Der Notstand des Rechts und die Geldnot der Eltern

20.06.2002 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Wie vor dem BGH über ein behindertes Kind verhandelt wurde, das Juristen als Schaden gilt

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.06.2002: Der Bundesgerichtshof mußte angesichts der Neufassung des § 218a StGB von 1995 seine "Kind als Schaden"-Rechtsprechung überprüfen. Eine Reportage vom Verhandlungstermin.

Im Saalbau des Bundesgerichtshofs, in dem bei besonders großem öffentlichen Andrang verhandelt wird, haben die Fernsehsender schon ihre Kameras postiert; auf den Pressebänken tauschen die Berichterstatter ihre Ansichten aus; die Studierenden der Universität Göttingen, die der Anwalt der Beklagten eingeladen hat, warten bereits ungeduldig auf das Erscheinen der Richterinnen und Richter des für Arzthaftungsrecht zuständigen VI. Zivilsenats. Während drinnen alle ihren Platz gefunden haben, hocken vor den Türen des Verhandlungssaals noch, still und etwas verloren in den großen Ledersesseln, ein junger Mann mit einem goldenen Kreuzchen um den Hals und eine junge Frau, die sich unruhig umblickt. Beide tragen ein kleines Plastikschild am Revers, auf dem "Besucher" steht. Zu Besuch bei der Justiz, die im Namen des Volkes in wenigen Stunden ein Urteil sprechen wird, von dem für das junge Ehepaar viel abhängt. Fabian und Susanne H. sind die Kläger in einem der Verfahren, die unter der Bezeichnung "Kind als Schaden" seit Anfang der achtziger Jahre für heftige Kontroversen sorgen. Dabei lassen diese Eltern keinen Zweifel daran, daß sie ihren behinderten Sohn keineswegs als "Schaden" begreifen. "Ein Leben ohne den Buben können wir uns gar nicht mehr vorstellen", sagt der Vater immer wieder. "Wir machen das alles hier doch nur für den Sebastian."

Sebastian, der mittlerweile sechs Jahre alt ist, kam mit viel zu kurzen, verformten Armen und Beinen zur Welt. Die Frauenärztin hatte bei den Ultraschalluntersuchungen in der zwanzigsten Schwangerschaftswoche die Anzeichen für diese spätere Behinderung nicht erkannt. Die Konsequenz ihres Diagnosefehlers erläutert das vorinstanzliche Urteil: "Bei rechtzeitiger Aufklärung hätte die Klägerin einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen." Sebastian, für den seine Eltern jetzt alles machen, für den sie die Mühen eines sich über Jahre hinziehenden Gerichtsverfahrens auf sich genommen haben, dem sie einen Platz im Kindergarten und jetzt auch in einer Regelschule erstreiten mußten, für den seine Mutter die Arbeit aufgegeben hat, dieser Sebastian verdankt sein Leben also dem Fehler der Frauenärztin. Und weil die Eltern jetzt für ihren Sohn das Beste wollen, der so viel braucht, was keine Kasse und kein Sozialhilfeträger zu bezahlen bereit ist, mußten sie die Medizinerin auf Schadenersatz und Schmerzensgeld verklagen, ohne die Sebastian wahrscheinlich niemals geboren worden wäre. Das ist das Paradoxon dieses Verfahrens, über das an diesem Morgen im Saalbau des Gerichts aber niemand redet, denn Verhandlungen vor dem Bundesgerichtshof haben Rechtsfragen zum Thema und vertragen keine philosophische Gründelei.

An diesem Dienstag geht es um die Zukunft der in Paragraph 218a Absatz 2 StGB festgeschriebenen medizinischen Indikation des 1995 nach langem und zähem Ringen zwischen Bundesverfassungsgericht und Politik im Parlament verabschiedeten neuen Abtreibungsrechts. Wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr sind und nach ärztlicher Erkenntnis unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nur eine Abtreibung diese Gefahr abwenden kann, erlaubt diese Regelung den Schwangerschaftsabbruch ohne zeitliche Begrenzung.

