Freiheit bitte billig

02.12.1989 | AutorIn:  Theresia Degener, Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: konkret 12 / 89, S. 61

Zwangssterilisation wird legalisiert, der als "Euthanasie" verbrämte Mord an behinderten Neugeborenen breitenwirksam diskutiert, jetzt bereiten die Sozialbehörden im reformfreudigen Westberlin und im schwarzen Bayern ein Asylierungsprogramm für Behinderte vor. Aus Kostengründen.

"Sehr geehrte Frau .... Wie bereits besprochen, ist die Übernahme der Kosten für eine Hauspflege von 116 Stunden wöchentlich nicht möglich. Bei einem so hohen Pflegeaufwand erscheint eine Unterbringung in einem Heim sinnvoller. Da das jedoch ihrem verständlichen Wunsch, möglichst engen Kontakt zu ihrem Kind zu halten, widerspricht, schlagen wir folgenden Kompromiß vor: Wir übernehmen die Kosten für die häusliche Pflege in der Höhe, die entstehen würde, wenn das Kind in einem Heim untergebracht werden würde. ... Wie Sie in dem Gespräch mitteilten, werden Sie ab 15.8.89 eine Arbeit aufnehmen, bei der Sie auch Nachtdienste verrichten müssen. Nach einer Übergangsphase von ca. drei Monaten werden wir Sie auffordern, sich mit Ihrem Einkommen an den genannten Kosten zu beteiligen".

Der "Kompromiß", den das Bezirksamt Schöneberg im rot-grünen Westberlin der Mutter eines neun Jahre alten behinderten Mädchens anbietet, dürfte die Herzen der Konservativen "Hilfe zur Selbsthilfe"-Propagandisten höher schlagen lassen: Der Frau, die bisher unentgeltlich die Pflegearbeit geleistet hat, wird klargemacht, daß die Aufnahme einer Arbeit für sie nur Nachteile bringen und sich eh nicht lohnen würde, da das Einkommen für die Deckung der Pflegekosten herangezogen werden wird; die hohen Kosten, die bei einer ambulanten 24 Stunden Pflege entstehen, werden nicht übernommen. Trotzdem wird das Kind nicht direkt ins Heim gezwungen, sondern, menschenfreundlich, der Mutter die Option gelassen, den nicht finanzierten Teil der Pflege weiterhin selbst zu übernehmen.

Aber selbst dieses kritische Verständnis verharmlost noch die reale Dimension des Vorgangs. In dem Bescheid werden die Entwicklungslinien konservativer Sozialpolitik aufs geschickteste so miteinander verknüpft, daß eine Menschenrechtsverletzung im vergleichsweise biederen Gewand einer einfachen Sparmaßnahme daherkommt: Einen Menschen, weil er in erheblichem Maße pflegeabhängig ist, aus der freigewählten Umgebung zu reißen, in eine Einrichtung zu zwingen, deren festgelegtes und einengendes Reglement eher an einen Knast als an ein zu Hause erinnert, wäre einer Anordnung vergleichbar, derzufolge Sozialhilfeempfänger künftig kein Wohngeld mehr erhielten, sondern sich stattdessen in Lagern einzufinden hätten.

Die Verantwortlichen des Bezirksamts Schöneberg sind keine Einzelkämpfer. Sie wirken als Trendsetter in der seit einigen Monaten entwickelten Initiative von Sozialhilfeträgern, die Grundrechte behinderter Menschen auf ein kostengünstiges Minimum zu trimmen. Auch das Bezirksamt Neukölln und die Landeshauptstadt München haben versucht, Behinderte, die 24 Stunden Pflege pro Tag benötigen und zu Hause leben, ins Heim zu zwingen: "Wir erteilen Ihnen dementsprechend die Auflage, sich ernsthaft um einen für sie geeigneten Platz in einer Einrichtung zu bemühen". Diese bürokratische Initiative wird in der nächsten Zeit die Justiz beschäftigen. Auf die drohenden Bescheide der Sozialbehörden haben einige der Betroffenen mit Widersprüchen reagiert, in Einzelfällen sind Klagen eingereicht worden, und das Bayerische Verwaltungsgericht München hat bereits ein erstes Urteil in einer vergleichbaren Angelegenheit gesprochen: Danach muß die Landeshauptstadt München die Kosten für die 24stündige ambulante Pflege von Rudolf S. auch weiterhin übernehmen. Anlaß zur Beruhigung ist dieser Richterspruch allerdings nicht: Die Sozialbehörde wurde zur Zahlung der ambulanten Pflege lediglich deswegen verpflichtet, weil sie Rudolf S. keinen angemessenen Heimplatz nachweisen konnte und "sich die Beklagte bislang nur sehr oberflächlich mit der Problematik der Versorgung des Klägers auseinandergesetzt hat". Das wird sich in absehbarer Zeit ändern: Die Münchner Sozialamts-Leitung hat mittlerweile vom einflußreichen "Deutschen Verein für öffentliche und soziale Fürsorge" ein Gutachten angefordert und erhalten, das Vorschläge unterbreitet, wie sich künftig "die finanziellen Folgelasten (aus dem Wunschrecht des Hilfeempfängers) begrenzen (lassen)".

Tatsächlich geht es in dieser Auseinandersetzung allerdings um sehr viel mehr als um ein juristisches Problem, bei dem hingenommen werden könnte, daß es auf der Basis der im Bundessozialhilfegesetz vorgesehenen Einzelfallprüfung gelöst wird. Ein kurzer Blick zurück auf die Auseinandersetzungen um Heim- und ambulante Pflege scheint sinnvoll. 1981, im berüchtigten UNO-Jahr der Behinderten, klagten Gruppen aus der Behindertenbewegung auf dem "Krüppeltribunal" "Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat" an. Erster Anklagepunkt: Heime. Vorwurf: Ruhe und Ordnung, keineswegs aber der Mensch, stehen in den Anstalten im Mittelpunkt, die individuellen Interessen werden notwendig in den institutionellen Rahmen gepreßt. Schlußfolgerung: Heime gehören abgeschafft. "Heim geh ein ! " wurde auf mehreren Kundgebungen und Demonstrationen gegen Pflegeheimneubauten gefordert.

