhelm Tell)

Schillers Plädoyer für die "Freiheit zum Tode", für das Recht, selbst über das eigene Sterben zu bestimmen, wird im Zuge der neuen "Euthanasie"Debatte auch von bundesdeutschen Juristen gern verwendet. In einem Vortrag vor der Bayrischen Akademie hat der Bonner Rechtsphilosoph Günther Jakobs, der sich für eine weitgehende Freigabe der Sterbehilfe einsetzt, Anfang des Jahres den Klassiker interpretiert: "So soll nach der Intention des Autors ein immer möglicher Ausweg aus Unterdrückung in vernünftige Freiheit benannt werden, aber erfaßt wird auch ein möglicher Sog von vernünftiger Herrschaft zu anarchischer Willkür. Deshalb hat der Staat ein Interesse, die Zwecke, für die gestorben werden soll, selbst zu bezeichnen und ansonsten den Tod so zu perhorreszieren, daß ein Sterben-Können nicht allzu leicht fällt."

In der Setzung von Zielen, für die wieder gestorben werden soll, tut sich der neue deutsche Staat zunehmend leichter: Seine starken Männer sollen heute zwar nicht mehr fechten, sondern mit dem Schützenpanzer "Marder" angreifen und aus dem "Leopard" schießen. Das Perhorreszieren des Todes in vielen anderen Fällen, vor allem wenn es um die Schwächsten geht, nimmt dagegen an Intensität deutlich ab. Die Auseinandersetzung um die Praxis der Patienten-Tötungen ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür: In den zwölf Jahren seit dem 56. Deutschen Juristentag 1986, der in seiner strafrechtlichen Sektion eine weitreichende Freigabe der "Euthanasie" an Alten, Behinderten und Schwerkranken gefordert hat, ist die Preisgabe des Lebensschutzes für gesellschaftliche Randgruppen tatsächlich weit vorangetrieben worden. Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie selbstverständlich die verschiedenen Instanzen und Institutionen dabei zusammen wirken, ohne daß sie je einen gemeinsamen Plan entwickelt hätten.

Einen großen Schritt nach vorn hat der Bundesgerichtshof getan, als er zunächst einem Arzt und einem Sohn einen unvermeidbaren Verbotsirrtum bescheinigte und ihren Versuch, eine im Wachkoma lebende, keinesfalls bereits sterbende Frau durch Nahrungsentzug zu töten, straflos lassen wollte, wenn er dem "mutmaßlichen Willen" der Patientin entsprochen habe. Bald darauf legten die obersten Karlsruher Strafrichter nach: Ein Arzt-Ehepaar, das eine befreundete kranke Millionärin statt in die Klinik zu sich nach Hause geschafft, ihr Testament verfälscht und dann im Spätstadium der Krankheit hohe Schmerzmitteldosen gegeben hatte, die den Todeseintritt der im übrigen falsch diagnostizierten und behandelten Patientin mutmaßlich beschleunigten, war vom Landgericht Kiel wegen Mordes und Totschlags verurteilt worden. Der Richterspruch überstand die Revision nicht, weil, so der in der juristischen Öffentlichkeit unter Ausblendung des Sachverhalts zustimmend zur Kenntnis genommene Leitsatz, eine extrem hohe Schmerzmitteldosierung zur Leidverminderung auch dann nicht verboten sei, wenn dadurch der Tod beschleunigt herbeigeführt werde. Diese beiden Entscheidungen waren für die Bundesärztekammer Grund genug, ihre Richtlinien zur Sterbebegleitung zu lockern - und auch die Herbeiführung des Sterbens von Schwerkranken durch Behandlungsabbruch zu regeln, ein Vorhaben, das bislang aufgrund erheblicher Meinungsverschiedenheiten in der Standesorganisation noch zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen ist.

Jetzt hat das Oberlandesgericht Frankfurt eine weitere Barriere niedergerissen: Dem Antrag einer Betreuerin auf Tötung der Betreuten, hier einer Wachkoma-Patientin, durch Nahrungsentzug, soll unter Berufung auf Paragraph 1904 BGB vom Vormundschaftsgericht stattgegeben werden können. Das, was dem BGH 1994 noch ein "unvermeidbarer", aber immerhin Verbotsirrtum eines Arztes zu sein schien, nämlich der Glaube, daß es erlaubt sei, einen bewußtlosen Menschen durch Nahrungsentzug zu töten, wird so, im Namen des Volkes, zu deutschem Recht. Ein Blick ins Gesetz klärt auf, daß Paragraph 1904 BGB eine Vorschrift ist, die den betreuten Patienten vor unbedachter Durchführung einer Heilbehandlung, die gefährliche Nebenwirkungen haben kann, oder vor der übereilten Zustimmung zu einem risikoreichen Eingriff schützen soll: Ziel ist Lebensschutz, nicht Lebensvernichtung.