Rechtsanwalt Achim Krämer, der die auf Schadenersatz verklagte Frauenärztin vertritt, argumentiert an diesem heißen Tag, die 1995 in Kraft getretene Vorschrift sei verfassungswidrig - weil sie auch die Abtreibung von Föten erlaubt, die außerhalb des Mutterleibs lebensfähig sind, und das sogar, ohne daß eine Beratung stattfinden muß. Wenn das Gericht aber anders als er davon ausgehe, daß diese Vorschrift den Lebensschutz des Fötus nicht unangemessen vernachlässige, dann müßten wenigstens äußerst strenge Anforderungen an das Vorliegen dieser Indikation gestellt werden. Eine "mittelschwere Depression mit Krankheitswert", wie sie ein ärztlicher Gutachter bei der Mutter für die Zeit nach der Geburt diagnostiziert hat, reicht nach Krämers Meinung dafür nicht aus, die Vorschrift dürfte nur in einer wirklichen Notstandssituation Anwendung finden: "Sonst haben wir", formuliert er pathetisch, mit dem Zeigefinger auf die Richterbank weisend, "hier rasch das Eingangstor zur Euthanasie."

"Hätte sie sich denn umbringen sollen?" flüstert der Vater des Kindes seinem Anwalt Hans Klingelhöffer da erbittert zu. Und als Klingelhöffer, hochaufgeschossen und grauhaarig, leicht gebeugt stehend, diese Bemerkung in seinem Plädoyer zur Kenntnis gibt, ist das einer der Momente in diesem Verfahren, die die Kluft aufzeigen zwischen der Wirklichkeit, mit der Fabian und Susanne H. sich auseinandersetzen müssen, und den juristischen Problemen, die in diese Wirklichkeit hineinragen. Klingelhöffer gibt sich in seinem knappen, trockenen Plädoyer noch an einer anderen Stelle Mühe, der Realität der Eltern, die neben ihm sitzen und die in diesem Verfahren selbst vor Gericht nicht zu Wort kommen, Geltung zu verschaffen. Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht deswegen, "ich will es mal ganz brutal formulieren", das Geld.

"Wer finanziert den Schicksalsschlag, den die Eltern erlitten haben? Sie selbst? Die Gesellschaft oder die Versicherung der Ärztin?" Das Monatseinkommen des Vaters, der als Druckergehilfe arbeitet, reicht zwar für den extra angefertigten Teller aus, der es Sebastian erleichtert, ohne Hilfe zu essen, nicht aber für das Fahrrad, das seine Mobilität erhöht. Und wer trägt die Kosten für den Computer, der dem Jungen, der im Herbst auf Drängen der Eltern in eine Regelschule kommt, das Schreiben erleichtert? "Die Eltern brauchen das Geld, um das hier gestritten wird, damit sie das Kind besser aufziehen können", stellt Klingelhöffer zum Schluß fest. Der Einwand seines Kontrahenten Krämer klingt weniger eingängig. Weniger zutreffend ist er nicht: "Die medizinische Indikation erlaubt die Abtreibung nicht, weil das Kind für die Eltern zu teuer ist. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern zu bewahren ist nicht der Schutzzweck dieser Norm."

Die Vorsitzende Richterin Gerda Müller verfolgt den Schlagabtausch der Anwälte mit berufsmäßiger Nüchternheit. Zu Beginn der Verhandlung hatte sie noch bemerkt, daß angesichts einer zunehmenden Zahl von Schadenersatzklagen dieser Art das jetzt verhandelte Verfahren als Musterfall entschieden werden solle. "Für Anregungen der Anwälte bin ich deswegen dankbar." Nach anderthalb Stunden Verhandlung verständigt sie sich kurz mit ihren Beisitzern darüber, daß es für sie in dieser Verhandlung keine neuen wesentlichen Aspekte gegeben hat, und kündigt an, daß der Richterspruch noch am Nachmittag bekanntgegeben werden wird. Mit ihrer abschließenden Feststellung signalisiert sie nicht nur bereits die Richtung, in der ihr Senat entscheiden wird, sie markiert auch die Grenzen dieses Verfahrens: "Wir werden in unserem Urteil nicht nur an die Verfassung denken, sondern auch den konkreten Fall nicht aus den Augen verlieren."

Der Senat zieht sich zur Beratung zurück und gibt damit den Eltern Zeit und Raum, den konkreten Fall, der bislang in Rechtsfragen verkleidet war, zu erzählen. Drei Fernsehkameras sind auf Fabian und Susanne H. gerichtet, und die Journalistenfragen geben den Rahmen vor, der jetzt gefüllt werden soll: "Wie heißt die Diagnose von Sebastian genau?" - "Welche Therapien machen Sie mit ihm?" - "Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie ein behindertes Kind bekommen haben?" Die Eltern haben einen Stapel Fotos ihres Sohnes dabei - und Bilder, die sonst als Beweis für Freude und Stolz der Familie gezeigt werden, gewinnen hier Bedeutung als Belege für ein schweres Schicksal, das die H.s ereilt hat: die Armstümpfe des Neugeborenen, Sebastian mit Prothesen, Sebastian direkt nach einer der vielen Operationen, die er über sich ergehen lassen muß.

