Die Sterbensqualität

02.09.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

England, Holland, Frankreich: Zum Stand der Euthanasiedebatte

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.09.2004, Nr. 204 / Seite 35: In den Niederlanden führt die Legalisierung der Euthanasie zu deren beständiger Ausweitung, in Frankreich soll jetzt pauschal passive Sterbehilfe erlaubt werden - nur in England ticken die Uhren bisweilen etwas anders: Der High Court hat einem behinderten Kläger recht gegeben, der durch eine Behandlungsrichtlinie des General Medical Council über den Abbruch lebensverlängernder Behandlungen sein Leben in Gefahr sieht.

Während Behinderte, die vor Gericht ziehen, um ihrem Leben ein Ende setzen zu dürfen, sich internationaler Aufmerksamkeit gewiß sein können, ist das vor kurzem gesprochene Urteil des Londoner High Court im Fall eines an Cerebellärer Ataxie erkrankten Mannes in Europa auf vergleichsweise wenig Interesse gestoßen. Der dreiundvierzigjährige Mann wollte mit seiner Klage (F.A.Z. vom 1. März) verhindern, daß sein Tod dereinst durch, wie es im Juristendeutsch freundlich heißt, Hilfe zum Sterben beschleunigt herbeigeführt werden wird. Leslie Burke hat Anlaß zur Besorgnis, denn in Großbritannien hat der General Medical Council, die durch den Medical Act von 1858 eingesetzte oberste Aufsichtsinstanz der ärztlichen Selbstverwaltung, im August 2002 Richtlinien über "Nichtaufnahme und Abbruch lebensverlängernder Behandlungen" veröffentlicht, die in der Öffentlichkeit große Zustimmung gefunden haben. Diese Richtlinien sehen vor, daß Ärzte bei Patienten, die nicht mehr selbst über ihre Behandlung entscheiden können, in deren "bestem Interesse" die anstehenden Entscheidungen auch über Aufnahme oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen wie beispielsweise der künstlichen Ernährung und Versorgung mit Flüssigkeit treffen.

Was im besten Interesse eines Patienten ist, soll sich vor allem aus dessen nach einheitlichen Indikatoren zu ermittelnden Lebensqualität ergeben. Erleidet der Patient infolge einer lebensverlängernden Behandlung Schmerzen, könnte sie ihn auf andere Weise physisch belasten und sind auf der anderen Seite keine oder nur wenig Vorteile der therapeutischen Maßnahmen erkennbar, dann soll sie nach der Richtlinie unterbleiben oder beendet werden. Diese Aufforderung zur therapeutischen Zurückhaltung klingt human und nachvollziehbar - aber nur für Menschen ohne langwierige chronische Krankheiten oder schwere Behinderungen, wie sie beispielsweise Leslie Burke hat. Da die Cerebelläre Ataxie eine fortschreitende neurologische Erkrankung ist, die die Koordination der Muskeln beeinträchtigt, aber die intellektuellen Fähigkeiten und die Schmerzempfindung unberührt läßt, ist wahrscheinlich, daß Burke in einigen Jahren, in einem späten Stadium seiner Krankheit, auf künstliche Ernährung angewiesen sein wird, wenn er weiterleben will. Die Vornahme der künstlichen Ernährung wird ihn auch belasten, weil sie mit seinem Leben auch seine Schmerzen und seine schwere Krankheit verlängert. In dieser Phase wird sich Burke aufgrund seiner Erkrankung auch nicht mehr zu seinen Behandlungswünschen äußern können. Die Lebensqualität Burkes, so wie sie sich dann aus medizinischer Sicht darstellt, wird nur noch gering sein. Ein Arzt, der dann über Burkes lebensverlängernde Behandlung zu entscheiden haben wird, müßte auf der Basis der Richtlinie des General Medical Council zu dem Schluß kommen, daß die Sondenernährung abzubrechen oder gar nicht erst zu beginnen ist. Diese Richtlinien des General Medical Council, der zum Schutz der Patienten gegründet wurde, verdeutlichen das Dilemma der gegenwärtigen Debatte um Sterbehilfe, wie sie vor allem in Westeuropa geführt wird. Im Zentrum der Auseinandersetzungen steht die Sorge darum, daß durch exzessive medizinische Behandlung die menschliche Würde verletzt und das Sterben der Patienten zur Qual gemacht wird. Die Patientenautonomie, deren Bedeutung vor allem die Befürworter einer Liberalisierung der Sterbehilferegelungen in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz oder auch in Deutschland hervorheben, wird unausgesprochen in erster Linie als Möglichkeit gedacht, Behandlungsmaßnahmen zu beenden und den Eintritt des Todes zu beschleunigen oder gar erst herbeizuführen.

