Ein Fall von Rettersyndrom

11.12.2009 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Die Empfehlung des Ethikrates, Babyklappen zu verbieten

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.2009, Nr. 288, S. 34: Ist im Namen des Lebensschutzes alles erlaubt? Als Ultima Ratio wird die Babyklappe verteidigt. Die zum System erhobene Nothilfe durch Rechtsbruch strapaziert den Rechtsstaat.

Die Feststellungen in einem Urteil des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofes lesen sich wie ein Kommentar zu der Frage, mit der sich der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zu Babyklappen befasst hat: Erreichen diese Einrichtungen, dass Kinder am Leben bleiben, die sonst getötet werden würden, oder geben sie Frauen ein Motiv, ihr Kind in fremde Hände zu geben, das sie sonst behalten würden? "Nach der Geburt überlegte die Angeklagte über einen Zeitraum von drei bis vier Stunden unentschieden hin und her, ob sie das Kind umbringen oder behalten solle. Das Aufsuchen eines Krankenhauses oder die Abgabe in eine sogenannte Babyklappe zog sie nicht in Betracht, weil sie glaubte, dass hierbei sie als Mutter des Kindes und Tino H. als dessen Erzeuger bekannt würden. Das wollte sie wegen der befürchteten Vorwürfe ihrer Mutter sowie ihres eigenen Interesses an der wiederaufgenommenen Beziehung zu Enrico W. vermeiden. Als nunmehr das Kind zu schreien begann, nahm sie es auf den Arm und entschied sich dann, es zu töten."

Bischöfinnen, Politiker und Sozialverbände haben die Empfehlung des Ethikrats, die Babyklappen und andere Angebote zur anonymen Geburt aufzugeben, überwiegend kritisch kommentiert. Lebensfremd seien die Empfehlungen, lautete der Tenor. Das Recht des Kindes auf Leben sei ein so hoher Wert, dass dafür eventuelle Nachteile der gegenwärtigen Praxis in Kauf genommen werden müssten. Wie diese Praxis derzeit allerdings aussieht, blieb in den meisten Stellungnahmen unscharf. Aussagekräftige Statistiken gibt es nicht.

Terre des hommes, eine Kinderschutzorganisation, die Klappen kritisch beurteilt, hat auf Basis einer vollständigen Erfassung von Pressemeldungen festgestellt, dass zwischen 1999 und 2009 die Zahl der aufgefundenen Kinder zwar Schwankungen unterliegt, aber sich weder nennenswert verringert noch vergrößert hat: 1999 wurden 21 Kinder tot und dreizehn lebend aufgefunden, 2008 waren es 29 tote Kinder und acht lebende. Auch die Zahl der anonym geborenen oder in Babyklappen ausgesetzten Kinder steht nicht fest, Schätzungen gehen von bis zu 500 Kindern bis 2006 aus.

Die Zahl der Kinder und Mütter, um die es hier geht, ist insgesamt so niedrig, dass sich repräsentative Erhebungen kaum durchführen lassen; etliche Betreiber anonymisierender Angebote wollen zum Schutz ihrer Projekte keine Angaben machen; aufgrund der Anonymität der Verfahren ist auch ein Vergleich, wie sich Frauen verhalten hätten, wenn es Klappen nicht gegeben hätte, nicht möglich. Auch wenn derzeit eine Studie des Familienministeriums in Arbeit ist, die Licht ins empirische Dunkel bringen soll, werden die Aussagen hier immer eine nur begrenzte Reichweite haben.

Der Begründung von Befürworterinnen der Babyklappen, die sie schon zum Schutz des Lebens eines einzelnen Kindes für gerechtfertigt halten, kann man also nicht mit der Behauptung entgegentreten, dass die etwa 130 Babyklappen kein einziges Leben gerettet hätten. Der Ethikrat hat allerdings auf die gravierenden Folgen der Möglichkeiten von geplanter Aussetzung und anonymer Geburt hingewiesen. Diese Handlung und ihre Begünstigung verstößt gegen eine Vielzahl rechtlicher Regelungen, sowohl aus dem Familien- als auch aus dem Personenstands-, aber selbst auch aus dem Strafrecht. Grundlegende Persönlichkeitsrechte von Kindern, Vätern und gegebenenfalls auch Müttern (denn niemand weiß, wer tatsächlich ein Kind in eine Babyklappe gelegt hat) werden durch die Möglichkeit der Flucht in die Anonymität verletzt. Menschen, die nicht wissen, von wem sie abstammen, leiden darunter zeitlebens, ebenso wie Menschen, die ihre Kinder unter Druck weggegeben haben. Gegen das "Ultima Ratio"-Argument wendet die Mehrheit des Ethikrates ein: "Eine ethische Abwägung zwischen dem Lebensrecht und dem Persönlichkeitsrecht eines Kindes zu Lasten des Persönlichkeitsrechts kann dann nicht erfolgen, wenn die postulierte Gefährdung des Lebensrechts bei Nichtvorhandensein der Angebote auf bloßer Spekulation beruht."