Es gibt aber auch andere Bilder: Sebastian in Lederhose, Sebastian auf dem eigens für ihn entwickelten Fahrrad und mit einem Eishalter, den sein Vater erfunden hat, umringt von kleinen Mädchen. Die Eltern berichten von dem Kampf um Eingliederungshilfe, von der Bürokratie, die ihnen soviel Zeit raubt, von den Schwierigkeiten mit Krankenkassen und von den Passanten, die sie ungläubig auf der Straße ansprechen: "Ja, haben Sie denn keine Untersuchungen in der Schwangerschaft gemacht? So ein Kind muß doch nicht sein." Der Alltag von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen, der sonst nicht allzuviel Aufmerksamkeit erfährt: Als Beiwerk zu einem großen Prozeß zieht er das Interesse der Journalisten auf sich.

Ein paar Stunden später steht die Entscheidung fest. Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die vorinstanzlichen Entscheidungen in vollem Umfang bestätigt. Auch der neue Paragraph 218a StGB und die medizinische Indikation stehen dem Anspruch der Eltern auf Unterhalt für ein Kind nicht im Wege, dessen Mutter wegen eines Diagnosefehlers nicht über die drohende Behinderung informiert wurde und die sich deswegen nicht für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden konnte.

"Wir haben für unseren Sebastian erreicht, was wir wollten." Der Vater atmet auf und wiederholt immer wieder: "Probleme wird er auch so noch genug haben im Leben." Eine pragmatische Sicht. Und Sebastians Eltern haben Grund, pragmatisch zu sein. Ein Alltag, der durch Klinikaufenthalte, das Engagement in Selbsthilfegruppen und durch Behördengänge geprägt ist, läßt wenig andere Möglichkeiten. Ob Recht so pragmatisch ausgelegt werden sollte, so sehr auf den konkreten Fall zugeschnitten und so wenig um verfassungsrechtliche Prinzipien besorgt, wie es der VI. Senat an diesem Tag getan hat, erscheint dagegen zweifelhaft. Denn mit diesem Urteil ist der Schutz für Föten, die behindert sein könnten, wieder etwas geringer geworden. Und damit sind auch die Chancen geringer geworden, daß Kinder wie Sebastian einmal die Chance bekommen, geboren zu werden.

"Ein Arzt muß ja, wenn er einen Befund hat, nicht zum Abbruch raten", erläuterte die Vorsitzende Richterin Müller zu Beginn der Verhandlung das Problem des Falls aus ihrer Sicht, "aber er muß der Frau die Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes ermöglichen." Das klingt selbstverständlich. Und ist doch viel zu einfach. Denn wie weit her ist es mit den Möglichkeiten der Frau, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben, wenn sie der Arzt korrekt über die drohende Behinderung des Kindes aufgeklärt hat und sie ihn deswegen nach der Geburt des Kindes nicht auf Unterhaltszahlungen verklagen kann? All die finanziellen Belastungen der Familie H., die die Versicherung der Ärztin jetzt tragen muß, nimmt einer Frau, die sich bewußt für ein Kind mit Behinderung entscheidet, nämlich niemand ab.

Die ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, zu den "Kind als Schaden"-Fällen, die der VI. Senat jetzt im Licht des neuen Rechts zum Schwangerschaftsabbruch bekräftigt hat, verfestigt, weil sie die Lösung für die Versorgung der behinderten Kinder im Arzthaftungsrecht sucht, ein Dilemma: Nur Eltern, die einen Fehler des Arztes nachweisen und die glaubhaft machen können, sie hätten sich gegen ein behindertes Kind entschieden, können es sich später finanziell gut leisten, mit einem behinderten Kind zu leben.

Weiterführende Links

    Pressemitteilung des BGH | http://www.bundesgerichtshof.de/PressemitteilungenBGH/PM2002/PM_060_2002.htm
    Ein Urteil des OLG Nürnberg zu Schadenersatzansprüchen eines behinderten Kindes wegen Diagnosefehlers des Arztes ("wrongful life") | http://www.justiz.bayern.de/olgn/rspr/urt/urt_1u1996.htm

 

Zurück zur Übersicht