Für die Frankfurter Richter kein Problem: Sie konstruieren eine Analogie, die "eine unbewußte Lücke, eine planwidrige Unvollständigkeit schließt". Während selbst nationalsozialistische Rechtspolitiker und Rassehygieniker die Schaffung eines "Euthanasie"-Gesetzes nicht für durchsetzbar hielten und auch in den Jahrzehnten nach dem Krieg Vorstöße in Deutschland und anderswo auf der Welt abgeblockt wurden, deuten die Frankfurter Richter das Fehlen einer Regelung, die die Tötung bewußtloser Patienten durch Nahrungsentzug erlaubt, charmant in ein planwidriges Versäumnis um. Das ist angesichts der Stimmung in Teilen der intellektuellen Elite nicht überraschend - aber angesichts einer immerhin noch geltenden Strafvorschrift wie dem Paragraphen 216 StGB, die sogar die auf ausdrückliches Verlangen erfolgte Tötung eines Menschen verbietet, nicht unbedingt einleuchtend. Daß die Frankfurter Oberlandesrichter sich dennoch unter keinerlei besonderem Legitimationszwang sahen, dokumentiert ihre knappe Abfertigung der Gegenmeinung. Hanauer Vormundschaftsrichter hatten angesichts eines ähnlichen Antrages einen Nahrungsentzug bei einer Koma-Patientin abgelehnt, weil die deutsche Rechtsordnung einen "Richter über Leben und Tod" nicht vorsehe. Die Frankfurter Revisionsinstanz kontert beherzt: "Hinter der Ansicht ist der Gedanke an das Euthanasieprogramm der Nazis verborgen, das mit dem Ziel der Vernichtung >lebensunwerten< Lebens keine Parallele zum vom wenigstens mutmaßlichen Willen des Betroffenen getragenen Behandlungsabbruch sein kann, auch weil die richterliche Genehmigung gerade und zusätzlich einem Mißbrauch entgegenwirken soll."

Nun geht es hier zum einen nicht um den Mißbrauch, sondern schon um den mit Tötungsabsicht vorgenommenen Gebrauch des Rechts auf Behandlungsabbruch; vor allem ist aber von einer Gerichtsbarkeit, deren obere Instanzen so zielstrebig und im Wortsinne bedenkenlos auf eine Freigabe der "Euthanasie" zusteuern, eine sinnvolle Kontrolle schwerlich zu erwarten. Wie auch, ist doch der "mutmaßliche Wille" der Betroffenen, der die Tötungsmaschinerie steuern soll, eine äußerst vage Angelegenheit. In dem vom BGH-Strafsenat entschiedenen Fall (s. KONKRET 7/95) reichte schließlich aus, daß eine Riege von sieben Zeugen aufmarschierte und beteuerte, die Patientin, deren Tötung beschlossen werden sollte, habe schon immer Angst vor Krebs gehabt und eine Abneigung gegen Intensivmedizin an den Tag gelegt. Was scherte es da noch, daß die Frau weder Krebs hatte noch auf einer Intensivstation lag? Auch in dem vom OLG Frankfurt verhandelten Fall zeigte sich schließlich, daß der "mutmaßliche Wille" der Patientin so klar offensichtlich doch nicht war: In der Neuverhandlung vor dem Amtsgericht zogen die Angehörigen ihren Antrag auf Abbruch der künstlichen Ernährung zurück. Einerseits habe sie der Medienrummel zu stark belastet, andererseits habe aber auch die Kritik an dem Urteil die Diskussion in der Familie wiederaufflammen lassen und offensichtlich doch Bedenken hervorgerufen, ob eine Tötung durch Nahrungsentzug tatsächlich dem Willen der Frau entsprochen hätte.

Daß die Patiententötung im Frankfurter Nordwest-Krankenhaus nun doch nicht stattfinden wird, stoppt die Bewegung, die das Frankfurter Urteil in die juristische Debatte gebracht hat, allerdings nicht. Wohin die Reise gehen kann, zeigt das Beispiel USA. Hier, wo die Möglichkeit des Abbruchs der künstlichen Ernährung in den achtziger Jahren in fast allen Bundesstaaten in mehr als 50 Leading cases kontrovers diskutiert und vom Supreme Court im Jahr 1991 schließlich grundsätzlich positiv entschieden worden ist, beschäftigt die Feststellung des "mutmaßlichen Willens" immer wieder die Gerichte. Dabei ist zum einen zu beobachten, daß Angehörige gelegentlich mit großer Entschiedenheit sehr gegensätzliche "mutmaßliche Willen" konstruieren, so daß kritische Juristen in Anlehnung an den eigentlich erforderlichen "informed consent" von einem "invented consent" sprechen; zum anderen versuchen Angehörige mittlerweile auch in Fällen, in denen die Patienten nicht im Wachkoma liegen, einen Ernährungsabbruch durchzusetzen.

