Die delegierte Verantwortung

07.05.2001 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Gen-Medizin

Veröffentlicht in: taz Nr. 6439 vom 7.5.2001

Stammzellen, Organspenden, Sterbehilfe: Statt von den Betroffenen werden immer mehr wichtige gesellschaftliche Fragen von Experten in Ethikkommissionen diskutiert

"Wie sollen wir leben?" ist eine der Grundfragen der abendländischen Philosophie. Was ein gutes Leben ausmacht, darüber müssen sich die Menschen, die das "Wir" bilden, immer wieder verständigen. Zugleich gibt jeder eine Antwort - praktisch und für sich allein. Dass sich Experten eines solchen Problems annehmen, ist also keineswegs selbstverständlich - und doch hat es immer Fachleute für die Fragen des richtigen Lebens gegeben. Dabei hat die klassische Moralphilosophie lange abgedankt; an ihre Stelle ist die moderner wirkende Ethik getreten - ein Wechsel nicht nur der Begriffe.

Der Moralphilosophie ging es nur selten um die Klärung eines konkreten Konflikts. Stattdessen wurden überwiegend die Prinzipien erkundet, wie man das Sein am Sollen orientiert. Man verhandelte vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft - die Schwierigkeit, die Glücksvorstellungen der Einzelen mit den gesellschaftlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen. Theodor Adorno hat darauf hingewiesen, welch ein Perspektivwechsel mit der Hinwendung zur Ethik einherging: "Es steckt darin, dass, wenn man nur seinem eigenen Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe, wenn man, wie man so schön sagt: sich selbst verwirklichen oder wie diese Phrasen alle lauten mögen - dabei schon das richtige Leben herauskomme."

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Entwicklung der Biomedizin entfaltet dieser Perspektivwechsel seine eigentliche Brisanz. Denn der wissenschaftliche Fortschritt, der ermöglichen soll, über den Menschen als solchen zu verfügen, kann (und soll) nicht durch eine Ethik gelenkt werden, die auf einen normativ geprägten Begriff vom richtigen Leben verzichtet. Dass die Ethik gerade mit dem Erfolg der Biowissenschaften einen enormen Aufschwung genommen hat und in Kliniken, Forschungszentren, bei der Bundesärztekammer und jetzt beim Bundeskanzleramt institutionalisiert wird, bildet keinen Widerspruch zu dieser Feststellung. Denn ihr kommt gerade zu Gute, dass sie so flexibel auf neue Entwicklungen der Wissenschaft reagieren und Antworten geben kann, ohne die Gesellschaft transzendieren zu müssen.

Und dafür besteht erheblicher Bedarf: Während Fichte noch formulieren konnte, dass sich "das Moralische von selbst verstehe", sind heute Antworten gefragt, die sich vom intuitiv für richtig Befundenen rasant entfernen. Angesichts der neuen medizinischen Möglichkeiten und der Lifestyle-Konzepte, die nach immer mehr Kontrolle verlangen, tauchen Probleme auf, für die es kein kulturelles Muster der Lösung gibt. Ist es erlaubt, Embryonen zu erzeugen, um bestimmte Zellen zu züchten? Darf man Menschen, die Reflexe haben und durchblutet sind, Organe entnehmen, um sie anderen einzupflanzen? Kann man Schwangerschaften abbrechen, weil der Fetus unerwünschte Eigenschaften hat? Oder Menschen im Wachkoma verhungern lassen?

Ethiker können Gründe finden, warum der Intuition eine Absage erteilt werden muss - und sie tun es. Dazu müsen sie sich allerdings von den Moralvorstellungen der christlich-jüdischen Tradition des Abendlands verabschieden. Deren Kulminationspunkt ist die Vorstellung von der "Heiligkeit des Lebens". Eine solche Absage gehört nicht nur für Peter Singer zu den Grundlagen der modernen Bioethik. Diese Ethik kann jetzt auch im Nationalen Ethikrat von Bundeskanzler Schröder eine passende Wirkungsstätte finden: Politikberatung verlangt nach Effizienz und nicht nach einer öffentlichen, allgemeinen Reflexion ohne festgelegtes Ergebnis. Ethik wird stattdessen als Expertenwissenschaft verankert.

