Ethik als Expertenwissenschaft

03.08.2001 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Medizinethik allgemein

Universitas 8/2001

Gerade weil die Ethik so flexibel auf die neuen Entwicklungen der Wissenschaft reagiert und der Gesellschaft, wie sie ist, Antworten geben kann ohne sie transzendieren zu müssen, besteht erheblicher Bedarf. Während Fichte noch formulieren konnte, dass sich "das Moralische von selbst verstehe", sind heute nämlich angesichts der neuen medizinischen Möglichkeiten und der nach mehr Kontrolle strebenden Lifestyle-Konzepte, Lösungen gefragt, die sich vom Bestand des intuitiv für Richtig Befundenen, des aufgrund langer kultureller Entwicklungen allmählich Gewachsenen rasant entfernen.

"Wie sollen wir leben?" ist eine der Grundfragen der abendländischen Philosophie. Sie signalisiert auch schon in welches Spannungsfeld man sich in der Auseinandersetzung mit ihr begibt. Über das was ein gutes Leben ausmacht müssen sich die Menschen, die das "Wir" bilden verständigen - zugleich gibt jeder auch eine Antwort praktisch und für sich allein. Dass sich Experten einer solchen Problemstellung annehmen ist also keineswegs selbstverständlich - und doch hat es die Fachleute für Fragen des richtigen Lebens immer gegeben. Allerdings ging es in der klassischen Moralphilosophie nur selten um die Klärung eines konkreten Konflikts in der Praxis, sondern überwiegend um die Erkundung der Prinzipien, wie man das Sein am Sollen orientiert. Die Moralphilosophie hat lange abgedankt und an ihre Stelle ist die moderner wirkende Ethik getreten - ein Wechsel nicht nur der Begriffe. In der klassischen Moralphilosophie ging es vor allem um das Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft, um die Schwierigkeit die Glücksvorstellungen des Einzelnen mit gesellschaftlichen Normen in Übereinstimmung zu bringen. Die Bezeichnung "Ethik" ist vom altgriechischen Ethos abgeleitet, ein Begriff, der mit Wesen oder Eigenart übersetzt werden kann. Theodor Adorno hat darauf hingewiesen, dass mit der Abwendung von der als zu einengend empfundenen Moral und der Hinwendung zur offener wirkenden Ethik ein entscheidender Perspektivwechsel einherging: "Es steckt darin, dass, wenn man nur seinem eigenen Ethos, seiner eigenen Beschaffenheit nach lebe, wenn man, wie man so schön sagt: sich selbst verwirklichen oder wie diese Phrasen alle lauten mögen - dabei schon das richtige Leben herauskomme."

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Entwicklung der Biomedizin, um ihre Bewertung und die Frage, ob Forschung eingegrenzt werden soll und wenn ja, wie und in welchem Maße, entfaltet dieser Perspektivwechsel seine eigentliche Brisanz. Denn der wissenschaftliche Fortschritt, der ermöglichen soll über den Menschen selbst zu verfügen, kann (und soll) durch eine Ethik, die auf einen eigenen, auch normativ geprägten Begriff vom richtigen Leben verzichtet, nicht in, wie auch immer vorgezeichnete, Bahnen gelenkt werden.

Dass Ethik gerade mit dem Erfolgder Biowissenschaften einen enormen Aufschwung genommen hat und in den Kliniken, in Forschungszentren, bei der Bundesärztekammer und künftig wohl auch im Bundeskanzleramt institutionalisiert wird, bildet zu dieser Feststellung keinen Widerspruch. Gerade weil die Ethik so flexibel auf die neuen Entwicklungen der Wissenschaft reagiert und der Gesellschaft, wie sie ist, Antworten geben kann ohne sie transzendieren zu müssen, besteht erheblicher Bedarf. Während Fichte noch formulieren konnte, dass sich "das Moralische von selbst verstehe", sind heute nämlich angesichts der neuen medizinischen Möglichkeiten und der nach mehr Kontrolle strebenden Lifestyle-Konzepte, Lösungen gefragt, die sich vom Bestand des intuitiv für Richtig Befundenen, des aufgrund langer kultureller Entwicklungen allmählich Gewachsenen rasant entfernen: Embryonen zu erzeugen, um bestimmte Zellen züchten zu können, Menschen, die Reflexe haben und durchblutet sind Organe zu entnehmen um sie anderen einzupflanzen, Schwangerschaften abzubrechen, weil der Fetus unerwünschte Eigenschaften hat oder Menschen im Wachkoma verhungern zu lassen mag angesichts von großen Hoffnungen in zukünftige Therapien, von Ressourcenknappheit oder dem Wunsch nach einer Gemeinschaft der Fitten als richtiges Handeln begründet werden können, von selbst versteht es sich keinesfalls.

