Euthanasie statt Sterbehilfe?

02.10.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

In Europa sind die Befürworter der Freigabe einer Tötung auf Verlangen im Kommen

Publik-Forum Oktober 2003: Was verbindet die Initiative des Schweizer Europarats-Abgeordneten Marty für Euthanasie mit dem Ermittlungsverfahren der Hannoveraner Staatsanwaltschaft gegen eine Ärzten wegen angeblich überhöhter Schmerzmittel-Dosierungen?

Patientenautonomie und Lebenspflicht - an diesen beiden Schlagworten haben sich in der Euthanasie-Debatte der letzten Jahre die ggroßen Fraktionen polarisiert. Dabei geht es in der Auseinandersetzung um die medizinische Behandlung am Lebensende meist um ein so komplexes Geschehen, dass es von so schablonenhaften Positionsbestimmungen gar nicht erfasst werden kann. Das zeigt eindrucksvoll der Anfang Oktober von den Medien aufgegriffene Fall der Hannoveraner Internistin, der seitens der AOK Niedersachsen "ärztliches Fehlverhalten" vorgeworfen wird, das möglicherweise den vorzeitigen Tod von 76 Patienten zur Folge hatte. Das Spannungsfeld von Schmerztherapie, ärztlicher Aufklärungspflicht, Patientenautonomie, Kostendämpfung und Verständnis von Lebensqualität, das sich hier auftut zeigt, dass es in der Euthanasie-Debatte um viel mehr geht, als um die Frage "Sterbehilfe - ja oder nein?".

Die Ärztin, der mittlerweile das Verwaltungsgericht Hannover auf Grund eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen die Approbation entzogen hat, soll vor allem Krebspatienten so hohe Dosen Morphium und den Valium-Wirkstoff Diazepam verabreicht haben, dass sie schließlich daran starben. Manche dieser Patienten sollen ausweislich des Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen dabei noch eine Lebensperspektive von etlichen Monaten gehabt haben. Die Ärztin selbst bestreitet, dass sie gezielt getötet habe. Ihr sei es bei der Behandlung allein um die Linderung von Schmerzen gegangen. Aufgrund dieser Aussagen der Ärztin haben manche Medien, aber auch Ärzteverbände die Auseinandersetzung zwischen Ärztin und Ortskrankenkasse als Ergebnis eines Schulenstreits um die angemessene Schmerztherapie bewertet.

Tatsächlich ist gegenwärtig noch wenig erforscht, welche Folgen hochwirksame Schmerzmittel auf den menschlichen Organismus haben, insbesondere wenn er sich, wie im Fall schwerer Krankheiten, in einem Extremzustand befindet. Immerhin signalisieren die Ergebnisse neuerer Studien, dass der menschliche Körper viele Schmerzmittel in weitaus höheren Dosierungen verkraftet, als ehedem angenommen. Das ist deswegen wichtig, weil eine vorsichtige und deswegen zu niedrige Dosierung von Schmerzmitteln den letzten Lebensabschnitt von schwer kranken Patienten zur Qual machen - und damit auch der Forderung nach Freigabe selbst von aktiver Patiententötung Nachdruck verleihen kann. Eine Studie des Arbeitskreises Tumorschmerztherapie kam vor kurzem zu dem bedrückenden Ergebnis, dass nur etwa die Hälfte der 250.000 Tumorschmerzpatienten in Deutschland eine ausreichende Schmerzbehandlung erhalten - dabei geht es allerdings nicht nur um Fragen der richtigen Dosierung, auch die Zusammenstellung der Wirkstoffe und die Art der Verabreichung haben erheblichen Einfluss. Die Versorgung von Schmerzpatienten ist auch in anderen europäischen Ländern unzureichend - Studien weisen für die Niederlande, Belgien und Frankreich ähnlich schlechte Werte auf. Lediglich in Großbritannien erfährt die auf Linderung der Leiden statt auf Heilung setzende Palliativmedizin mehr Beachtung und Unterstützung. Im US-Bundesstaat Oregon, wo ein Sterbehilfegesetz verabschiedet wurde, haben Patientenvereinigungen und Gesundheitspolitiker mittlerweile radikalere Wege beschritten und Ärzte wegen Vernachlässigung der Schmerzbehandlung erfolgreich verklagt - mit dem Ergebnis, dass Palliativmedizin ein vielbesuchtes Fach in der ärztlichen Aus- und Fortbildung ist.

