Der Nürnberger Ärzteprozeß und die neue Debatte über Menschenversuche

05.12.1997 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Versuche am Menschen

Ausgestrahlt Dezember 1997 | Deutschlandfunk / Feature

O-Ton 1 (Karl Brandt)
Hier stehe ich unter furchtbarster Anklage. als wenn ich nicht nur nicht Arzt wäre, sondern auch noch ein Mensch ohne Herz und Gewissen.(19:28) Glaubt man, es sei mir ein Vergnügen gewesen als ich den Ermächtigungsauftrag zur Euthanasie bekam? Fünfzehn Jahre habe ich am Krankenbett mich bemüht und jeder Patient war mir wie ein Bruder. Gegenüber dieser Anklage geht es auch um mein Recht auf Menschlichkeit

O-Ton 2 (Versuchsopfer)
Dann wurde ich ins Revier gerufen und dort bekam ich die Malaria.. Dorten waren solche kleinen Käfige mit infizierten Mücken auf diese Käfige mußte ich die Hand herauflegen. Die Mücken haben mich gestochen und danach lag ich im Revier fünf Wochen aber es hatte sich vorläufig nichts gezeigt. Etwas später, zwei, drei Wochen, kam der erste Malariaanfall.

O-Ton 3 (Siegfried Handloser)
Ich habe die unbedingte Zuversicht, daß das Hohe Gericht ein wahres Bild meiner Tätigkeit und meiner Einstellung gewonnen hat. Wie ich mich in meinem ganzen Leben bemüht habe die Aufgaben, die mir das Schicksal gestellt hat nach bestem Können im Bewußtsein meiner Verantwortung zu erfüllen, so habe ich die schwerste Prüfung vor diesem Gericht zu bestehen versucht mit der stärksten Waffe, die ich besitze: mit der Wahrheit!

O-Ton 4 (Versuchsopfer)
Man gab mir von diesen Spritzen neun Stück. Jede Stunde eine, jeden zweiten Tag. Dann hat sich mit einem mal mein Herz, so als ob es herausgerissen worden wäre. Ich wurde wahnsinnig, habe die Sprache verloren. Das dauerte bis zum Abend.

O-Ton 5 (Kurt Blome)
Unter dem verderblichen Einfluß einer raffinierten Propaganda gegen die selbst das Ausland machtlos war hat das Deutsche Volk und hat auch der Deutsche Arzt geglaubt, einem ehrlichen Führer zu folgen und einer guten Sache zu dienen. Sie empfanden es daher als höchste sittliche Pflicht, das Vaterland in Zeiten der Not und besonders in Zeiten eines Krieges nicht im Stich zu lassen. Gerade in Zeiten des totalen Krieges, der Hungersnot undder Seuchengefahr waren die Arbeitsverhältnisse für den deutschen Arzt unglaublich schwer. So schwer, daß man sich heute kaum mehr eine richtige Vorstellung davon machen kann, was in diesen Zeiten die deutschen Ärzte für Freund und Feind gleichermaßen geleistet haben. Mag man uns zwanzig Ärzte hier auf der Anklagebank zu Recht oder zu Unrecht beschuldigen. Ein übergroßes Unrecht ist es auf jeden Fall die deutschen Ärzte in der Öffentlichkeit ganz allgemein zu diffamieren, wie das immer wieder geschehen ist. Als früherer stellvertretender Reichsärzteführer kenne ich die Verhältnisse im deutschen Ärztestand während der Hitlerzeit und in in ihrer Mehrheit war die deutsche Ärzteschaft tüchtig, anständig und human.

Autor: Der Erfahrungsbericht eines Überlebenden von Menschenversuchen im Konzentrationslager und die Schlußworte der Angeklagten im Nürnberger Ärzteprozeß: Von November 1946 bis August 1947 dauerten die Verhandlungen. 23 Ärzte und Funktionäre waren wegen ihrer Beteiligung an Menschenversuchen, an Zwangssterilisationen und am Behindertenmord angeklagt. Der Begleitarzt Adolf Hitlers und Waffen -SS-General Karl Brandt; Siegfried Handloser, der Chef des Wehrmachts-Sanitätswesens und Kurt Blome, der stellvertretende Leiter der Reichsärztekammer bekannten sich, wie auch alle anderen angeklagten deutschen Mediziner, nicht schuldig. Dabei bestritten die meisten der Angeklagten nicht einmal, daß sie Menschenversuche durchgeführt oder für sie verantwortlich gezeichnet hatten. Sie glaubten ihre Taten aber legitimieren oder die Schuld für offensichtliche Verbrechen auf bereits gestorbene Wissenschaftler abwälzen zu können.

Zum Beispiel Professor Karl Brandt: Der Chirurg war seit 1939 mit der Organisation des Massenmordes an Behinderten und Kranken befasst. Über die Jahre wurden seine Kompetenzen Schritt für Schritt erweitert. 1944 erhielt er den Titel "Reichskommissar für das Snitäts- und Gesundheitswesen". Von da an konnte er allen Organiationen des Staates, der Partei und der Wehrmcht in Gesundheits- und medizinischen Angelegenheiten Weisungen erteilen. Im März erging über ihn ein Führerbefehl, der die besondere Dringlichkeit von Versuchen mit Kampfstoffen zum Thema hatte. Neben Versuchen mit Menschenaffen, denen äusserliche und innerliche Verbrennungen mit dem Kampfgas Lost und mit Phosgen zugefügt worden waren, wurden auch Experimente an Menschen, Häftlingen aus den Konzentrationslagern in Sachsenhausen und Natzweiler-Struthof durchgeführt. Der Bericht eines Arztes an Karl Brandt blieb erhalten und konnte im "Nürnberger Ärzte-Prozeß" als Beweisstück eingebracht werden:

Zitator: An 40 Häftlingen wurden Versuche durchgeführt über die prophylaktische Wirkung des Hexamethylentetramins bei Phosgenvergiftung. Davon waren 12 oral geschützt, 20 intravenös und acht dienten als Kontrollen. Die Versuchspersonen waren durchweg Menschen mittleren Lebensalters, fast alle in schlechtem Ernährungs- und Kräftezustand. Grundsätzlich waren die kräftigeren als Kontrolle verwendet. Für die Veruchsanordnung und ihre Ergebnisse charakteristisch ist der Versuch XV: Von vier Versuchspersonen wurde die eine oral, die zweite intravenös geschützt , die dritte erhielt eine intravenöse Injektion von Hexamethylentetramin nach der Vergiftung um auch die Frage der therapeutischen Wirksamkeit nochmals zu klären, die vierte blieb ohne jede Behandlung. Die vier Personen kamen in die Kammer, in der eine Ampulle mit 2,7g Phosgen zertrümmert wurde. Die Versuchspersonen bleiben 25 Minuten in dieser Konzentration. Dere intravenös Geschützte blieb gesund und zeigte nicht die geringsten Beschwerden, der oral Geschützte bekam ein leichtes Lungeödem., später eine Bronchopneumonie und Pleuritis, die er überwand. Eine Kontrollperson überlebte ihr Lungeödem ebenfalls, die zweite starb nach wenigen Stunden, die Sektion ergab den charakteristischen Befund eines sehr schweren Lungenödems.

O- Ton 5 (Karl Brandt)
Es gibt ein Wort, das scheint sehr einfach: Befehlen. Und was an Ungeheurlichem birgt es. Wie maßlos sind die Konflikte, die hinter dem Gehorchen sich verstecken. Beides traf mich. Gehorchen und Befehlen. Beides ist Verantwortung. Ich werde einer solchen Anklage um meinetwillen nicht ausweichen. und es ist der Versuch der menschlichen Rechtfertigung meine Pflicht allen gegenüber, die an mich glauben, die mir vertrauten, und die mich auch nicht verlassen haben - sowohl als Mensch, wie als Arzt und Vorgesetztem. Ich habe den Menschenversuch wie er mir als Problem auch begegnet sein mag, nie als Selbstverständlichkeit angesehen. auch nicht dort, wo er ungefährlich ist. Aber ich bejahe aus Gründen der Vernunft seine Notwendigkeit

Autor: Tatsächlich hatte ein Großteil der medizinischen Experimente, die Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus an Menschen durchführten, einen "Sinn", waren die Versuche, die viele Menschen das Leben oder ihre Gesundheit gekostet haben, keineswegs Ausdruck eines irrationalen medizinischen Terrorismus. Bei einem erheblichen Teil der Experimente ging es den Forschern in den Instituten darum Erkenntnisse zu gewinnen, die für die Kriegsführung der Wehrmacht von Bedeutung sein konnten. Neben den Experimenten, die die Aufklärung der Wirkung von Kampfgasen am Menschen zum Ziel hatten, gab es auch Versuche in deren Verlauf Menschen gezielt unterkühlt wurden oder über längere Zeit Unterdruck ausgesetzt wurden. An diesen Arbeiten, die im Konzentationslager Dachau vorgenommen wurden, hatten vor allem die Luftwaffe, SS und Marine erhebliches Interesse. Über die Motivation der Unterdruckexperimente für die unter anderem Karl Brandt als einer der Verantwortlichen angeklagt wird, gibt ein auf den 15. Mai 1941 datiertes Schreiben von einem der Ärzte, der die Versuche initiiert hat, an den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, Aufschluß:

Zitator: Zur Zeit bin ich zum Luftgaukommando VII kommandiert für eine ärztlichen Auswahlkurs. Während dieses Kurses bei dem die Höhenflugforschung eine sehr große Rolle spielt - bedingt durch die etwas größere Gipfelhöhe der englischen Jagdflugzege - wurde mit großem Bedauern erwähnt, daß leider noch keinerlei Versuche mit Menschenmaterial bei uns angestellt werden konnten., da diese Versuche sehr gefährlich sind und sich keiner freiwillig dazu hergibt. Daher stelle ich die ernste Frage: ob zwei oder drei Berufsverbrecher für diese Experimente zur Verfügung gestellt werden können? (Es können als Versuchsmaterial auch Schwachsinnige Verwendugn finden) Die Versuche, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können, würde unter meiner Mitarbeit vor sich gehen. Sie lassen sich nicht, wie bisher versucht an Affen durchführen, da der Affe vollständig andere Versuchsverhältnisse bietet.

Autor: Dr. Sigmund Rascher, der später bei Himmler aus anderen Gründen in Ungnade fallen wird, bekommt mehr als "zwei, drei Berufsverbrecher". Zusammen mit Kollegen der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt kann er sich im Konzentrationslager Dachau seine Opfer aussuchen, mit denen er dann in speziellen Unterdruckkammern experimentiert. In einem Zwischenbericht an Heinrich Himmler werden die Versuche und erste Ergebnisse dieser Kriegsforschung erläutert:

Zitator: Die Versuchspersonen wurden mit Sauerstoff auf 8 km Höhe gebracht und mußten dann mit und ohne Sauerstoff je 5 Kniebeugen ausführen. Nach einer gewissen Zeit trat mäßige bis schwere Höhenkrankheit auf, die Versuchspersonen wurden bewußtlos. Es zeigte sich bei diesen Versuchen, daß die Atmung nach etwa 30 Minuten aufhörte, während die elektrokardiographisch fetsgehaltene Herzreaktion in zwei Fällen erst zwanzig Minuten nach Atemstillstand aufhörte. Der dritte Versuch dieser Art verlief derartig ausßergewöhnlich, daß mir einen SS-Arzt des Lagers zum Zeugen holte. Es handelte sich um einen Dauerversuch bei einem 37jährigen Juden in gutem Alllgemeinzustand. Die Atmung hielt bis 30 Minuten an. Bei 4 Mminuten begann VP zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei 5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und 10 Minuten wurde die Atmung schneller, VP bewußtlos, von 11 Minuten bis 30 Minuten verlnagsamte sich die Atmung um dann ganz aufzuhören. Zwischendurch trat Schaum vor den Mund. Anschließend, etwa ½ Stunde nach Aufhören der Atmung, Beginn der Sektion.

