Ein bisschen fremdnützig, aber vielleicht gut für die Gruppe?

18.07.2016 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Versuche am Menschen

Klinische Studien an Menschen, die nicht einwilligen können sollen erlaubt werden, auch wenn deren Ergebnisse ihnen nicht nützen werden

Ein ähnlicher Text von mir ist am 18.Juli 2016 im Feuilleton der FAZ auf Seite 13 erschienen: Das deutsche Arzneimittelgesetz muss an eine neuen EU-Richtlinie angepasst werden. Einer der umstrittenen Punkte: künftig soll fremdnützige Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Menschen erlaubt werden.Den Schlüssel dazu sollen Patientenverfügungen liefern - die aber für ganz andere Konstellationen konzipiert wurden. Dagegen haben sich auch viele Bundestagsabgordnete zur Wehr gesetzt. Deswegen wird die parlamentarische Debatte auf den Herbst verlegt.

Es ist ein Thema aus Europa: Die klinischen Prüfungen für Humanarzneimittel werden durch die neue EU-Verordnung 536/2014 verbindlich vorgegeben. Also muss das deutsche Arzneimittelgesetz angepasst werden. Aber wie es mit EU-Recht oft ist: Neben Regelungszwängen schafft es auch Gestaltungsspielräume. Im geltenden Arzneimittelgesetz erlaubt Paragraph 41 klinische Prüfungen an volljährigen Personen, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und, wie es im Juristendeutsch heißt, „ihren Willen hiernach auszurichten“. Die Voraussetzungen sind streng. Die Patienten müssen an der Krankheit leiden, zu deren Behandlung das Arzneimittel angewendet werden soll; die Forschung muss sich vor allem aber unmittelbar auf einen lebensbedrohlichen oder sehr geschwächten klinischen Zustand beziehen, in dem sich die betroffene Person befindet. Die Risiken und Belastungen müssen klar definiert und möglichst gering sein, jedenfalls muss erwartet werden, dass der erhoffte Nutzen den eventuellen Schaden überwiegt.

Die ethische Prämisse der geltenden Regeln lautet: Forschung zum Nutzen Dritter, die nicht auf einer wohlinformiert getroffenen Entscheidung gründet, instrumentalisiert den Menschen und verstößt damit gegen die Menschenwürde. So sieht es auch der Nürnberger Ärztekodex in der Fassung von 1997. Und so sahen es die Abgeordneten des Bundestages in der letzten Legislaturperiode. Deswegen hatten die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen 2013 in einem Entschließungsantrag „erhebliche Mängel“ am Entwurf der EU-Verordnung gerügt und die Forderung aufgestellt: „Bei Forschung an nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen ist ein direkter individueller Nutzen vorauszusetzen.“

Gegenüber dieser Zeitung sagte der Bundestagsabgeordnete Michael Brand (CDU): „Warum diese klare Festlegung aus der letzten Legislaturperiode heute plötzlich nicht mehr gelten soll, ist unklar. Wir sollten unsere hohen Schutzstandards nicht ohne Not preisgeben.“ Brand ist einer der Autoren des vom Bundestag im November 2015 verabschiedeten Gesetzes, das die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt.

Der geplante neue Paragraph 40b des Arzneimittelgesetzes soll ermöglichen, dass auch eine volljährige Person, die nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der klinischen Prüfung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten, in Forschungsvorhaben einbezogen werden kann, die ihr selbst nicht helfen werden. Allerdings müssen die geplanten Studien wenigstens einen Nutzen erwarten lassen „für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört“. Es geht also um „fremdnützige“ Forschung, die aber wenigstens, wie es die Medizinethik formuliert, „gruppennützig“ sein soll.

Des weiteren verlangt der geplante Paragraph, dass die Patienten in einer Patientenverfügung noch zu Zeiten, in denen sie einwilligungsfähig waren, in ihre Beteiligung an gruppennützigen Vorhaben vorab eingewilligt haben. Menschen, die zeitlebens unter schwerwiegenden geistigen Beeinträchtigungen gelitten haben, werden demnach nicht herangezogen werden können. Dennoch stößt das erst seit wenigen Wochen bekannte Vorhaben von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) auf Kritik nicht nur der Oppositionsparteien, sondern auch in der Regierungskoalition.