So weit es im Rahmen dieser Auseinandersetzung auch um Kostenfragen geht - das verabreichte Morphium ist eine kostspielige Substanz - ist allerdings festzustellen, dass die entsprechenden Leistungen und ihre Honorierung in einem Katalog festgelegt sind, der für alle Krankenkassen verbindlich ausgehandelt wurde. Da auch der Medizinische Dienst kein Unternehmen der AOK Niedersachsen alleine ist, spricht hier wenig dafür, dass eine Krankenkasse um Kosten zu senken die angemessene Therapie untersagen wollte.

Das Gutachten des Medizinischen Dienstes enthält im Übrigen auf Grundlage der Falldokumentation in den Patientenakten Fakten, die zumindest aufhorchen lassen. Von einem 52jährigen Patienten wird dort berichtet, der mit Speiseröhrenkrebs und Metastasen im Gehirn, aber schmerzfreiem, stabilem Allgemeinzustand eingeliefert wurde und nach 16 Tagen tot war, ohne dass palliative Behandlungsschritte dokumentiert worden wären, die das Leben des Patienten noch deutlich hätten verlängern können. Auch bei einer 63jährigen Frau, die mit einer Gürtelrose in die Paracelsusklinik kam, sei nach dem Auftreten zusätzlicher Lungenprobleme nicht etwa in eine spezialisierte Klinik mit Intensivstation überwiesen, sondern lediglich eine Schmerztherapie begonnen worden, an deren Wirkungen die Frau schließlich verstorben sei.

Die Ärztin selbst hat mittlerweile eingeräumt, dass die Dokumentation der Krankheitsgeschichten unvollständig sei und - merkwürdigerweise - eher die tatsächlichen Verhältnisse beschönigt habe. Zu dem Vorwurf, sie habe in vielen Fällen ihre Patienten nicht über die "Nebenwirkung Tod" ihrer Schmerzbehandlung aufgeklärt, hat sich die Ärztin bislang nicht geäußert. Da gegen sie unterdessen von der Staatsanwaltschaft Hannover auch ein Strafverfahren eingeleitet wird, sagt das allerdings wenig aus: Angeschuldigte haben das Recht zu schweigen und grundsätzlich ist es auch sinnvoll sich mit Äußerungen zurückzuhalten, so lange noch keine Anklage formuliert bzw. das Verfahren eingestellt ist.

Wie auch immer die Verhältnisse im konkreten Fall in Hannover aber liegen, die Ereignisse machen deutlich, dass die tatsächlichen und Verfahrensfragen eine mindestens genauso große Bedeutung haben können, wie die Frage nach der Gesetzeslage. Ob Schmerzmittel in ausreichend hohen Dosierungen verabreicht werden, ob lebensverlängernde palliative Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und ob Patienten oder ihre Vertreter in der erforderlichen Weise umfassend über alle möglichen Wirkungen einer intensiven Schmerztherapie und eventuelle Alternativen aufgeklärt worden sind, ist unabhängig davon zu klären, ob bzw. in welchem Umfang das Gesetz Sterbehilfe zulässt.

Bezeichnenderweise lag der Grundsatzentscheidung, mit der der Bundesgerichtshof die tödlich wirkende Schmerztherapie als legal beurteilt hat, wenn die Schmerzbekämpfung anders nicht möglich ist, ein Fall zugrunde, bei dem die wirklichen Probleme ganz anders verortet waren. Ein Arztehepaar brachte eine alte Frau, auf deren Erbe sie spekulierten und deren Testament der Mann sogar gefälscht hatte, trotz ihres lebensbedrohlichen Zustandes nicht in die Klinik, weil sie dringend Geld benötigten und hofften, dass die alte Frau schnell stürbe. Als der plötzliche Tod nicht eintrat die Schmerzen der Patientin aber größer wurden, erhöhten sie die Schmerzmitteldosierung immer weiter - und beendeten so schließlich das Leben der alten Frau.

Dieses Beispiel zeigt, wie möglicherweise auch die Hannoveraner Fälle, dass am Lebensende oftmals eine Gemengelage von sich überschneidenden Motiven, von denen zudem manche gut und akzeptabel, andere dagegen ethisch verwerflich sein können, die Behandlung beeinflusst. Die Patienten jedenfalls sind in diesem Stadium Angehörigen, Pflegepersonal und Ärzten weitgehend ausgeliefert. Wie hier der wünschenswerte Schutz für Patienten erreicht werden kann, ist völlig unklar - und wird in der gegenwärtigen Debatte auch allenfalls am Rande gestreift.

