Einheit im Eimer
02.04.1992 | AutorIn: Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie
Veröffentlicht in: Konkret 04 / 92, S. 20
Das waren Schlagzeilen so recht fürs gesunde deutsche Volksempfinden: "DDR-Ärzte ertränkten Neugeborene in Wassereimer". Kommunisten = Kinderfresser. Die öffentliche Empörung war schrill.
Schon nach einigen Tagen aber - die Aussagen der angeblichen Augenzeugin erwiesen sich als eher unwahrscheinlich - wurde die Kampagne gegen die DDR-Neonatologen so plötzlich abgebrochen, wie sie begonnen hatte. Die "Süddeutsche Zeitung" warnte vor "pauschalen Verurteilungen", im "Neuen Deutschland" erklärte ein Kommentator pathetisch, wie "um jedes Frühchen` gerungen worden (ist)", die "FAZ" vermeldete nüchtern, daß die Medizinische Akademie Erfurt dem Thüringer Wissenschaftsministerium einen Bericht vorgelegt habe, der den Behauptungen, daß hier Frühgeburten getötet worden waren, widerspreche, und im "Euthanasie"-Fachblatt "Die Zeit" warnte ein Autor vor den möglichen bevölkerungspolitischen Folgen solcher Enthüllungen.
Was war passiert? Schlug der Journaille endlich das Gewissen ob ihrer Horror-Berichterstattung über Einrichtungen der ehemaligen DDR? Keine Spur. Man wollte lediglich vermeiden, eine Praxis zu skandalisieren, um deren Rechtfertigung man sich zunehmend auch in Westdeutschland bemüht. So wurde denn auch im "Spiegel" kein neues Material nachgereicht, sondern stattdessen der Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber befragt. Der einstige Organisator des alternativen Gesundheitstages hatte erst kürzlich mit einer Eloge auf den Ex-SA-Standartenführer Prof. Dr. med. Wilhelm Heim im Blatt der Berliner Ärztekammer Anschluß ans Vaterland gefunden.
Huber, der sich bereits auf dem Gesundheitstag 1987 in Kassel wortreich für den "Euthanasie"-Arzt Hackethal und gegen die Behindertenbewegung engagiert hatte, nutzte die Gelegenheit zu zeigen, daß er wirklich dazugehört, und propagierte die Selektion behinderter Neugeborener und die sogenannte passive "Euthanasie": "In der Anfangsphase kann ein Neonatologe gar nicht wissen, welche und wie schwerwiegende Behinderungen ein frühgeborenes Kind davontragen wird. Deshalb muß er zunächst alles Mögliche zum Lebenserhalt tun. Aber nach diesem ersten Schritt muß neu entschieden werden - dann, wenn nach allen medizinischen Erkenntnissen absehbar ist, daß dieses Kind auf Dauer nur mit Hilfe von Apparaten am Leben erhalten werden kann."
Zwar soll die Intensiv-Medizin, die das Überleben immer kleinerer Neugeborener ermöglicht, weiterentwickelt werden, um die Geburtenziffern zu erhöhen - die Konsequenz aber, daß es dadurch auch mehr Behinderte gibt, gefällt den Medizinern nicht. Und in ihrem am biologischen Gebrauchswert orientierten Menschenbild unterscheiden sich die meisten Ost-Mediziner leider nicht von ihren West-Kollegen. Deswegen praktizierten und praktizieren viele gesamtdeutsch und blockübergreifend das "Liegenlassen", den Abbruch der medizinischen Behandlung, wenn sie befürchten, daß das Baby schwere Behinderungen davontragen könnte - wobei sich wandelt, was als "schwer" verstanden wird: In den 60er Jahren waren es z.B. Conterganschäden, heute sind es geistige Behinderungen oder "Glasknochen".
Legal ist das, allem Gerede von der angeblichen "Grauzone" zufolge, in der Bundesrepublik nicht - strafrechtlich verfolgt wird diese Tötung durch Unterlassen aber auch nicht. Wie weit diese heimliche "Euthanasie" verbreitet ist, weiß niemand - die vom "Spiegel" 1984 geschätzte Zahl von 1200 Neugeborenen, die pro Jahr in der Bundesrepublik "liegengelassen" würden, dürfte aber heute höher liegen, datiert sie doch auf die Zeit vor Beginn der aggressiven "Euthanasie"-Debatte.
