Florida ist nicht so weit

25.10.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Der Fall Terry Schiavo und die deutschen Verhältnisse

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2003, Nr. 248 / Seite 37: In Florida gab es vor knapp zwanzig Jahren eine engagierte Kontroverse über Bedeutung und Reichweite von Patientenverfügungen. Die Konfliktlinien verliefen ähnlich wie gegenwärtig in Deutschland. Der Fall Schiavo ist auch ein Ergebnis des Ausgangs der Debatte.

Eltern, die gerichtlich gegen den Schwiegersohn vorgehen, ein Ehemann, der mit seiner Geliebten lebt, eine knappe Million Dollar und ein Gouverneur, der Bruder des Präsidenten ist und mit einem Eilgesetz die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen aussetzt - die nunmehr eskalierte Auseinandersetzung um das Leben von Terri Schiavo (F.A.Z. vom 23. Oktober) hat alle Ingredienzen für eine große Tragödie. Es ist auch kein Zufall, daß Schauplatz des Dramas Florida ist, der amerikanische Bundesstaat, in dem Sterbehilfe aufgrund der besonderen Altersstruktur (viele Rentner nehmen dort ihren Ruhesitz) ein besonders brisantes Thema ist. Aber die speziellen Aspekte des Falles können nicht verdecken, daß der zugrunde liegende Konflikt, ob und unter welchen Bedingungen es zulässig sein kann, den Tod eines Menschen gezielt herbeizuführen, auch in Deutschland auf der Tagesordnung steht. Ein Fall, in dem die Auffassungen der Angehörigen über die Wünsche eines einwilligungsunfähigen Menschen auseinandergehen und die Auffassungen der Ärzte über Zustand und Perspektiven des Patienten geteilt sind, würde auch unser Rechtssystem vor erhebliche Probleme stellen.

Florida hat Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre hinter sich gebracht, was das Bundesjustizministerium hier mit der Einrichtung der vom ehemaligen BGH-Richter Klaus Kutzer geleiteten Arbeitsgruppe zur Schaffung von Regelungen zur Sicherung der "Patientenautonomie am Lebensende" (F.A.Z. vom 14. Oktober) begonnen hat. Im Umfeld der gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Fortführung der Behandlung bei Estelle Browning, einer Frau, die nach einem Schlaganfall im Alter von sechsundachtzig Jahren allenfalls zeitweise bei Bewußtsein war und künstlich ernährt werden mußte, gestaltete Florida seine Gesetzgebung um und traf detaillierte Regelungen für Patientenverfügungen und die Verfahrensweise bei deren Fehlen, vor allem für Fälle, in denen sich Patienten im Wachkoma befinden.

Im Zusammenspiel mit den Prinzipien, die die Rechtsprechung entwickelt hat, ist in Florida für einen zum Tode führenden Behandlungsabbruch erforderlich, daß der Patient sich im Sterben befindet oder unheilbar erkrankt ist und sich in einer sogenannten "end-stage-condition" befindet. Zudem müssen überzeugende Beweise dafür vorgetragen werden, daß der Patient, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, sich gegen eine Weiterbehandlung und für den Tod entschieden hätte. Verfügungen, die vorab für bestimmte Fälle den Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung regeln oder vorsehen, daß sie gar nicht erst aufgenommen wird, gelten als klarer und überzeugender Beweis für diese Vermutung. Eine solche Verfügung muß schriftlich in Anwesenheit zweier Zeugen, von denen einer kein naher Angehöriger sein darf, abgefaßt worden sein.

Fehlt, wie im Fall Terri Schiavos, eine solche Verfügung, müssen andere Beweise gesucht werden, die dem "substituted judgement", das der mutmaßlichen Einwilligung im deutschen Recht nahekommt, zugrunde gelegt werden können. Eine Ausnahme wird lediglich bei Patienten gemacht, die sich im Wachkoma befinden. Wenn sich keine Anhaltspunkte dafür finden, wie die Patienten in solch einer Situation selbst entscheiden würden, kann in Absprache mit einem Ethik-Komitee die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr abgebrochen werden, wenn das im besten Interesse des Patienten ist.