Der prominenteste Fall ist der von Michael Martin, der 1987 bei einem Autounfall schwer versehrt wurde und Hirnverletzungen erlitt, die zu einem mehrmonatigen Koma führten. Als Folge des Unfalls sind noch heute seine Bewegungs- und Kommunikationsfähigkeiten erheblich eingeschränkt. Seine Frau Mary, die auch das Betreuungsrecht innehat, erbat schließlich die Erlaubnis, Michael Martins künstliche Ernährung abbrechen zu dürfen, da sich sein Zustand nicht mehr bessern würde. Im Verfahren behauptete sie, ihr Mann habe den mutmaßlichen Willen zu sterben. Seine Schwester und seine Mutter bestritten das und verwiesen überdies darauf, daß Michael Martin zwar schwer behindert sei, aber doch mit seiner Umwelt in Kontakt trete. Mehrere Instanzen sprachen Mary Martin das Recht auf Ernährungabbruch zu, der Oberste Gerichtshof von Michigan entschied in letzter Instanz dagegen, weil es die Beweise für den "mutmaßlichen Willen" Michael Martins nicht für ausreichend erachtete. Ein juristischer Beobachter des Verfahrens, Wesley Smith, kommentierte den Ausgang dennoch kritisch: "Was wäre aber gewesen, wenn er ein Patiententestament vorab unterzeichnet hätte? Hätte nicht die Tatsache, daß er wach ist, Bewußtsein hat und sich mit seiner Umwelt wie auch immer verständigt, ausschließen müssen, daß er von Ernährung und Flüssigkeitszufuhr abgekoppelt wird?" Die Antwort, die die Verhältnisse auf Smith' Frage geben, ist eindeutig: nein.

Daß auch in der Bundesrepublik die Entwicklung keinen grundsätzlich anderen, sondern höchstens einen schlimmeren Verlauf nehmen würde (weil hierzulande der Normierungs- und Standardisierungszwang weitaus höher ist als in den pluralistisch geprägten USA), legen die Argumente jener Juristen nahe, die immer stärker die Debatte konturieren. Schon der Bundesgerichtshof hat erläutert, daß der "mutmaßliche Wille", wenn keine konkreten Anhaltspunkte vorliegen, aus den allgemein üblichen Ansichten geschöpft werden müsse. Andere Juristen haben vorgeschlagen, auf das dem "mutmaßlichen Willen" immerhin noch innewohnende individuelle Moment gänzlich zu verzichten und statt dessen nach dem objektiv zu ermittelnden Lebensinteresse der Patienten zu fragen. Begründet wird das oftmals mit dem Verweis auf die ansonsten gegebene Möglichkeit, unter Berufung auf einen "mutmaßlichen Willen" am Lebensende Therapien über den medizinischen Standard hinaus zu erhalten.

Tatsächlich geht es also nicht um die Selbstbestimmung im Sterben, sondern um die Verschiebung der Behandlungs-Standards: Deswegen ist die Erarbeitung der neuen Behandlungsrichtlinien für die "Sterbebegleitung" ebenso eine Konsequenz der gegenwärtigen Entwicklung wie der Versuch des Bundesausschusses von Krankenkassen und Kassenärztlicher Vereinigung, die Gewährung künstlicher Nahrung aus dem Leistungskatalog zu streichen, damit es für die Angehörigen wenigstens teuer wird, wenn sie schwerkranke Patienten am Leben lassen, statt ihnen den "selbstbestimmten" Tod durch Verhungern zu besorgen. Günther Jakobs, Befürworter der Sterbehilfe, hat die absehbare Entwicklung knapp und nüchtern skizziert: "Sollte der Behandlungsverzicht üblich werden, so verändert sich auch, was für Ärzte als Standard zu gelten hat, und bei einem nicht ermittelbaren Willen wird ebenso verfahren werden, gegen die erweiterte passive Euthanasie helfen dann - durchaus ermittelbare - Proteste nur so lange, bis sie als Skurrilität einzelner Zurückgebliebener abgetan werden können. Analog wird es sich bei der direkten Euthanasie verhalten. In einer Gesellschaft, die auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ebensowenig eine allgemeine Antwort weiß wie auf diejenige nach dem Sinn von Leid, wird die Schwelle dessen, was an Leid drohen muß, um einen Todeswunsch vernünftig dartun zu können, immer tiefer gelegt werden."

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