Du sollst nicht töten

20.10.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Wertewandel: Tendenzen der Rechtsprechung zur Sterbehilfe

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.2004, Nr. 245: Vormundschaftsgerichte erlauben heute schneller den Abbruch der künstlichen Ernährung bei einwilligungsunfähigne Patienten. Im Bundesjustizministerium werden die Weichen für eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen gestellt, die diese Tendenzen verstärken könnte.

Für das Amtsgericht in Offenbach am Main lag der Fall klar: "Die Entscheidung des Betreuers, die künstliche Ernährung der Betroffenen einzustellen, wird genehmigt." Auch das Oberlandesgericht Karlsruhe kannte keine Zweifel: "Das Landgericht hat fälschlich angenommen, daß ein Leiden mit einem irreversibel tödlichen Verlauf nur vorliegt, wenn der Tod in kurzer Zeit bevorsteht." Ohne zu zögern, entschieden die Richter der 1. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn: "Der mutmaßliche Wille der Betreuten (läßt sich) dahin feststellen, daß sie einen Zustand des sogenannten Wachkomas für sich ausschließen und für diesen Fall lebensverlängernde Maßnahmen verweigern wollte."

Seitdem der 12. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes letztes Jahr für Recht befunden hat, daß Vormundschaftsgerichte den Antrag von Betreuern auf Abbruch der künstlichen Ernährung bei Betreuten auch ohne gesetzliche Grundlage auf der Basis eines "unabweisbaren Bedürfnisses des Betreuungsrechts" genehmigen dürfen, hat sich die Praxis der Gerichte erheblich verändert. Es werden kaum noch Beschlüsse bekannt, die entsprechende Anträge von Betreuern ablehnen - und wenn, dann sind in der nächsten Instanz dagegen gerichtete Beschwerden regelmäßig erfolgreich.

Der Abbruch der künstlichen Ernährung bei einem nicht mehr zur Einwilligung fähigen Patienten, der vor gut zehn Jahren von Strafrichtern noch als Tötung durch Unterlassen angesehen wurde, ist heute eher ein Thema des Zivilrechts, das durch Rückgriff auf die allgemeine Lehre von den Rechtsgeschäften zu lösen ist. Die Entkriminalisierung in diesem Bereich, in dem höchstpersönliche Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, ist verblüffend, weil sie gegen den sonst zu verzeichnenden Trend der Zeit gerichtet ist, dem Strafrecht immer größere Bedeutung bei der Regulierung gesellschaftlicher Konflikte einzuräumen. Sie ist auch bedenklich, wie die nähere Betrachtung der Fallkonstellationen in den neueren Entscheidungen vor Augen führt.

Im Verfahren vor dem Amtsgericht Offenbach reichte eine zwölf Jahre zurückliegende vage Äußerung der Patientin nach einem Schlaganfall gegenüber dem Hausarzt als Patientenverfügung aus, um den zum Tode führenden Abbruch der Ernährung zu genehmigen. Das Landgericht Heilbronn hatte über das Leben einer Frau zu befinden, die nach Hirnblutungen auf akustische und taktile Reize immerhin noch mimisch reagierte. Eine Patientenverfügung hatte die Betreute nicht verfaßt, aber ihre Töchter konnten über eine "Grundeinstellung" berichten, der zufolge ihre Mutter bei Ausfall von Gehirnfunktionen nicht künstlich ernährt werden wollte. Daß die Töchter die Äußerungen weder präzise wiedergeben noch konkrete Zeitpunkte dafür benennen, sondern nur allgemeine Aussagen wie "anläßlich einer Fernsehsendung" machen konnten, schien den Richtern vertretbar: "In der Regel ist der Kontakt von Töchtern zur Mutter zu eng und häufig, um eine Eingrenzung zu ermöglichen."

Angesichts dieser Tendenz in der deutschen Rechtsprechung, selbst vage kolportierte frühere Äußerungen von nunmehr einwilligungsunfähigen Patienten als Patientenverfügung oder zumindest zuverlässigen Ausdruck des mutmaßlichen Willens zu werten und ihnen damit bindende Wirkung zuzuerkennen, wächst einschlägigen Planungen des Bundesjustizministeriums besondere Bedeutung zu: Eventuell noch in diesem Jahr, spätestens aber im nächsten Frühjahr soll ein Entwurf zur Ergänzung des Betreuungsrechts um eine Regelung zum gezielt zum Tode führenden Behandlungsabbruch bei einwilligungsunfähigen Menschen vorliegen.