Damit ist die gesetzliche Situation in Florida in zentralen Punkten derjenigen ähnlich, die viele mit Medizinrecht befaßte Juristen auch in Deutschland herbeiführen wollen. Der Fall Schiavo zeigt allerdings, daß diese Regelung Schwachpunkte an entscheidender Stelle hat. Terri Schiavo hatte, wie die meisten Menschen, keine Patientenverfügung verfaßt und auch sonst in ihrem Leben wenig darüber geredet, wie sie im Fall einer schweren Behinderung behandelt oder nicht behandelt werden wollte. In dem Verfahren vor dem Betreuungsgericht vertraten der Ehemann von Terri Schiavo, der bereits mit einer anderen Frau liiert war, und ihre katholische Familie ganz unterschiedliche Auffassungen über Frau Schiavos mutmaßlichen Willen, was sie mit Erinnerungen an einzelne Gespräche zu belegen versuchten. Da auch die fünf Ärzte, die im Verlauf der zahlreichen Verhandlungen als Gutachter hinzugezogen wurden, kontroverse Auffassungen darüber hatten, ob Terri Schiavo nun im Wachkoma liegt oder nicht, war die Rechtsgrundlage, auf die sich Richter George W. Greer stützen konnte, unklar - und damit auch die Frage, ob eine Entscheidung im sogenannten besten Interesse Terri Schiavos erfolgen konnte oder ob es auf ihre gemutmaßte individuelle Sicht ankommen würde. Diese diagnostische Unsicherheit resultierte auch daraus, daß die beiden streitenden Seiten als Hauptgutachter jeweils Mediziner benannt hatten, die für ihre dezidierten Positionen in der Euthanasie-Debatte bekannt sind, ohne daß sie über eine entsprechende wissenschaftliche Reputation verfügt hätten.

Angesichts der gegensätzlichen Vorträge der Parteien entschied sich das Betreuungsgericht schließlich "eingedenk der Tatsache, daß Medizin keine exakte Wissenschaft ist", für die Lösung, die es für plausibler hielt: Terri Schiavo befindet sich demnach im Wachkoma, und es gibt, auch wenn das manche medizinische Experten anders sehen, keine hinreichende Sicherheit, daß eine Therapie ihre Lebensqualität nachhaltig verbessern könnte. Zusätzlich stellte der Betreuungsrichter fest, daß in seiner Sicht die von Terri Schiavos Ehemann vorgelegten Beweise eine überzeugende Grundlage für die Annahme böten, daß die Patientin in dieser Situation nicht mehr leben wollte. Die gegenteiligen Behauptungen der Familie blendete er weitgehend aus. Ähnlich argumentierte auch das Revisionsgericht: Es betonte mehrfach, daß zwar Zweifel in einem solchen Verfahren stets dazu führen müßten, daß für den Erhalt des Lebens entschieden werde, billigte dann aber dem Betreuungsrichter zu, daß er keinerlei Zweifel gehegt haben müsse, weil die Beweise für Terri Schiavos Wünsche klar und überzeugend seien.

Nach der brachialen, aber lebensrettenden Intervention des Gouverneurs ist der Ausgang des Falls Schiavo wieder offen. Für die deutsche Diskussion lassen sich aus den Ereignissen in Florida vor allem zwei Erkenntnisse ziehen: Die Entwicklung der Rechtsvorschriften darf nicht ohne eine Diskussion geführt werden, wie Gerichte sie dann wohl anwenden würden. Dazu hat sich hierzulande noch niemand Gedanken gemacht. Außerdem zeigt der Fall Schiavo, daß die Rede von Selbstbestimmung von Menschen, die sich selbst nicht mehr artikulieren können, reine Fiktion ist. Sie wird zum Konstrukt, das allein darauf beruht, welche Sichtweise diejenigen, die Zeugnis für die angebliche Überzeugung eines Patienten ablegen, auf das vergangene und gegenwärtige Leben des betroffenen Menschen haben.

 

Zurück zur Übersicht