Autor: Nachdem die Unterdruckversuche abgeschlossen waren, meldete die Luftwaffe weiteren Forschungsbedarf an: Da über dem Ärmelkanal viele Piloten abgeschossen worden und im kalten Wasser erfroren waren, soll untersucht werden, wie genau der Kältetod eintritt und ob er zu verzögern ist. Wie die Kälte-Experimente verliefen berichtete einer der wenigen Überlebenden vor dem Tribunal in Nürnberg:

O-Ton 6 (Überlebender)
Man führte mich durch die Malariastation auf den 5. Block, dort die 4. stube. Dorten befand sich die sogenannt Fliegerversuchstation, dorten wurde ich hineingeführt und da befand sich ein Bassin mit Wasser und Eisschollen. Es waren zwei Tische mit apparaten. Nebenbei lag ein Haufen von Bekleidungen. Es waren Uniformen. Und man sagte mir, ich soll mich ausziehen. Da habe ich mich ausgezogen und wurde untersucht. Nun hatte man mir die Drähte angeklebt auf den Rücken auch in den Hinterdarm hineingelegt, und nachher hatte man mir das Hemd, die Unterhose mußte ich anziehen und eine Uniform, auch lange Schuhe, eine Fliegerkombination. Nachher wurde mir ein schlauch auf den Hals angelegt, da wurde Luft eingepumpt. Nachdem hat man die Drähte mit den Apparaten verbunden. und mich hat man so in das Wasser hineingeworfen. Es wurde mir mit einem mal sehr kalt und ich zitterte. ich habe mich sofort an die drei Herren gewendet, sie mögen mich herausziehen, denn ich kann hier nicht aushalten - aber sie haben mir lächelnd gesagt, es wird ja nur eine kurze Weile dauern. Ich saß in diesem Wasser bei Bewußtsein eine und eine halbe Stunde, so ungefähr. Die Temperatur ist während der Zeit am Anfang langsam, später schneller heruntergefallen und man hatte mir jede einige Minute etwas Blut vom Ohr genommen und nach einer halben Stunde hat man mir eine Zigarette angeboten, die ich nicht rauchen wollte. Aber einer von diesen Herren hat sie mir gegeben. Der Pfleger am Rand des Bassins hat sie mir in den Mund gesteckt und herausgenommen. Später gab man mir ein kleines Glas mit Schnaps und fragte mich, wie ich mich jetzt fühle. Ich fror sehr in diesem Wasser. Meine Füße wurden steif wie Eisen. Die Hände dasselbe und ich bekam später ein ganz kurzen Atem. Ich begann wieder zu zittern und nachher kam kalter Schweiß auf meinen Kopf.

Autor: Im Anschluß an die gezielte Unterkühlung sollten die Versuchs-Opfer möglichst schnell wieder erwärmt werden: Experimentiert wurde mit künstlicher Wäme, heißen Bäden und medikamentöser Behandlung. Vor allem die Zuführung sogenannter "animalischer Wärme" schien den Luftwaffenmedizinern aber aussichtsreich: Dazu wurden Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Dachau befohlen, die entkleidet alleine oder zu zweit versuchen mussten die halberfrorenen Männer ins Leben zurückzuholen. Dabei gab es auch Komplikationen, wie sich aus einem Schreiben von Dr. Rascher ergibt.

Zitator: Eine der zugewiesenen Frauen zeigte einwandfrei nordische Rassenmerkmale: blondes Haar, blaue Augen, entsprechende Kopfform und Körperbau. Ich stellte an dieses Mädchen die Frage, wieso es sich ins Bordell gemeldet habe. Ich bekam die Antwort: um aus dem KL herauszukommen, denn es wurde versprochen, daß alle diejenigen, die sich für ein halbes Jahr Bordell verpflichten, dafür aus dem KL entlassen werden. Es widerstrebt meinem rassischen Empfinden, ein Mädchen, das dem Äußeren nach rein nordisch ist, und druch einen entsprechenden Arbeitseinsatz vielleicht auf den rechten Weg geführt werden könnte, rassisch minderwertigen KL-Elementen zu überlassen. Aus diesem Grund lehne ich die Verwendung dieses Mädchens für meine Versuchszwecke ab.

Autor: Als Ergebnis der Aufwärmversuche hielt ein Protokoll fest:

Zitator: Bei vier Versuchspersonen, welche zwischen 30 und 32 Grad den Beis chalf ausübten trat ein sehr schneller Temperaturanstieg ein, welcher verglichen werden kann mit der Erwärmung im heißen Bad.