Etliche Gruppen engagierten sich in den folgenden Jahren im Aufbau ambulanter Dienste, die die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben schafften und oft genug Leuten die Möglichkeit gaben, sich aus Heimen herauszuklagen. Die Modernisierungswilligen unter den Sozialpolitikerinnen und Sozialpolitikern griffen, unter dem Beifall der Öffentlichkeit, diesen Ansatz auf: Vorrang der offenen, ambulanten vor der institutionellen Hilfe ist seitdem sogar Gesetz. Stutzig machte schon damals allerdings die Argumentation der ungebetenen, aber die öffentliche Diskussion beherrschenden Unterstützer. Ambulante Pflege, stellten sie fest, sei kostengünstiger als die stationäre Unterbringung Behinderter. Der entsprechende Paragraph 3a wurde deswegen auch nicht zufällig im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 ins Bundessozialhilfegesetz eingefügt. Im gleichen Gesetzentwurf wurde auch festgeschrieben, daß der "Träger der Sozialhilfe ... Wünschen nicht zu entsprechen (braucht), deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre." Bis zu diesem Zeitpunkt hatte noch nachgewiesen werden müssen, daß die Mehrkosten "unvertretbar" seien.

Jetzt, wo es noch lange nicht allen, aber doch wenigstens einigen pflegeabhängigen Menschen gelungen ist, sich die Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Lebens zu erkämpfen, schlägt die Sozialbürokratie zurück. Eine menschenwürdige ambulante Pflege ist ihr gerade so lange recht ,= wie sie billig ist und Leuten dient, die möglicherweise noch ins Arbeitsleben eingegliedert werden können. Jetzt, wo immer mehr Behinderte ihr Grundrecht auf selbstständiges Leben einfordern, wo ambulante Hilfsdienste Wohnmodelle für geistig Behinderte einrichten und die Institution Heim insgesamt nicht nur theoretisch, sondern zunehmend auch praktisch in Frage gestellt wird, versucht die Bürokratie, diese Entwicklung zu stoppen und die von ihren Maßnahmen Betroffenen zu selektieren: hier die Menschen mit "leichten" Behinderungen, die Anspruch auf ambulante Pflege und "Integration" haben, dort die "schwer" Behinderten, denen nicht mal ein Minimum an Freizügigkeit zugestanden wird. Die Grenzziehung zwischen beiden Gruppen folgt Kosten- und Verwertungsgesichtspunkten, die Definitionsmacht liegt bei den Sozialbehörden.

Gelingt es den Bürokratien im schwarzen Bayern und im reformfreudigen Westberlin, das unauffällig in den Gesetzestexten verpackte Asylierungs-Programm umzusetzen, werden sie nicht die einzigen bleiben. In Hessen beispielsweise werden in den nächsten Jahren 1.100 Heimplätze neu geschaffen, während ambulante Hilfsdienste dort finanziell durch Verzögerung von Zahlungen für Zivildienstleistende, Sperrung von Zuschüssen und langwierige Bewilligungsverfahren systematisch in Schwierigkeiten gebracht werden.

Menschenrechte, das muß den juristischen Winkelzügen und Argumentationen entgegengehalten werden, sind nicht aus Kostengründen zu suspendieren. Und sie dürfen nicht für einen wie eng auch immer begrenzten Personenkreis sogenannter Schwerstbehinderter außer Kraft gesetzt werden - wenn sie es werden, ist das weder ein "Behindertenproblem", noch ein Anzeichen für die "Normalisierung" der bundesdeutschen Politik, sondern ein Indikator für die Brutalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die mit zu hohen Kosten einer ambulanten Pflege begründete Aufforderung, sich einen Heimplatz zu besorgen oder im Heim zu bleiben, hat den Charakter einer Zwangseinweisung: Gerichtet ist sie individuell gegen die einzelnen selbständig lebenden Behinderten wie gegen Behinderte als gesellschaftliche Gruppe insgesamt. Sie steht damit im Kontext (und betrifft in etlichen Fällen wohl auch den gleichen Kreis von Menschen) der Wiedereinführung der Zwangssterilisation und der Infragestellung des Selbstbestimmungs- und Lebensrechtes Behinderter, wie sie exemplarisch der australische "Euthanasie"-Theoretiker Peter Singer propagiert.

In der Auseinandersetzung mit den Mordphantasien Singers ist ein Aktionsbündnis von Behindertengruppen, Frauengruppen und Antifa-Initiativen zustande gekommen, das ein entscheidender erster Schritt hin zu weitergehenden politischen Interventionen ist, dem aber notwendig weitere folgen müssen. So richtig es nämlich ist, wenn "Euthanasie"-Theoretiker wie Singer in der BRD keine Chance bekommen, öffentlich aufzutreten, so erfreulich wir es finden, wenn Anthropologen, wie kürzlich in Bremen geschehen, die Jahrestagung ihres reaktionären Berufsverbandes absagen, weil sie Angst vor unserer Protesten haben, so wenig ist gewonnen, wenn gleichzeitig die Sozialbehörden und Verwaltungsjuristen unspektakulär und unbemerkt, aber folgenreich die Isolierung und Zwangsbehandlung einer gesellschaftlichen Gruppe betreiben können, wie es derzeit in Westberlin und München versucht wird. For further information: call your local cripple resistance group.

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