Deutsche Ethik

02.05.1991 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: Konkret 05 / 91, S. 24

Wie der Philosoph Ernst Tugendhat für Frieden und für "Euthanasie" eintritt und damit auf begeisterte Zustimmung in der linken und alternativen Szene stößt

Die Bundesrepublik erweist sich, je mehr sie ihrem Zweitnamen Deutschland Ehre macht, als moralisches Staatsgebilde. Die politischen Fraktionen machen endlich, wozu sie sich schon seit langem berufen fühlten (als Deutsche in aller Welt "mit erhobenem Haupt bestehen" - Ströbele) - aber auf gar keinen Fall ohne wortreich darauf zu verweisen, daß sie nicht nur erfolgreich, sondern auch gut handeln. Überraschend wahrscheinlich selbst für Bildungspolitiker zeigt sich, daß ausgerechnet die Millionen, die in den letzten zwanzig Jahren in den Ausbau der Philosophischen Institute an den Universitäten gesteckt worden sind, sich jetzt bezahlt machen. Die Dozenten und Dozentinnen, die den Tigersprung aus dem Elfenbeinturm in die Talkshow schaffen, bewähren sich dort als gemeinschaftssinnige Kommunikatoren für Deutschland.

Vor allem in die Diskussion um die Unterscheidung zwischen "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben und "Euthanasie" sowie in die Kontroverse über das Verhältnis von Deutschen und Juden haben Philosophen engagiert und erfolgreich eingegriffen. Das Pensum, das ihre Kollegen aus der Geschichtswissenschaft vor Jahren engagiert bewältigt haben, die Relativierung des Nationalsozialismus, wird von ihnen jetzt für die aktuelle und die zukünftige politische Praxis fortgeschrieben.

Ernst Tugendhat, Philosophie-Professor an der Freien Universität Berlin, ist einer der erfahrensten Vertreter dieser angewandten Ethik: Schon zu Zeiten der Friedensbewegung gegen den Nato-Doppelbeschluß hat er seine ganze intellektuelle Kapazität darauf verwendet, nachzuweisen, daß der Atomkrieg gegen die "wohlverstandenen" kollektiven Interessen verstoße und deswegen auch die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Deutschland abzulehnen sei. Das Rotbuch "Nachdenken über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht" war das bis weit in die Linke hinein äußerst freundlich aufgenommene Ergebnis dieses Versuchs, Moralphilosophie und politisches Engagement zusammenzuführen.

Zumindest einige Menschen in der außerparlamentarischen Opposition reagierten kurzzeitig irritiert auf seine zweite Anstrengung, aus der Philosophie Lehren für das wirkliche Leben zu ziehen: Am 8. Dezember 1989 bezogen knapp dreißig Westberliner Philosophinnen und Philosophen auf seine Initiative hin Stellung für den "Euthanasie"-Befürworter Peter Singer, dessen Vorträge darüber, daß die Tötung "lebensunwerten" Lebens legitim sei, wenige Monate zuvor von Behinderten- und Antifa-Gruppen gesprengt worden waren. Konnte diese erste Stellungnahme noch mit einigem Bemühen als Eintreten für die Freiheit der akademischen Lehre gedeutet werden, sorgte Tugendhat anschließend in Rundfunkbeiträgen, auf Diskussionsveranstaltungen und in Zeitungsartikeln für Klarheit: Ihm geht es um die Legitimierung der Tötung von "unheilbaren und schwerleidenden Menschen und hier besonders der Säuglinge" ("taz" vom 6.Juni 1990). Daß insbesondere Behinderte sich gegen diese Sichtweise auf ihr Leben verwahren und gegen die "Euthanasie"-Diskussion angehen, wo immer sie können, stört Tugendhat so wenig, wie er die "Euthanasie"-Diskussion heute mit der Diskussion im Deutschland der Dreißiger Jahre und den daran anschließenden Vernichtungsaktionen in Zusammenhang gebracht wissen will. Kurz und bündig befindet er, die "Euthanasie"-Diskussion "ist zwar...im negativen Interesse der Behinderten, sie ist aber zugleich im positiven Interesse aller."