Autor: Die Unterkühlungsversuche wurden nach ersten Ergebnissen, die Rettungsmöglichkeiten für Unterkühlte ergaben, radikalisiert. Statt die Körpertemperatur der Opfer allmählich im Wasser zu senken wurden sie in den ersten Monaten des Jahres 1943 im Freien Temperaturen deutlich unter 0 Grad ausgesetzt. Ein Zeuge beschrieb diese "Trockenfrierversuche" vor Gericht:

Zitator: Der Häftling wurde abends nackt auf eine Bahre vor den Block gestellt. Er stündlich mit einem Kübel kalten Wassers übergossen. Diese Versuchsperson lag bis morgens unter diesen Umständen im Freien. An einem der nächsten Tag rief Rascher an und sagte dr. Grawitz sei bei ihm gewesen und er forderte, daß mindestens 100 Versuche dieser Art durchgeführt werden müßten. Anfänglich hatte Rascher verboten, daß diese Versuche in Narkose gemacht würden. Die versuchspersonen haben aber dermaßen geschrien, daß es unmöglich war für Dr. Rascher, diese Versuche ohne Narkose weiterzuführen.

Autor: Mehr als dreihundert KZ-Gefangene wurden diesen Unterkühlungsversuchen ausgesetzt. Ein Drittel von ihnen überlebte die Torturen der Forscher nicht. Die Leiter der Versuche, Dr. Rascher und Professor Holzlöhner, konnten in Nürnberg nicht zur Verantwortung gezogen worden: sie waren bereits tot. Zehn der Angeklagten wurden aber mittelbar in Verbindung mit diesen Experimenten gebracht. Und viele andere Mediziner hatten von ihnen gewußt: 90 Elitemediziner des Dritten Reiches hatten an der Tagung "Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot" teilgenommen, in deren Verlauf die Unterkühlungs-Versuchsreihen vorgestellt wurden. Aus den Ausführungen der vortragenden Ärzte ergab sich, daß Versuchspersonen diese Experimente nicht überlebt hatten: Trotzdem regte sich auf der Tagung kein Protest. Das Protokoll verzeichnet auch keine kritischen Nachfragen. Der Menschenversuch ist kein Geheimnis einer kleinen Minderheit - er wird allgemein akzeptiert oder, das behauptet zumindest Oberfeldarzt Dr. Weltz, der im Nürnberger Prozeß freigesprochene Direktor des Instituts für Luftfahrtmedizin, in seiner Aussage über die Tagung: verschlafen:

Zitator: Man ist bei einem solchen Kongreß, wo man überfüttert wird mit Vorträgen und Wissenschaft und anderes mehr, nicht so aufnahmefähig, daß man auf jeden Vortrag ganz genau hingehört hat, wenn man nicht besonders interessiert ist. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, daß Leute das überhaupt überhört haben und nicht besonderes dabei gefunden haben.

Autor: Wobei "überhört" und "nichts besonderes dabei gefunden" haben doch recht verschiedene Positionen scheinen. Die Unaufmerksamkeit hat jedenfalls genützt. Eine kleine Auswahl der Nachkriegs-Karrieren:

Zitator: Unterarzt Jürgen Aschoff wird Professor am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Heidelberg. Oberstabsarzt Cremer wird Professor un Direktor des Instituts für Ernährungswissenschaften an der Universität Giessen. Oberstarzt Erwin ohrbrandt wird Vizepräsident des Deutschen Rote Kreuz Landesverbandes Berlin und Herausgeber des Zentralblatts für Chirurgie. Oberkriegsarzt wird Rektor der Universität Göttingen und Gründungsmitglied der Max-Planck-Gesllschaft für die britische Zone. Der fürs Reichsluftfahrtministerium arbeitende Pathologe Franz Büchner , der auf der Nürnberger Tagung über die "Pathologie der Unterkühlung" referierte, wird Mitglied des Entnazifizierungsausschußes und wird Ehrenbürger der Stadt Freiburg.

Autor: Im Nürnberger Prozeß selbst sind die Angeklagten bemüht die Verantwortung für die Kälteexperimente dem toten Dr. Rascher aufzuladen. Für die deutsche Ärzteschaft beobachtet der Psychoanalytiker Dr. Alexander Mitscherlich das Verfahren. Selbst er, der noch jahrzehntelang wegen seiner offenen Kritik an dieser "Medizin ohne Menschlichkeit" in der deutschen Ärzteschaft angefeindet und als "Nestbeschmutzer" beschimpft werden wird, akzentuiert in seiner Dokumentation die angebliche "psychische Abnormalität" Raschers als wichtigen Grund für diese Versuche.

Zitator: Es ist noch kurz darauf einzugehen, welche Voraussetzungen gegeben sein mußten, daß eine seelisch so abnorme Persönlichkeit wie Dr. Rascher die Möglichkeit finden konnte, unter dem Deckmantel der Wissenschaft seine persönlichen ehrgeizigen Ziele mit höchster Unterstützung zu verfolgen, damit zugleich auch mit dem, was er als Forschung seinem Auftraggeber gegenüber deklarierte, seine perversen Triebregungen zu befriedigen.

Autor: Dagegen diese Versuche auf "perverse Treiben" eines Einzelnen zurückzuführen sprechen nicht nur vergleichbar grausame Experimente die andere deutsche Wissenschaftler in diesere Zeit konzipiert und durchgeführt haben: Die Entnahme von Knochen lebender Menschen, um diese Kriegsverletzten einzupflanzen, Infektion von Menschen mit schweren Krankheiten wie Malaria oder Hepatitis um Impfstoffe testen zu können, oder auch die Zwillingsversuche in Auschwitz. Im Kreuzverhör von Karl Brandt durch den Vorsitzenden Richter des Tribunal Sebring wird auch deutlich, daß Versuche wie die Kälteversuche selbst in diesem Moment, nach Ende des Kriegs, in Kenntnis aller Details, während der Gerichtsverhandlung aufgrund der Kriegs-Situation legitimiert werden. Auf die Frage Sebrings, ob ein Befehl, der Sanitätsoffiziere anweist ein Kälteexperiment durchzuführen, diese ermächtigt unfreiwillige Objekte auszusuchen und sie Experimenten zu unterwerfen, die deren Tod bedeuten, antwortet Brandt:

Zitator: Auch wenn ein Leutnant, der einen bestimmten militärischen Befehl erhalten hat, nicht übersieht, weshalb er mit seiner Gruppe von 8 Mann unbedingt in einem Brückenkopf aushalten mußund zugrunde gehen kann, wird dieser Offizier mit seinen 8 Mann an dieser Stelle zugrunde gehen. Es wird also auch dieser Arzt X, der den Befehl von Himmler erhalten hätte, unter Umständen einen Versuch durchführen müssen, ohne die prinzipielle und grundätzliche Richtigkeit, die eine Zentrale zu diesem Entschluß geführt hat zu übersehen. Es hat vielleicht in diesem Fall das besondere Empfinden einer besonderen berufsethischen Verpflichtung vor dem Totalen dieses Kriegs zurücktreten müssen.

Autor: Auf einen Dolmetscher des Nürnberger Gerichtshofes, den damals 23jährigen Arno Hamburger, haben die Reaktionen der Angeklagten während der Beweisaufnahme zu den Unterkühlungsversuchen nachhaltigen Eindruck gemacht.

O-Ton 7 (Arno Hamburger)
Rascher war ja zum Zeitpunkt des Prozesses schon tot. Aber auch nach Vorlage dieser Dokumente hat keiner der 23 angeklagten Ärzte die ja einmal gelernt hatte, daß ihre Aufgabe es sei, Menschen zu heilen, auch nur die Spur einer Schuldanerkenntnis gezeigt. Keiner. Nicht einer war bereit zuzugeben, daß man vielleicht etwas falsch gemacht hat mit diesen Versuchen. - und das hat mich noch mehr geschockt, als die Kenntnisnahme des eigentlichen Geschehens in Konzentrationslagern an Menschen, die genau die gleichen Gefühle und Gedanken hatten, wie die hochgestellten Ärzte, die auf dem Podium saßen. und ich muß Ihnen sagen, daß ich diese Erfahrung seitdem mit mir rumtrage und daß es mir sehr, sehr schwergefallen ist, mich hier wieder einzuleben und daß ich nur hiergeblieben bin, weil sich meine Eltern geweigert haben wegzugehen.

Autor: Karl Brandt, der Begleitarzt Adolf Hitlers und Reichskommissar für das Sanitäts-und Gesundheitswesen, der sich auch für seine Beteiligung an den "Euthanasie"-Morden und an den Zwangssterilisationen verantworten muß, wird wie sechs andere Angeklagte zum Tode verurteilt. Fünf Angeklagte erhalten von dem internationalen, von den US-Amerikanern besetzten Gerichtshof lebenslängliche, vier Beschuldigte zeitige Freiheitsstrafen. Sieben Ärzte werden freigesprochen - die meisten von ihnen sind Luftfahrtmediziner. Ihr Freispruch hat auch politische Gründe: Die USA waren nach Kriegsende gerade an den Forschungsergebnissen der Luftfahrtmediziner außerordentlich interessiert. Mehrere dutzend wissenschaftlicher Arbeiten haben sich nach 1945 in den USA und Kanada mit den Ergebnissen der Unterkühlungsversuche auseinandergesetzt. Als Mitte der Achtziger Jahre bekannt wurde, daß ein Forscherteam der Universität von Victoria im kanadischen Küstenstaat British Columbia die Daten Raschers, die vor dem Nürnberger Gerichtshof vorgetragen worden waren, überprüfte setzte im anglo-amerikanischen Sprachraum eine engagierte Debatte darüber ein, ob die Ergebnisse von NS-Wissenschaft verwendet werden dürften. Der deutsche Medizinhistoriker Friedrich Hansen bilanzierte dieser Kontroverse in einem Aufsatz:

Zitator: Der Verlauf dieser Diskussion zeigt, daß von der Sonderstellung der NS-Wissenschaft und der KZ-Experimente nicht abgerückt werden wird, obgleich deren Daten wissenschaftlich ernst genommen werden. Die Debatte mutete gespenstisch an weil diese Forderungen medizin-ethischer Provenienz nach Nicht-Verwendung der Daten in diametralem Gegensatz zu den realen Gegebenheiten standen. Ganze technologisch-wissenschaftliche Zweige, wie Raumfahrttechnik und, als Teil von ihr, Raumfahrtphysiologie, hätten nach dem Krieg ohne die Menschenexperimente im Nazi-Deutschland niemals den raschen Aufschwung nehmen können, den sie genommen haben.

Autor: Als Vater der US-Raumfahrtmedizin gilt Hubertus Strughold. Er war Leiter des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts im Dritten Reich, ist aber trotz seiner Verantwortung für medizinische Verbrechen, vor allem für die Unterdruck-Versuche, niemals angeklagt worden. Stattdessen wurde er im Rahmen der "Operation Paperclip" vom us-amerikanischen Geheimdienst auf die Randolph Base der US-Luftwaffe in San Antonio gerettet: Hier konnte er weitere 35 deutsche Wissenschaftler unter Vertrag nehmen, darunter mehrere, die im Nürnberger Ärzteprozeß angeklagt und freigesprochen oder zu zeitigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Für Friedrich Hansen ist das nur durch ein Spezifikum des Ärzteprozesses zu erklären, des ersten Folgeprozesses des Verfahrens gegen die Hauptkriegsverbrecher.

Zitator: Es gab kein Vorgänger Verfahren dieser Art. Zum ersten mal waren nicht Militärs oder Diplomaten, sondern Ärzte wegen Taten angeklagt, die nur im Fall des Siegfried Rascher von vornherein als verbrecherisch erkennbar waren, die im übrigen jedoch dem Standard der naturwissenschaftlkichen Medizin voll entsprachen, begangen weitgehend von Personen, die der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaftler angehörten. Nur der Krieg hatte ihre ausländischen Beziehungen unterbrochen.