Allerdings herrscht im Justizministerium derzeit noch Unklarheit, in welche Richtung die neue Rechtsvorschrift weisen soll. Eine wesentliche Streitfrage ist dabei die Form von Patientenverfügungen. Die von Bundesjustizministerin Zypries eingesetzte Kommission "Patientenautonomie am Lebensende", die unter Vorsitz des ehemaligen BGH-Richters Klaus Kutzer beriet, wirbt dafür, daß Patientenverfügungen formfrei sein und in jedem Fall bindend wirken sollen - vorausgesetzt, sie beziehen die Konstellation auch wirklich ein, angesichts deren die Entscheidung über die Behandlung getroffen werden muß. Dagegen verlangt die FDP in einem Ende Juni vorgelegten Antrag zur Stärkung der Patientenautonomie, daß Patientenverfügungen schriftlich abgefaßt werden sollen, damit keine Beweisprobleme auftreten.

Auch die Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" empfiehlt, die schriftliche Abfassung der Patientenverfügungen zu verlangen. Sie weist aber zugleich auf die teilweise erheblichen Schwierigkeiten in der Praxis hin, wenn die Verfügung zu interpretieren und zu klären ist, ob sie sich tatsächlich auf gerade den Fall bezieht, in dem Betreuer und Ärzte aktuell zu entscheiden haben. Die Schriftlichkeit der Verfügung kann das Problem, daß eine schwierige, lebensentscheidende Behandlungssituation kaum präzise Monate oder sogar Jahre im voraus zu erfassen ist, nur ansatzweise lösen. Deswegen schlägt die Enquetekommission vor, daß Berater für die Abfassung von Patientenverfügungen ausgebildet werden. Außerdem soll ein Rat, in dem Ärzte, Pflegeteam, Juristen und Angehörige vertreten sind, dem Betreuer bei der Auslegung im Umgang mit einer Patientenverfügung zur Seite stehen.

Noch schwerer als die unterschiedlichen Vorstellungen über die Form der Patientenverfügung wiegt die Kontroverse über ihre Reichweite. Die Kutzer-Kommission, aber auch die FDP wollen hier keine Begrenzungen vornehmen - und wissen sich da auch in Übereinstimmung mit Patientenschutzorganisationen wie der Deutschen Hospizstiftung. Dagegen schlägt die Enquetekommission vor, den Abbruch lebenserhaltender Behandlungen auf Konstellationen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz ärztlicher Behandlung zum Tod führen wird. Das soll bei Patienten im Wachkoma ausdrücklich nicht gegeben sein. Damit greift die Kommission auf ein Kriterium der Entscheidung des 12. Zivilsenats des BGH zurück.

Der 12. Zivilsenat hatte mit dem Hinweis darauf, daß das Zivilrecht nicht erlauben könne, was das Strafrecht verbiete, beschlossen, "daß für das Verlangen des Betreuers, eine medizinische Behandlung einzustellen, kein Raum ist, wenn das Grundleiden des Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat und durch die Maßnahme des Leben des Betroffenen erhalten wird". Allerdings hatte der BGH nicht herausgearbeitet, wie dieses Kriterium des "irreversiblen tödlichen Verlaufs" zu fassen sei. Anders als die Enquetekommission ging der BGH auch offensichtlich davon aus, daß die Anforderung des "irreversibel tödlichen Verlaufs" bei Wachkoma-Patienten erfüllt sei.

Die Kommission weist auf die Lebenssituation von Schwerkranken hin, die oft durch Druck und Erwartungen geprägt sei. Menschen sind gerade angesichts von Tod und Sterben keineswegs nur rational und autonom handelnde Geschöpfe, sie befinden sich gerade in dieser letzten Phase in vielen Abhängigkeiten, so daß die Beschneidung von Handlungsmöglichkeiten keinesfalls ein Weniger an Freiheit bedeuten muß. Bedenkenswert erscheint vor allem der Hinweis der Enquetekommission, daß der ideale Tod so sehr ein Wunschbild bleiben wird wie die ideale Geburt - weshalb es daher ratsam sei, auch am Ende nicht mit umfassender Planbarkeit zu rechnen, ohne daß deswegen natürlich die Gestaltung des eigenen Lebens ganz aufgegeben werden soll.

Es liegt auf der Hand, daß hier nicht nur um betreuungsrechtliche Bestimmungen gestritten wird, sondern auch um die Bedeutung des Tötungsverbotes - das auch ein Töten durch Unterlassen umfaßt. Wird mit der Änderung des Betreuungsrechts die Tendenz der gegenwärtigen Rechtsprechung unterstützt, bedeutet das eine Einschränkung des strafrechtlichen Schutzes von Menschen im Wachkoma oder mit schweren neurologischen Erkrankungen. Der umfassende Lebensschutz und in letzter Konsequenz auch das Verbot der Tötung auf Verlangen werden zumindest in Teilen in Frage gestellt, denn es wird so Menschen das Recht zugestanden, den Tod von anderen Menschen gezielt durch das Unterlassen medizinisch möglicher und gebotener Behandlungen herbeizuführen, weil deren Leben allgemein und von ihnen selbst als „würdelos“ und „fremdbestimmt“ angesehen wird.

 

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