Die dritte Intervention zeigte Tugendhat wieder als Friedensfreund und ist die vorerst erfolgreichste: In einem während des Golfkrieges, nach dem Einschlag der ersten irakischen Scud-Raketen in Israel, in der "Zeit" veröffentlichten Essay streitet er gleichzeitig, als gehörte das zusammen, gegen den Krieg und gegen die, "die auf dem irrationalen Gefühl eines anderen virtuos wie auf einem Klavier spielen können. So tun es auch die Israelis mit den Deutschen."

Da Tugendhat Jude ist, also, was für die sozialen Bewegungen hierzulande grundsätzliche Bedeutung hat, Betroffener, wird sein Pamphlet so genommen, wie es gemeint war: Als Freibrief, auf den sich alle berufen, die aus der deutschen Geschichte nur lernen wollen, was ihnen sowieso ins politische Konzept paßt. Deutschlandauf, Deutschlandab, im kommunistischen "Arbeiterkampf" ebenso wie in der feministischen "Emma", wird seitdem, kommt die Rede auf Israel, mit Verweis auf Tugendhats Text aus der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands nur noch abgeleitet,daß unser erstes Gebot die Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf sei, das zweite die prinzipielle und unnachgiebige Kritik der israelischen Politik.

Um die Deutschen zu ermuntern, ganz unbefangen laut auszusprechen, was sie ohnedies denken: daß vor allem Israel für die Dauer-Krise im Nahen Osten verantwortlich sei, spricht Tugendhat sie im folgenden auch noch vom Vorwurf des Antisemitismus frei. Zwar könne es sein, "daß ein verbreiteter unterschwelliger Antisemitismus in Deutschland fortdauert. Ich zögere (aber) das zu sagen, weil ich keine empirischen Untersuchungen gemacht habe und weil ich selbst während meines vierzigjährigen Besuchs in diesem Land fast keinen Antisemitismus am eigenen Leib erfahren habe." Nun hätte niemand Tugendhat daran gehindert, die existierenden Studien z.B. von Alphons Silbermann oder dem sinus-Institut zum Antisemitismus in der BRD zu lesen, aber es geht ja nicht ums Lesen und Wissen, sondern ums Betroffensein - der vom Golfkrieg verängstigten Deutschen.

Weil er ihnen (uns) helfen will, die plagenden Schuldgefühle loszuwerden, auf denen die Israelis einen Marsch nach dem anderen spielen, argumentiert er unerschrocken fort: Selbst an dem möglicherweise doch noch ("weil es vielleicht so schwer ist, bestimmte scheinbar harmlose Vorurteile aus der Nazizeit und von weither loszuwerden") verbreiteten "unterschwelligen Antisemitismus" sind die Juden selber schuld: "Müßten wir Juden nicht sagen, daß unsere Arroganz und euer Antisemitismus zusammengehören?" Der Erfolg gibt Tugendhat, dem beispielhaft bescheidenen Juden, recht: Er wird, anders als Ariel Sharon oder auch Amos Oz, von fast allen Deutschen geliebt und anerkennend zitiert. Er hat sich als ein Michael Wolffsohn der Liberalen und Linken bewährt.

Das neu gewonnene Renommee wird ihm für den Ausbau seiner Position zur "Euthanasie" nützlich sein. So wie Tugendhat den Deutschen nämlich rät, "den Argumenten Israels nicht blindlings zu folgen", müht er sich auch, ihnen zu erklären, daß zu viel Rücksicht auf die "Bedrohungsgefühle bei den Behinderten" unangebracht sind, weil "ein wichtiges praktisches Problem in unserer Gesellschaft schlecht gelöst ist: Ich meine das Problem der unheilbaren und schwerleidenden Menschen." Wieso vor allem (aber nicht nur) Behinderte gegen die "Lösung" dieses "Problems" angehen, weiß Tugendhat, aber es ändert seinen Vorsatz, "unerbittlich objektiv zu sein", nicht.

Ergeben sich Tugendhats menschenfreundliche Anti-Kriegsposition, seine deutschenfreundliche Geschichtsentsorgung und seine vernichtungsfreundliche Haltung für "Euthanasie" aus seiner angewandten Ethik, oder sind das drei Positionen, die kaum etwas oder nichts gemeinsam haben, außer daß sie von einem einzigen Philosophen gleichzeitig vertreten werden?