Autor: Klaus Dörner, Psychiater, der seit vielen Jahren über Medizin im Nationalsozialismus forscht, sieht noch ein weiteres Dilemma, das die Situation der Ankläger in diesem sich über Monate hinziehenden Verfahren erschwert hat:

O-Ton 9 (Klaus Dörner)
Sie wußten gar nicht auf welches Abenteuer sie sich eingelassen hatten und in welche furchtbaren Untiefen sie hineingerieten, weil sie, je länger, je mehr, erkennen mußten, daß das, was sie hier am Beispiel der Deutschen verruteilen wollten, sehr wohl in im Prinzip vergleichbaren Verhältnissen in den USA und auch in anderen westlichen Ländern existierte, weil überall an Strafgefangenen geforscht wurde, in Einrichtungen, in denen Geisteskranke waren, ohne daß ein Mensch auch nur je auf den Gedanken gekommen wäre, die Menschen aufzuklären bis dahin, daß die Richter ja zweimal den Sachverständigen ausgewechselt haben. Sie hatten zuerst den deutschen Professor Leibbrand, der selbst in der Nazi-Zeit verfolgt worden war und einen sehr dezidierten ethischen Standpunkt eingenommen hatte - der war ihnen zu ethisch. Dann haben sie aus Amerika Leo Alexander geholt, der war ihnen auch noch zu ethisch und dann kam schließlich Prof. Ivy, der zwar auch mit ethischen Fragen sich beschäftigt hatte, im übrigen aber selbst solche fragwürdigen Forschungen begangen hatte und der in dieser Gemengelage im Kreuzverhör durch die Verteidigung auch sagen mußte, was den Hippokratischen Eid angeht, daß man da die Tätigkeit von Ärzten anders bewerten müsse als die Tätigkeit von Forschern, daß also Forscher Menschen eher als Objekte instrumentalisieren dürfen als das für Ärzte der Fall ist.

Autor: Am Ende des Nürnberger Ärzteprozesses wurde neben dem Urteil auch der zehn Punkte umfassende Nürnberger Ärztekodex verkündet. Er sollte einen weltweiten Standard für Versuche mit Menschen schaffen. Im Mittelpunkt des Kodexes steht die bedingungslose Forderung nach Freiwilligkeit jedes dieser Experimente:

Zitator: Das heißt, daß der Betreffende die gesetzmäßige Fähigkeit haben muß, seine Einwilligung zu geben; in der Lage sein muß, eine freie Entscheidung zu treffen, unbeeinflußt durch Gewalt, betrug, Liest, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Beeinflussung und genügend Kenntnis von und Einsicht in die Bestandteile des betreffenden Gebietes haben muß, um eine verständnisvolle und aufgeklärte Entscheidung treffen zu können.

Autor: Dieser strikten Kodex markiert einen Einschnitt in der medizinethischen Diskussion und in der Praxis der Menschenversuche. Zu einer Umwälzung der Verhältnisse im medizinischen Wissenschaftsbetrieb führte er aber nicht. Die entgegenstehenden Interessen sind zu mächtig. Es geht um viel zu viel: Der Versuch am lebenden Objekt, die Möglichkeit Körper zu instrumentalisieren, den eigenen Erfordernissen zu unterwerfen, sie auszuprobieren und ihre Reaktionen zu testen ist eine der wesentlichen Grundlagen der modernen naturwissenschaftlichen Medizin. In diesem Bereich die aus ärztlicher Sicht bewährten Routinen zu verlassen, neues Denken und Handeln durchzusetzen, die Interessen und Rechte des Patienten in den Mittelpunkt zu rücken, der bislang dem Erkenntnisgewinn vorbehalten war, erfordert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den ärztlichen Werten, als es der Nürnberger Ärzteprozeß leisten konnte. Durch die Konzentration des Verfahrens auf einige wenige Ärzte, die meisten von ihnen überdies SS-Offiziere, wurde dagegen dem Mißverständnis Vorschub geleistet, als stellten die im Nationalsozialismus begangenen Menschenversuche einen Bruch mit der bisherigen Geschichte und der sonstigen Praxis der Medizin dar. Der kanadische Medizinhistoriker William Seidelman, der an der Universität von Toronto lehrt, betont dagegen:

O-Ton 10 (Seidelmann)
Daß sich diese Verbrechen in Deutschland ereignet haben ist wichtig, weil Deutschland die Geburtsstätte der modernen medizinischen Wissenschaft ist. Und wenn in Deutschland, dem Land mit dieser reichen Tradition und diesem hohen Niveau der Ausbildung solche Verbrechen begangen werden könne, dann können sie sich überall auf der Welt wiederholen: Und es wäre wichtig gewesen, den grundlegenden Konflikt zwischen dem Arzt als Heiler und dem Arzt als Forscher, der die Bedingungen für diese Entwicklung gesetzt hat, zu thematisieren. Aber weil das nicht geschehen ist und sich das Tribunal nur auf die Anklage gegen ein paar, zum Teil nicht voll in den Wissenschaftsbetrieb integrierte Forscher gestützt hat, konnten viele andere sagen: Oh, das war ein Haufen Verrückter. Das waren keine echten Ärzte. Das Gegenteil trifft zu. Die brillantesten deutschen Wissenschaftler hatten die Versuche unterstützt oder von ihnen profitiert. Sie waren keine Monster sondern ganz normale Menschen - und was sie gemacht haben, könnte auch von Menschen wie uns gemacht werden.