Es gibt jedoch nicht nur diese Form der "Euthanasie". Ärztinnen und Ärzte aus Neugeborenen-Intensivstationen in den alten Bundesländern berichten auch, daß von Fachleuten für Mißbildungsdiagnostik mit Hilfe von Ultraschall-Untersuchungen in der 30. bis 33. Schwangerschaftswoche Schädigungen am Fetus entdeckt werden, die, wie es heißt, nicht mit dem Leben zu vereinbaren seien. Das könne ein Potter-Syndrom (zahlreiche Zysten in den Nieren, der Leber und der Bauchspeicheldrüse) oder auch ein schwerer Herzfehler sein. Die Diagnostiker raten dann zur "vorzeitigen Entbindung" - tatsächlich wird der Fetus entbunden, damit er stirbt. Aus juristischen Gründen wird zwar ein Neugeborenen-Notarzt zu diesen "Frühgeburten" hinzugezogen - eingreifen darf er aber nicht.
1986 haben Experten (es waren tatsächlich nur Männer) auf Einladung der offiziösen Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht versucht, die Nichtbehandlungs-Praxis in bundesdeutschen Krankenhäusern zu vereinheitlichen. Ergebnis waren die sogenannten "Einbecker Empfehlungen" über die "Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen". "Bei der Ausrichtung der Tagung", so ist es im Protokoll nachzulesen, "stellte sich anfangs die Frage, ob wir betroffene Eltern mit einladen sollten". Das herrschaftliche "wir" schließt Richter am Bundesgerichtshof, hohe Ministerialbeamte, mehrere Ordinarien von Uni-Kliniken, Theologie-Professoren und Bundesverfassungsrichter ein - also alle, die nötig sind, Voraussetzungen für eine Tötungs-Praxis zu schaffen, die (noch) nicht gesetzlich fixiert werden sollen. Die Eltern wurden nicht geladen. "Wir haben bewußt darauf verzichtet. Die zu erwartende und verständlicherweise emotional geführte Diskussion wäre um der Sache willen nicht hilfreich gewesen und hätte eine sachliche Abfassung des Arbeitspapiers erschwert." Daß die Juristen, Mediziner und Theologen nicht einmal in Erwägung gezogen haben, Behinderte hinzuzuziehen, versteht sich da beinahe von selbst - war doch "die Sache", die sie zur Entscheidung bringen wollten (und brachten), nichts anderes als deren Leben.
Dieses schien den Diskutanten wenig wert zu sein. Der Richter am Bundesgerichtshof Jähnke beispielsweise qualifizierte das "Prinzip der Gleichwertigkeit des (menschlichen) Lebens" gleich zu Beginn der Veranstaltung als bloß "formaler Natur", der Frankfurter Kinderarzt Prof. von Loewenich überlegte, wie dick der Hirnmantel bei Kindern mit einem Hydrozephalus sein müsse, damit eine Therapie noch sinnvoll erscheine: "Bei zwei Zentimetern bleibt wenig übrig, was noch einer Therapie zugänglich wäre", und der Kinderchirurg Prof. Holschneider meinte: "Man muß sich fragen: Welche Lebensspanne will man eigentlich als sinnvoll erachten?"
Im dritten Abschnitt der abschließenden Empfehlungen geben die einflußreichen Feinde behinderten Lebens zu bedenken: "Die gezielte Verkürzung des Lebens Neugeborener durch aktive Eingriffe verstößt gegen die Rechts- und ärztliche Berufsordnung." Daran anschließend formulieren sie allerdings Kriterien, die dem Arzt das Verbotene nahelegen sollen: das Leben Neugeborener durch Unterlassen von medizinisch gebotener und möglicher Behandlung zu verkürzen - z.B. "wenn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrung... es trotz der Behandlung ausgeschlossen ist, daß das Neugeborene jemals die Fähigkeit zur Kommunikation mit der Umwelt erlangt". Der Begriff der "Kommunikationsfähigkeit", der lebensentscheidend werden kann, wird nicht definiert. Daß als Beispiel für eine Schädigung, die die Kommunikation unmöglich machen soll, "Mikrozephalus" (ein zu kleiner Kopfumfang, der mit geistiger Behinderung einhergeht) angeführt wird, deutet aber darauf hin, daß "Kommunikationsfähigkeit" hier einseitig auf den Intellekt bezogen, konventionelle Normalitätsvorstellungen bestätigend gemeint ist.
Die "Einbecker Empfehlungen" sollten ursprünglich veröffentlicht werden. Die Experten haben darauf dann allerdings doch lieber verzichtet. Erst 1989 hat ein "Panorama"-Beitrag die Öffentlichkeit über ihre Existenz informiert. In Fachdiskussionen sind die "Einbecker Empfehlungen" allerdings immer wieder aufgegriffen und zustimmend zitiert worden. Vor allem die Tatsache, daß etliche der 20 Unterzeichner als verantwortliche Ärzte in Universitätskliniken wirken und als Professoren lehren, spricht dafür, daß sie auch in die Praxis umgesetzt werden. Von BRD-Ärzten.
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