Ethiker können hier Gründe dafür finden, warum der Intuition eine Absage erteilt werden muß - und sie tun es. Die Absage an die als überkommen betrachteten Moralvorstellungen, die in der christlich-jüdischen Tradition des Abendlands wurzeln und als deren Kulminationspunkt die Vorstellung von der "Heiligkeit des Lebens" bezeichnet wird, gehört nicht nur für Peter Singer zu den Grundlagen der modernen Bioethik.

Die Ethik, die sich selbst gern als praktische Ethik charakterisiert, kann insofern jetzt auch in einem überwiegend mit ausgewiesenen Vertretern des Pragmatismus besetzten Gremium wie dem Nationalen Ethikrat eine passende Wirkungsstätte finden: Politikberatung verlangt nach Effizienz und nicht nach allgemeine Reflexion mit offener Themensetzung und ohne festgelegten Ausgang. Ethik wird dort als Expertenwissenschaft verankert. Dass der Kanzler dem Rat aufgegeben hat vor allem Informationen zu sammeln und aufzubereiten, dann erst die Moral zu diskutieren, ist einerseits, charakterisiert andererseits aber genau dieses Verständnis von Ethik als Expertenwissenschaft. Ihr wird damit die Autorität der Institutionalisierten verliehen, sie schafft dafür Legitimation durch Diskurs und Verfahren. "Wir denken", das ist die beruhigend gemeinte Botschaft der Ethikkommissionen, "auch an die Probleme". Was wir für richtig halten, soll auch als "gut" begründet werden können. Das hat als Nebenwirkung, dass was den Ethikern nicht in den Blick gerät, auch der Gesellschaft meistens nicht als ethisches Problem erscheint. Debatten über die für den Wissenschafts-Standort sich unwichtigen ethischen Prinzipien zum Erhalt der Autonomie von pflegeabhängigen Menschen oder über ethische Grenzen des elterlichen Sorgerechts mit Blick auf geschlechtszuweisende Operationen bei Intersexuellen, die den Therapievorstellungen der Medizin zuwiderlaufen könnten, stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung.

Die mit der Institutionalisierung einhergehende Delegation der als bedeutsam wahrgenommenen Krisen, Konflikte und Probleme an die Ethiker nimmt den unmittelbar Beteiligten, den Eltern, den Ärzten, den politischen Entscheidungsträger, die Angst an den Problemen, die sich ihnen stellen, zu scheitern. Immer mehr Akteure können sich eine ethische, und das heisst hier eine auch von vielen anderen akzeptierte Lösung präsentieren lassen. Ethik-Beratung führt so auch zur Entlastung der Menschen, sie müssen, folgen sie den Empfehlungen, in immer geringerem Maße selbst die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, denn sie können auf das Beratungsergebnis der Gremien und Kommissionen verweisen, die empfohlen haben, die Behandlung abzubrechen, die erlaubt haben, den therapeutischen Versuch durchzuführen oder die der Verwendung embryonalen Gewebes zustimmten.

Angesichts des durch technologische Weiterentwicklung wachsenden Entscheidungsdrucks droht allerdings auch die Situation der Menschen prekär zu werden, die sich für etwas entscheiden wollen, was den Vorschlägen der Ethik-Experten und den Erfordernissen der Biomedizin nicht entspricht. Der soziale Druck, den schwangere Frauen erleben, die sich dem pränatalen Screening nach eventuellen genetischen Besonderheiten des Fetus entziehen wollen oder die immder drängender werdenden Forderungen für fremdnützige Medizin-Forschung auch auf Menschen, die nicht selbst einwilligen können, zugreifen zu können, lassen aufscheinen, wie sich die Verhältnisse entwickeln können. Die Menschen, die auf Sie werden zunehmend in die Enge gedrängt werden. Institutionalisierte, entscheidungsnahe Ethik-Beratung tendiert so auch dazu, den Konformitätsdruck zu erhöhen.

Als Alternative zu dieser Entwicklung wäre eine Aneignung der bioethischen Probleme durch die Gesellschaft wünschenswert. Ein Beispiel dafür wie es gehen könnte hat die ehemaligen Gesundheitsministerin Andrea Fischer mit einem bislang einmalig gebliebenen Projekt geliefert: Bei aller berechtigten Kritik im Detail hat die von ihr im Frühjahr 2000 als großer Ratschlag angelegte Konferenz über Fragen der Fortpflanzungsmedizin für einige Tage eine Debatte zustande gebracht, auf der die ethischen und naturwissenschaftlichen Experten nur Publikum oder Sachverständige unter anderen waren. Sie mussten sich mit Betroffenen direkt, und nicht als Antwortende vom Podium herab, auseinandersetzen. Das war konfliktreich. weniger eingängig, kaum übersichtlich und nicht ergebnisorientiert, damit aber dem, worum es in einer Auseinandersetzung über die Grundfragen gehen müßte, mit denen die Gesellschaft und die Vereinzelten konfrontiert sind, näher als die Präsentation von Stellungnahmen eines Zentralen Ethikrates.

 

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