Autor: Der Nürnberger Ärzteprozeß ist nach der Veröffentlichung des Urteils nicht in Vergessenheit geraten, er wurde stillschweigend ignoriert. Die zu langjährigen Haftstrafen verurteilten Mediziner wurden alle nach wenigen Jahren Haft entlassen. Die von Alexander Mitscherlich geleitete Kommission der deutschen Ärzteschaft mußte miterleben, wie ihre kommentierte Zusammenstellung von Dokumenten unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" außer den Anfeindungen gegen die Autoren ohne jede öffentliche Resonanz blieb. Aber auch in der internationalen wissenschaftlichen Diskussion wurde der Nürnberger Prozeß lange Zeit nicht als Anknüpfungspunkt für weiterführende Diskussionen genommen. Stattdessen mühten sich die Ärzte eigene Codices zu entwickeln, die der Forschung mehr Handlungsspielraum boten. Die Deklaration von Helsinki, die 1964 von der World Medical Association verabschiedet wurde, ermöglichte schon wieder Experimente ohne direkten therapeutischen Nutzen mit geschäftsunfähigen Personen, wenn deren gesetzliche Vertreter befragt wordenen waren. Zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus kam es dagegen erst Anfang der Achtziger Jahre - parallel zur Erweiterung des Forschungsterrains, die die Bioethik-Debatte vorbereitete. Während Forscher und Bioethiker bemüht waren verbrauchende Experimente mit Embryonen, Genmanipulationen am Menschen oder Hirngewebstransplantationen zu legitimieren, begannen andere Mediziner die Bedingungen der Medizin im Nationalsozialismus zu erforschen. Damit ist die ungewöhnliche Situation entstanden, daß der medizinethische Diskurs in entgegengesetzte Richtungen verläuft. Zumal, worauf Klaus Dörner hinweist, die Vertreter der einen Richtung nichts mit denen der anderen zu tun haben wollen.

O-Ton 11 (Dörner)
Diese herrschende, professionell betriebene Ethikdiskussion, die ich Akzeptanzethik nenne, die kann ja diese Funktion nur dadurch erfüllen, daß sie von sich sagt, wir beschränken uns auf Prinzipien mittlerer Reichweite und gehen in die grundsätzlichen philosophisch -anthropologischen Fragen, was ist eigentlich der Mensch, gar nicht erst rein. Weil wenn wir da reingehen würden, könnten wir unser pragmatisches Forschungsbegründungsgeschäft gar nicht erledigen. Und wenn wir uns darauf beschränken würden hätten wir natürlich überhaupt keine Gewähr mehr, dafür, daß wir mit unserer technikgläubigen Begeisterung nicht in immer neue Gefilde davongeschwemmt werden und hätten keine Gewähr uns auf Grundsätze zu stützen von denen wir sagen, die sind für uns unumstößlich. Und weil das so ist meine ich den Diskurs unterstützen zu müssen, der sich mit dem schwierigen Geschäft der Grundsatzpositionen auseinandersetzt, und der versucht einige Grundsätze zu formulieren von denen man sagen muß, die sind unverzichtbar. Dazu gehört auch die Grundthese des Nürnberger Ärztekodex, der ja lapidar sagt: ohne eine selbständige frei entwickelte Aufklärung und Zustimmung von Menschen ist Forschung schlechthin verboten und wird bestraft. Das ist ein fundamentalistischer Standpunkt, der als solche mit Sicherheit nicht völlig durchzuhalten ist in der medizinischen Praxis, allein schon, wenn es sich um Forschung handelt, von der der Betroffene, nicht einwilligungsfähige Mensch profitieren könnte - selbst das ist nach dem Nürnberger Ärztekodex ausgeschlossen. Also bleibt nur übrig, daß man darum ringt, die Gültigkeit auch solcher Positionen wie des Nürnberger Ärztekodex mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, und trotzdem gewissermaßen auf dem Hintergrund eines solchen, die Menschenrechte 100% achtenden Fundaments in Einzelfällen davon ausgehende Abweichungen zu begründen und vor allem kontrollierbar zu machen.

Autor: Die Entwicklung eröffnet derzeit allerdings andere Perspektiven: Fast auf den Tag genau 50 Jahre nach Eröffnung des Nürnberger Ärzteprozesses hat der Europarat das "Übereinkommen zum Schutz der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin" verabschiedet. Das nüchterner als "Bioethik-Konvention" bezeichnete Abkommen trägt den Wünschen vieler Forscherinnen und Forscher sowie der mächtigen pharamezeutischen Industrie Rechnung. Es setzt einen für alle 40 Europaratsmitglieder, von Russland über Polen bis Spanien verbindlichen ethischen Mindeststandard für den Umgang von Ärzten mit Versuchspersonen, embryonalem Gewebe, Gentests oder vertraulichen medizinischen Daten. Mindeststandards allerdings, die so niedrig sind, daß sie den Schutz der gefährdeten Personen nicht mehr garantieren. Artikel 17, in schönem Neusprech überschrieben mit "Schutz von einwilligungsunfähigen Personen bei Forschungsvorhaben", erlaubt:

Zitator: In Ausnahmefällen und nach Maßgabe der gesetzlich vorgeschriebenen Schutzbestimmungen Forschung, die potentiell nicht von unmittelbarem Nutzen für die Gesundheit des Betroffenen ist. Vorausgesetzt die Forschung hat zum Ziel, durch eine spürbare Verbesserung des wisseschaftlichen Verständnisses für den Zustand, die Krankheit oder die störung der Person dazu beizutragen, letzlich Ergebnisse zu erreichen, die geeignet sind, dem betroffenen oder anderen Personen, die sich in der gleichen Altersstufe befinden oder die an der gleichen Krankheit leiden, zu nutzen.