Zwar hat die Bundesjustizministerin Zypries im September unter Vorsitz des ehemaligen Richters am Bundesgerichtshof Klaus Kutzer eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die beratschlagen soll, wie die "Patientenautonomie am Lebensende" sichergestellt werden soll. Der Abschlussbericht soll im kommenden Frühjahr vorliegen. Aber der Fokus ist hier, wie überhaupt in der medizinethischen Diskussion der letzten Jahre, auf die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen gerichtet. Es geht darum, das staatliche Interesse am Lebensschutz zurückzudrängen um dem Individuum rechtlich größere Entscheidungsspielräume über sein Leben zu eröffnen - und da die gegenwärtigen Regelungen den Lebenserhalt ins Zentrum rücken, heißt "Eröffnung von Entscheidungsspielräumen" immer: dass neue Möglichkeiten eröffnet werden sollen, den Tod herbeizuführen. Die realen Konfliktsituationen, Interessen und Machtkonstellationen, die am Lebensende regelmäßig vorliegen und die, angesichts der Abhängigkeit und Verwundbarkeit schwer kranker Menschen, deren Autonomie geradezu ausschließen, werden in diesem Zusammenhang nur selten erörtert.

Eine Ausnahme bildet paradoxerweise die Schweiz, deren medizinischer Alltag durch eine äußerst liberale Handhabung einer gesetzlichen Lage gekennzeichnet ist, die der in Deutschland weitgehend entspricht. Während in Deutschland aber Ärzte und nicht medizinisches Personal strafrechtlich wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz verfolgt werden, wenn sie Menschen so große Mengen an Barbituraten zukommen lassen, dass sie sich damit selbst umbringen können, ergreifen die Schweizer Behörden keine derartigen Schritte. Ergebnis dieser Praxis ist, dass immer mehr Menschen aus anderen europäischen Staaten in die Schweiz reisen, um sich dort mithilfe von Sterbehilfeorganisationen zu töten. Die Schweizer Behörden, die jeden dieser Todesfälle untersuchen, auch wenn sie kein Verfahren einleiten wollen, haben in der Vergangenheit feststellen müssen, dass mehrfach Ausländer in der Schweiz zu Tode gekommen sind, die entweder Depressionen hatten oder wegen einer Alzheimerschen Erkrankung keineswegs in der Lage waren, selbstverantwortliche Entscheidungen über ihren Tod zu treffen. Deswegen müht sich insbesondere die Zürcher Staatsanwaltschaft, jetzt den Sterbetourismus in die Schweiz einzudämmen. In diesem Zusammenhang ist die prekäre, oftmals hilflose Lage von Menschen in einer schweren krankheitsbedingten Krise oder angesichts einer nur noch knapp bemessenen künftigen Lebenszeit öffentlich wiederholt diskutiert worden. Ohne dass damit allerdings auch nur alle Schweizer von der Problematik einer so weitgehenden Freigabe von Sterbehilfe hätten überzeugt werden können.

Ein liberaler Schweizer Politiker, der sich in der Vergangenheit sonst eher durch den Ruf nach weitreichenden polizeilichen Ermächtigungen einen Namen gemacht hat, der ehemalige Staatsanwalt Dick Marty, hat als Berichterstatter des Ausschusses für Gesundheits- und Sozialfragen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, bislang recht erfolgreich versucht, einen grundsätzlichen Kurswechsel vorzunehmen. In seinem Bericht, vom Gesundheitsausschuss mit knapper Mehrheit angenommenen Bericht, hat er dem Europarat empfohlen, sich für die Legalisierung auch der aktiven Sterbehilfe nach niederländischem Vorbild in den Mitgliedstaaten auszusprechen. Der ebenfalls für Fragen der Sterbehilfe zuständige Rechtsausschuss hat allerdings, konsequent auf der bisherigen Linie des Europarates argumentierend, den Schutz des Lebens ins Zentrum seiner Empfehlungen gestellt und die Legalisierung aktiver Sterbehilfe abgelehnt. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates, die über beide Empfehlungen Ende September diskutieren und entscheiden wollte, hat die Debatte bis auf weiteres vertagt. Das Thema, das in den letzten Wochen auf unterschiedlichen Ebenen so oft für Schlagzeilen gesorgt hat, bleibt allerdings eines der brisantesten auf der gegenwärtigen politischen Tagesordnung in den Industrienationen.

Weiterführende Links

    Der Bericht des Schweizer Politikers Marty (Englisch) | http://assembly.coe.int/Main.asp?link=http://assembly.coe.int/Documents/WorkingDocs/Doc03/EDOC9898.htm

 

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