Dass der Kanzler dem Rat aufgegeben hat, vor allem Informationen zu sammeln und aufzubereiten und erst dann die Moral zu diskutieren, charakterisiert genau dieses Verständnis von der Ethik als Expertenwissenschaft. Ihr wird damit die Autorität der Institution verliehen, im Gegenzug schafft sie Legitimation durch Diskurs und Verfahren. "Wir denken", das ist die beruhigend gemeinte Botschaft der Ethikkommissionen, "auch an die Probleme." Was wir für richtig halten, soll auch als "gut" begründet werden können.

Das hat als Nebenwirkung, dass auch der Gesellschaft meist nicht als ethisches Problem erscheint, was den Ethikern nicht in den Blick gerät. Was unwichtig zu sein scheint für den Wissenschaftsstandort, wird nicht debattiert: also etwa die Autonomie von pflegeabhängigen Menschen oder die ethischen Grenzen des elterlichen Sorgerechts bei geschlechtszuweisenden Operationen von Intersexuellen. Mit der Institutionalisierung geht einher, dass Krisen, Konflikte und Probleme an die Ethiker delegiert werden. Dies nimmt den unmittelbar Beteiligten, den Eltern, Ärzten und Politikern die Angst, an den ethischen Problemen zu scheitern.

Ethikberatung entlastet: Wer den Empfehlungen folgt, muss immer weniger die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Stets lässt sich auf das Beratungsergebnis der Kommissionen verweisen, die empfohlen haben, die Behandlung abzubrechen, die erlaubt haben, den therapeutischen Versuch durchzuführen, oder die zustimmten, embryonales Gewebe zu verwenden. Inzwischen entwickelt sich die Medizintechnik weiter - der Entscheidungsdruck wächst. Dadurch droht allerdings die Situation jener Menschen prekär zu werden, die sich für etwas entscheiden wollen, was den Vorschlägen der Ethikexperten und den Erfordernissen der Biomedizin nicht entspricht.

So erleben schwangere Frauen zunehmend Druck, wenn sie sich dem pränatalen Screening entziehen wollen. Auch werden die Forderungen immer drängender, für fremdnützige Medizinforschung auch auf Menschen zugreifen zu können, die nicht selbst einwilligen können. Dies alles lässt aufscheinen, wie sich die Verhältnisse entwickeln könnten. Die Menschen, die dagegen aufbegehren, werden zunehmend in die Enge gedrängt. Institutionalisierte, entscheidungsnahe Ethikberatung tendiert so auch dazu, den Konformitätsdruck zu erhöhen.

Als Alternative wäre eine Aneignung der bioethischen Probleme durch die Gesellschaft wünschenswert. Ein Beispiel dafür, wie das gehen könnte, hat die ehemalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer mit einem bislang einmaligen Projekt geliefert: Sie organisierte im Frühjahr 2000 eine als großer Ratschlag angelegte Konferenz über Fragen der Fortpflanzungsmedizin. Und bei aller berechtigten Kritik im Detail hat sie damit für einige Tage eine Debatte zu Stande gebracht, auf der die ethischen und naturwissenschaftlichen Experten nur Publikum oder Sachverständige unter anderen waren. Sie mussten sich mit Betroffenen direkt auseinander setzen, und nicht als Antwortende vom Podium herab. Das war konfliktreich, weniger eingängig, kaum übersichtlich und nicht ergebnisorientiert. Doch genau damit war diese Konferenz weit näher dran an jenen Grundfragen, um die es gehen müsste und mit denen die Gesellschaft und die Vereinzelten konfrontiert sind.

Dateien:

Logo Adobe PDF

1153160978.pdf(PDF Dokument, 10,42 Ki Größe)

 

Zurück zur Übersicht