Der Anlaß für Tugendhat, sich mit den Unwägbarkeiten der Politik zu befassen, war, aus Anlaß des Nato-Doppelbeschlusses, die Angst vor dem Atomkrieg, der "unserem wohlverstandenen kollektiven Interesse widerspricht". Es reichte ihm aber schon damals nicht aus, gegen den seiner Meinung nach drohenden Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion zu sein - er mußte mit einem "Gedankenspiel" auch noch eine pazifistische Lanze für den Nationalsozialismus brechen: "Und nun denke an das Schlimmste, was wir mit den Nazis verbinden. Denke Dir, es wäre jetzt so in Osteuropa. Nach wie vor würden Menschen in Dörfern und Städten zusammengetrieben und erschossen. Nach wie vor gäbe es Gaskammern. Und nun eine Befreiung durch Androhung und gegebenenfalls Realisierung des Atomkriegs? Bedenke doch, daß bei dem jetzt bevorstehenden Holocaust diejenigen von uns, die nicht sofort tot sind, diejenigen, die noch Waffen haben sollten, von sich aus bitten würden, sie und ihre Kinder zu erschießen, und daß wir, sollte es noch Gaskammern geben, freiwillig an ihren Toren Schlange stehen würden."

Tugendhat konstruiert eine Konkurrenz zwischen Antifaschismus und Pazifismus, um sich für letzteren zu entscheiden - und zwar aus der Warte desjenigen, der aus sicherer Distanz die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten begutachten kann. Wie in seinem Essay über "Euthanasie" unterscheidet er zwischen "allen" (uns) und den tatsächlichen Opfern - um dann, wenn auch nur stillschweigend, aus dem "wohlverstandenen kollektiven Interesse aller" zu schließen, daß die Selektion und Vernichtung in Osteuropa hinzunehmen wäre, um zu verhindern, daß man selbst Opfer wird, oder, weniger eigennützig als realpolitisch formuliert, lieber die Vergasungsaktionen der Nationalsozialisten zu akzeptieren, weil sie im Vergleich zum Einsatz einer Atombombe immer noch das "kleinere Übel" darstellen. Das ist nicht nur eine äußerst befremdliche Phantasie - es läßt auch auf eine grotesk verzerrte historische Sichtweise schließen. Die Entwicklung der Atombombe war ja nicht Folge eines irregeleiteten Antifaschismus US-amerikanischer Wissenschaftler, sie fand parallel zu Forschungsarbeiten einer deutschen Physiker-Gruppe mit genau dem gleichen Ziel statt - und zwar bis wahrscheinlich 1944 immer getrieben von der Vorstellung, die Nationalsozialisten könnten vor den USA über die Bombe verfügen.

Fragwürdig ist aber vor allem, daß zur Rechtfertigung des Widerstands gegen die Nato-Aufrüstung ein Gegensatz zwischen "Nie wieder Krieg" und "Nie wieder Faschismus" konstruiert wird - ein Vorgehen, das seine Entsprechung in Tugendhats Aufsatz zum Golfkrieg findet, in dem auch, um die pazifistische Haltung zu rechtfertigen, Israel in den Mittelpunkt der Kritik gerückt wird - als sei das der kriegstreibende Staat.

Für Tugendhat ist die Entwicklung der Atombombe der Ausgangspunkt für seine angewandte philosophische Agitation, der Nationalsozialismus hat auf sein Denken keinen auch nur annähernd vergleichbaren Einfluß. Damit reiht er sich in eine lange Reihe von Friedensforschern ein: hier seien nur Paul Virilio und Ekkehard Krippendorff genannt, weil sie beide, wie auch Tugendhat, den Einsatz der Atombombe immer wieder als "Holocaust" bezeichnen und damit den Unterschied zwischen der planmäßig vorangetriebenen Vernichtung der europäischen Juden, für den sie sich nicht weiter interessieren, und dem Einsatz dieses besonders grauenvollen Produkts des technischen "Fortschritts" einebnen. Das ist nicht einfach nur eine Frage der "Einschätzung". Für Tugendhat ist der Atomkrieg die Apokalypse - da sie droht, erscheint alles andere als nebensächlich: "Ein atomarer Weltuntergang (ist) ein irreversibles Geschehen, ein weltweites totalitäres Regime hingegen nicht".