Autor: Die Versuche brauchen nicht einmal potentiell von Nutzen für die Versuchspersonen zu sein. Die Forscher müssen dagegen nur vage ein Ziel umschreiben, das auch noch nicht mal Heilung oder Linderung sein soll - es reicht aus, wenn sich die Wissenschaftler ein besseres Verständnis von der Krankheit erhoffen. Dafür sollen das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht von Patienten, die zu schwächsten Gruppe gehören, ausgehebelt werden können. Die Bioethik-Konvention, die derzeit von 22 europäischen Staaten ratifziert worden ist, wird in ihrer Umsetzung nicht zu den brutalen, regelmässig begangenen Medizin-Verbrechen führen, wie sie während des Nationalsozialismus in Deutschland verübt wurden. Sie markiert in Europa aber erneut einen Wendepunkt: Den offenen Abschied vom Nürnberger Kodex, die erneute Hinwendung zu einer Medizin, die sich ihrer Möglichkeiten so gewiß ist, daß sie sich nicht durch prinzipielle Bedenken um Erfolge bringen lassen will. Allerdings ist der Weg dorthin für die Verfechter der Lockerung von ethischen Prinzipien nicht leicht. Es gibt heute anders als früher öffentlich auftretende, entschiedene Gegner dieser Entwicklung. Und die Bundesrepublik hat wegen dieser Proteste die Bioethik-Konvention noch nicht ratifiziert:

O-Ton 12 (Dörner)
Interessant ist, daß die zur Vorsicht mahnende, mehr auf Menschenrechte und Grundwerte gerichtete Position ja so schmal nicht ist. Im Unterschied zu allen früheren Zeiten sind ja heute die Behinderten und die Chronisch Kranken in einer doch die Öffentlichkeit beeinflußenden Weise erstmals in der Lage sich selbst zu artikulieren, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Es gibt keine chronisch Kranken Gruppe, die nicht selber sich als Gruppe zusammengeschlossen hat und nun versucht ihre Interessen gegen die Ärzte zu vertreten. Das heißt die Basis ist zersplittert, aber nicht schmal und ohnmächtiger als die andere Seite, die über Geld und Verbindungen in der Politik und damit über die stärkere Power verfügt, aber in der Öffentlichkeit ist sie nicht chancenlos.

Autor: Aber selbst wenn sich Behindertengruppen hierzulande mit ihren Forderungen durchsetzen beibt den Mediziner, die um jeden Preis und möglichst ohne großen Einschränkungen unterworfen zu sein, an Menschen forschen wollen ein Weg offen, wie die in diesem Herbst in den USA in scharfen Tönen ausgetragene Kontroverse deutlich macht. . Forscher der John Hopkins Universität wollten Anfang 1998 im Auftrag des us-amerikanischen National Institute of Health eine Studie an HIV-infizierten schwangeren Frauen durchführen. Da mittlerweile bekannt ist, daß die Verabreichung von AZT während der gesamten Schwangerschaft die Chance, daß eine HIV-infizierte Frau ein nicht-infiziertes Kind bekommt drastisch erhöht, gleichzeitig AZT aber ein teures Medikament ist, sollte untersucht werden, ob auch eine kurzzeitige AZT-Behandlung im Verglech mit einer Placebo-Behandlung einen positiven Effekt hat. Da dieser Versuch in den USA nicht durchführbar war, weil alle HIV-infizierten Frauen dort bei Beginn der Schwangerschaft routinemäßig AZT bekommen, entschieden sich die Forscher den Versuch an äthiopischen Schwangeren durchzuführen: Eine Gruppe sollte kurzzeitig AZT bekommen, eine andere Gruppe nur ein Scheinmedikament.

Die Redakteurin des renommierten New England Journal of Medicine brachte den Skandal auf den Punkt:

Zitator: Diese Versuche lenken den Blick auf ein zentrales Thema: Es scheint mit Blick auf medizinische Forschung in der Dritten Welt einen Rückzug von den klaren Prinzipien zu geben, die im Nürnberger Kodex und der Deklaration von Helsinki verankert sind. Und das liegt sicher nicht daran, daß Krankheiten und ihre Behandlugn in der Dritten Welt ganz ander sind, als in den industrialisierten Nationen, so daß man dort mit ganz neuen Instrumenten ganz von vorne anfangen müßte. Die Aufgabe der ethischen Prinzipien kann besser erklärt werden, daß Forscher sich durch den enormen Wettbewerb und die zunehmenden Regulierungen zu Hause unter Druck gesetzt fühlen. In der Dritten Welt zu forschen scheint dagegen attraktiv und es ist leichter dafür Fördermittel zu bekommen: Viele Experimente, die hier durchgeführt werden, hätten in den Ländern, die diese Forschung bezahlen, keine Chance. Klinische Versuche sind längst ein großes Geschäft - und sind damit den Regeln des Big Business unterworfen: Die arbeit muß so schnell wie möglich und mit möglichst wenig Risiken für den Auftraggeber behaftet durchgeführt werden.Wenn sich diese Vorgehensweise durchsetzt sind wir in den letzten Jahrzehnten nicht wirklich weit gekommen. Wir müssen die ethischen Standards, die es mit guten gründen gibt endlich durchsetzen und uns nicht darauf konzentrieren, wie sie am besten zu unterlaufen sind.

Autor: Das Forschungsvorhaben wurde unter anderem wegen dieser Intervention gestoppt. Vorerst. In Thailand, erklärte eine Sprecherin der Universität, werde derzeit nämlich eine ähnliche Versuchsreihe durchgeführt. Wenn diese abgeschlossen und ausgewertet ist, wollen die Forscher erneut überlegen, ob sich mit Experimenten an äthiopischen Frauen weitergehende Erkenntnisse zu gewinnen sein könnten.

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