Auch Mitglieder der Ethikkommission des Landes Berlin und der Ärztekammer Berlin haben sich kritisch zu den Plänen der Bundesregierung geäußert. Dabei haben sie die Unterstützung des Regensburger Betreuungsrechtsexperten Dieter Schwab. Der Berliner Staatsrechtslehrer Christian Pestalozza, Mitglied der Ethikkommission, erinnert daran, dass Deutschland der Biomedizinkonvention des Europarates von 1997 nicht beigetreten ist, um dem Schutz nichteinwilligungsfähiger Menschen Rechnung zu tragen. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention untersagt, wie Pestalozza hervorhebt, in Artikel 15 ein Verbot medizinischer Versuche ohne freiwillige Zustimmung - und knüpft damit an den Nürnberger Ärztekodex an. Dass nicht-freiwillige medizinische Versuche in Artikel 15 UN-BRK in einem Atemzug mit Folter genannt werden, mag manchen polemisch erscheinen, es unterstreicht aber den Zusammenhang und die Schwere dieser Art von Eingriffe in die Menschenrechte von Behinderten. Und es wird ganz deutlich, das hebt auch Christian Pestalozza hervor, dass eine Vorauseinwilligung, wie sie der Entwurf vorsieht, eine gegenwärtige informierte Zustimmung, sich an einer konkret antragsreifen klinischen Prüfung zu beteiligen, nicht ersetzen kann.

Warum nicht? Anders als bei einer Patientenverfügung, mit der der Patient vorab in einen indizierten medizinischen Eingriff einwilligt oder nicht einwilligt, ist die klinische Prüfung ohne individuellen Nutzen für den Probanden gerade nicht medizinisch indiziert. Damit ist vorab auch nicht annähernd konkret überschaubar, in was jemand antizipierend einwilligt. Da der Schutzstandard bei Forschungsvorhaben für alle Probanden besonders hoch sein soll, zeichnet sich hier ein kaum aufzulösender Konflikt ab. Nachdem im Bundestag drei Änderungsanträge eingebracht worden sind, ist die geplante Abstimmung über den Gesetzentwurf nunmehr zum zweiten Mal verschoben worden.

Was für Eingriffe schweben den forschenden Medizinern eigentlich vor? Der Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité, Karl Max Einhäupl, der seit Jahren für mehr Forschungsmöglichkeiten auch an Menschen, die nicht mehr einwilligen können, eintritt, nannte kürzlich als Beispiel für vertretbare Eingriffe die Untersuchung von im Rahmen einer Rückenmarkspunktion entnommener Gehirnflüssigkeit. Auch Blutentnahmen sieht er als niedrigschwellige Eingriffe an, die in diesem Zusammenhang erlaubt sein müssten. Dagegen hält er die Entnahme von Hirngewebe für ethisch bedenklich. Tatsächlich ist die Rückenmarkspunktion ein Routineeingriff – was aber keineswegs ausschließt, dass es auch hier, wie selbst bei Blutentnahmen, zu schwerwiegenden Nervenverletzungen oder Infektionen kommen kann, über die vorab konkret aufgeklärt werden müsste. Zudem kann für Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die im Moment des Eingriffs unabhängig von dem, was sie sich einmal vorgestellt haben, weder dessen Sinn verstehen noch dessen Dimension abschätzen können, auch ein eher harmloser Eingriff in hohem Maße belastend sein.

Die gute Nachricht in dieser schwierigen Situation ist, dass mit der erneuten Vertagung die gewonnene Zeit vielleicht genutzt werden kann, um die Grundsatz-Debatte über das Thema zu führen, die der Tragweite der Entscheidung gerecht werden kann. Eine parlamentarische Anhörung wird dafür auf jeden fall erforderlich sein.

 

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