Dabei wird außer acht gelassen, daß angesichts des grassierenden Pflegenotstandes in den Heimen, einer allgemein geringen Akzeptanz von Behinderungen und einer Kostendämpfungsdiskussion, in der auch die Rationierung sinnvoller medizinischer Leistungen kein Tabu mehr ist, die Gefahr der Unterversorgung weitaus drängender ist als die Gefahr der Überversorgung. Damit muß aber die Diskussion über den Schutz von Patienten vor unfreiwilligem Behandlungsstopp mindestens genauso intensiv geführt werden wie die Debatte über die Wahrung der Patientenautonomie, die auch die Abwehr von unerwünschten Behandlungsmaßnahmen umfaßt. Wie notwendig die Eröffnung einer Debatte über den Schutz des Lebens auch in kritischen Phasen ist, dokumentieren die Verfahren um Patiententötungen, die in den letzten Monaten in Hannover, in Sonthofen, in Besançon und Den Haag eröffnet oder abgeschlossen worden sind. Unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung im einzelnen signalisieren die Ereignisse dort, daß die Diskussion um eine Freigabe der Sterbehilfe eine gefährliche Eigendynamik gewonnen hat. Die Vorstellung vom barbarisch qualvollen Sterben, dem im Notfall mit jedem Mittel abgeholfen werden muß, gehört mittlerweile zu den Gemeinplätzen unserer Kultur.

Exemplarisch lassen sich die praktischen Folgen des permanenten Vorschiebens der diskursiven Front in den Niederlanden studieren, wo die schrittweise Legalisierung der Tötung auf Verlangen zu einer erheblichen Ausweitung der Indikationen geführt hat, so daß Gerichte mittlerweile vereinzelt auch die im Gesetz nicht vorgesehene Tötung von dementen und depressiven Patienten für tolerierbar oder sogar für zulässig halten. Gleichzeitig steht mittlerweile fest, daß selbst die geringen formalen Anforderungen, die bei einer offiziellen Tötung auf Verlangen eingehalten werden müssen, in der Praxis oft unbeachtet bleiben, so daß die niederländische Regierung jetzt schärfere Kontrollen durchführen will, damit die Euthanasie nicht gänzlich aus dem Ruder läuft. Daß es nach einer so radikalen Deregulierung der Sterbehilfe möglich ist, die versprochene Transparenz und Kontrolle durch Drohung mit Sanktionen herzustellen, ist gegenwärtig allerdings wenig wahrscheinlich. Zwar gibt es auch in den Niederlanden selbst wachsende Bedenken gegen die Vorzüge der Patiententötung, die Wortführer der Kritik entstammen aber immer noch dem kleinen Kreis euthanasiekritischer Ärzte und Kriminologen, die sich seit vielen Jahren vergeblich gegen die Entwicklung stemmen. Daß ein gerichtliches Verfahren, wie es Leslie Burke in England angestrengt hat, in den Niederlanden vor Gericht ähnlichen Erfolg haben könnte, ist angesichts der weitgehend konsequenten Pro-Euthanasie-Rechtsprechung in dem kleinen nordeuropäischen Königreich unwahrscheinlich.

Richter James Munby von der verwaltungsrechtlichen Abteilung des Londoner High Court hat in seinem mehr als sechzig Seiten langen Urteil dagegen ausführlich dargelegt, warum auf Grundlage des Common Law und der Europäischen Menschenrechtskonvention der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zwar bisweilen zulässig und sinnvoll ist, aber für den Fall, daß der Patient dies nicht ausdrücklich selbst wünscht, eine strikte Ausnahme bleiben muß. Vor allem kann die von Ärzten als gering eingestufte "Lebensqualität" eines Patienten dem Urteilsspruch zufolge kein Argument für den Abbruch einer lebensverlängernden Behandlung sein. Wenn eine gültige und aussagekräftige Patientenverfügung nicht vorliegt, hat der Arzt der Entscheidung des High Court zufolge grundsätzlich Maßnahmen zur Verlängerung des Lebens zu ergreifen. Er darf insbesondere den Abbruch der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitsversorgung nur dann anordnen, wenn das Leben des Patienten "unerträglich" ist.

Damit ist ein hoher Standard gesetzt, der sich einer schleichenden Ausweitung der sogenannten passiven Sterbehilfe in den Weg stellt - im richtigen Moment, hat doch die Französische Nationalversammlung gerade beschlossen, bis Ende dieses Jahres Sterbehilfe in einem gewissen Rahmen legalisieren zu wollen. Der General Medical Council ist gegen die Entscheidung des High Court vor den Court of Appeal gezogen. Fast noch wichtiger allerdings als die so oder so revidierbare juristische Entscheidung ist, daß in diesem Verfahren ein Mensch mit Behinderung für sein Recht auf Leben streitet und damit nicht nur vor Augen führt, welche gesellschaftlichen Signale die gegenwärtige Sterbehilfedebatte ausstrahlt. Leslie Burke setzt gegen die Stimmung des voreiligen Mitleids seinerseits ein Zeichen: Er ist bereit, gegen die Geringschätzung seines Lebens und die Gleichsetzung von würdigem mit schnellem Tod mit aller Macht zu streiten.

 

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