Kritisch an dieser Position ist, dass sie in Gefahr gerät, das "Recht auf Identität" beziehungsweise auf "Kenntnis der biologischen Abstammung" zu verabsolutieren: Auch diese Rechte sind abwägungsfähig und sind vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf andere Rechte zutreffenderweise relativiert worden. Lehrreich hinsichtlich der komplizierten Abwägungen, die beispielsweise zwischen rechtlicher Zuordnung zu einer Familie und biologischer Zuordnung zu einem Elternteil zu treffen sind, waren das 2007 beendete Verfahren über Vaterschaftstests und die 1997 getroffene Entscheidung über das Auskunftsrecht des Kindes hinsichtlich seines biologischen Vaters gegen seine Mutter.

Der Streit um die Klappe ist, anders als viele bioethische Auseinandersetzungen, keine Konfrontation zwischen eher technokratischen Verfechtern eines formalisierten Selbstbestimmungsrechts und wertorientierten Exponenten von Leben schützenden Positionen. Vielmehr geht es hier um die Frage, ob der Schutz eines möglicherweise auch nur theoretisch gefährdeten Lebens eines Kindes zwingende Rechtsverstöße und konkrete Gefährdungen anderer Rechte von anderen Kindern und Erwachsenen legitimiert. Zugespitzt treffen hier also rechtsstaatliche Positionen auf eine Haltung von Nothelfern, die im Namen des absolut gesetzten Lebensschutzes für sich reklamieren, tun zu dürfen, was sie für richtig halten, auch ungeachtet konkreter Nachteile für andere, die im gegebenen Kontext als weniger bedeutsam eingestuft werden. Diese Nothelfer wollen aber nicht bloß einmalig tätig werden, sondern haben eine Institution geschaffen, die den Rechtsbruch zur Handlungsgrundlage hat. "In einem Rechtsstaat darf die Entscheidung darüber, ob die vom Staat gesetzte Rechtsordnung, die dem Schutz der Grundrechte aller Menschen dienst, zum Tragen kommt, nicht Personen überlassen werden, die in der Anonymität bleiben wollen." So formuliert es ein Sondervotum des Ethikrates, das dessen Empfehlungen mitträgt.

Die Empfehlungen des Ethikrates erscheinen im Lichte der Spielregeln des Rechtsstaates mindestens vernünftig, geben allerdings, insbesondere mit Blick auf die Bedeutung der gefährdeten Persönlichkeitsrechte, eher einen Impuls für die Debatte, als dass sie diese abschließen könnte. An den bisherigen Stellungnahmen fällt auf, dass sie gerade diesen Punkt kaum aufgreifen. Die Politikerinnen, die dem Rat widersprechen, haben die Möglichkeit, die Gesetze zu ändern und die Rechtswidrigkeit der Arbeitsweise der Babyklappen zu beseitigen. In der Vergangenheit sind entsprechende Vorstöße stets an verfassungsrechtlichen Bedenken gescheitert. Auch das macht das Bedenkliche der gegenwärtigen Praxis deutlich: Was wegen befürchteter Verstöße gegen Grundrechte nicht rechtlich abgesichert werden kann, sollte nicht im Alltag bedenkenlos toleriert werden.

Weiterführende Links

    Stellungnahme des Ethikrates von 2009 | http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-das-problem-der-anonymen-kindesabgabe.pdf
    Das Thema "Babyklappe" in meinem Biopolitik-Blog | http://faz-community.faz.net/search/SearchResults.aspx?q=babyklappe&s=58

 

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