Die Apokalypse ist von niemandem, außer von "einigen Verrückten in Washington", zu verantworten, sie schweißt alle zu einer Gemeinschaft potentieller Opfer zusammen, sie hat keinen beeinflußbaren Verlauf, Anfang und Ende sind eins - es kommt angesichts des drohenden Untergangs nicht darauf an, die Bedingungen menschlichen Handelns zu untersuchen oder Interessen herauszufinden für oder gegen die Partei ergriffen werden könnte. Der oder die einzelne können nichts gegen den Untergang tun, sie können nur Angst haben und sich zur Masse formieren: "Wir wissen doch, daß viele einzelne, wenn sie die Augen wirklich offenhielten, und es wirklich viele wären, eine Masse bilden würden, die aufstehen und die Inhaber der Macht zwingen könnten, die rasende Fahrt anzuhalten. Es fehlt, heißt es, der Mut zur Angst. Gewiß, aber wenn die Angst nicht von selbst vorhanden ist, wenn es zur Angst erst Mut bedarf, steht es nicht gut."

Angesichts des Golfkrieges greift Tugendhat, obwohl der Einsatz der Atombombe nicht zu erwarten war, den Gedanken dennoch wieder auf: "Es ist eine Diffamierung der Friedensbewegung, wenn man fragt, warum sie nicht bei dem Überfall auf Kuweit oder bei der Vergasung der Kurden demonstriert hat... Für das, was man die Friedensbewegung nennt, ist diese Verbindung von Angst und Moral charakteristisch, und sie ist legitim... Massen demonstrieren nur, wenn sie auch Angst haben." Angst um sich, wäre zu ergänzen, und zwar egal, ob es dazu einen Grund gibt oder nicht. Erfahrungsgemäß fördert Angst aber eher Ressentiment als Widerstand, Erkenntnis und Emanzipation - auch bei Tugendhat.

In der Anti-AKW-Bewegung war, vor allem nach Tschernobyl, die Angst vor behinderten Kindern einer der wirkungsvollsten Mobilisierungsfaktoren: Die dem ökologischen Denken innewohnende Sehnsucht nach dem Idyll produziert aggressive Abwehrreaktionen gegen Behinderung und Krankheit. Schlimmer als der Tod erscheint auch Tugendhat infolge eines denkbaren Atomwaffeneinsatzes das "evtl. jahrelange Siechtum". Die Angst vor der Apokalypse produziert die Hoffnung auf Erlösung, die er sich zur Not auch in nazistischen Gaskammern erwartet - das Engagement gegen den Atomkrieg und das für "Euthanasie" werden so verknüpft.

Tugendhat entwickelt wesentliche Elemente seiner Moral aus der Biologie - der intakte, funktionierende Körper ist Voraussetzung fürs glückliche Sein. Nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse, die den Einsatz von Atombomben denkbar werden lassen, treiben ihn von der Philosophie zur Praxis, sondern die ökologischen Folgen dieses Einsatzes für die Welt - wobei das Schematische an Tugendhats Visionen die Frage aufwirft, ob ihm die Atombombe nicht ähnlich wie der "Holocaust", nur eine Metapher ist. Nicht von ungefähr führt Tugendhat die Warnung vor dem Atomkrieg zur Thematisierung der "zweiten neuartigen Gefahr für die Menschheit: die des Verbrauchs der Umweltressourcen". Und seine Vision vom Untergang der Welt schlägt genauso folgerichtig in die autoritäre Vorstellung um, die Rettung der Welt sei nur "durch einen Weltstaat" zu gewährleisten, der allerdings, das führt Tugendhat dann Jahre später, während des Golfkrieges, aus, "durch einen Staat, der seine Macht rücksichtslos durchzusetzen versucht" (die USA), verhindert wird, weswegen er hofft, "daß es jetzt zu einer sehr starken Verbreitung des Antiamerikanismus kommen wird und die Amerikaner an Macht verlieren werden".

An den deutschen Universitäten stößt diese deutschnationale Umwidmung der in den angelsächsischen Ländern "nur" rücksichtslos liberalen Ideologie auf der sich aus nihilistischen Quellen speisenden Ethik begeisterte Zustimmung - nennenswerter Widerspruch gegen diesen Abschied von der Philosophie durch ihre vermeintliche Anwendung ist nicht bekanntgeworden. Neben dem Historikerstreit ist damit auch der bereits vor längerer Zeit zu den Akten gelegte Positivismusstreit im Nachhinein erledigt - wer schon deutsch ist, kann nicht auch noch eigenständig gegen die Verhältnisse denken wollen.

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