Gleiche Rechte, gleicher Richter
03.03.2008 | AutorIn: Dr. Oliver Tolmein | Recht
Antidiskriminierungsrecht in feindlicher Umgebung
Die Bilanz, die VerfechterInnen einer Politik der Nicht-Diskriminierung oder sogar Gleichbehandlung in Deutschland, ziehen können ist zumindest mit Blick auf die neuen Gesetze beeindruckend: Von der Einführung des Benachteiligungsverbots für Menschen mit Behinderungen in Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes über das SGB IX als Teilhabegesetz, Landesgleichstellungsgesetze in allen 16 Bundesländern (und das Bundesgleichstellungsgesetz auf Bundesebene) bis zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, wurden in den letzten zehn Jahren zahlreiche neue Regelungen geschaffen, die Barrierefreiheit im Alltag, Verkehr und bei den Behörden versprechen, die benachteiligungsfreie Einstellung und berufliche Förderung von Menschen mit Behinderungen garantieren sollen, die das Recht auf Gleichbehandlung bei zivilrechtlichen Verträgen und bei Versicherungsabschlüssen schützen – und schließlich auch Teilhabe am allgemeinen gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Mittlerweile ist, auf starken Druck auch der Bundesrepublik Deutschland sogar eine UN-Menschenrechtskonvention für Behinderte geschaffen worden, deren Einhaltung durch ein Individualbeschwerdeverfahren gesichert werden kann - die allerdings gerade von Deutschland auch noch nicht ratifiziert worden ist.
Dass die meisten dieser Regelungen, die Menschen mit Behinderungen wenigstens gleiche Rechte versprechen, ihren Ursprung im europäischen Antidiskriminierungsrecht haben oder – wie das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen – in der Tradition internationaler Übereinkommen stehen, erscheint angesichts dessen wenig problematisch. Es erweist sich in der Umsetzung der Rechte allerdings als Problem, dessen sinnfälliger Ausdruck die sich über Jahre ziehende Debatte über die Umsetzung der Anti-Diskriminierungs-Richtlinie 2000/78/EG ins deutsche Recht war, die Deutschland nicht nur ein verlorenes Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinie eingebracht hat , sondern aktuell auch eine förmliche Aufforderung, das AGG nachzubessern, damit es den Anforderungen der Richtlinie entspricht.
Im Zuge der Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie ist in Stellungnahmen juristischer Organisationen – vom Richterbund bis zum Anwaltverein- aber auch seitens vieler Rechtswissenschaftler deutlich geworden, dass der Gedanke des Benachteiligungsverbots und des Gleichstellungsgebots in Deutschland gegenwärtig nur eine schwache Lobby hat. Antidiskriminierungsvorschriften drohen daher ins Leere zu laufen, zumal die einzelnen Gesetze die Rechte – anders als beispielsweise entsprechende Regelungen in anderen europäischen Staaten – keine zentralen Institutionen vorsehen, die Musterverfahren führen könnten. Auch die Verbandsklagerechte sind eher schwach ausgestaltet, so dass Voraussetzung für einen Rechtsstreit, mit dem eine benachteiligende Praxis abgeschafft werden soll, in erster Linie immer noch ein Individuum ist, das bereit und kräftemäßig aber auch finanziell in der Lage ist, einen entsprechenden Rechtsstreit zu führen.
Begrenzte Reichweite der Gesetze
Aber schon die Reichweite der Gesetze, die Menschen mit Behinderungen vor Benachteiligungen schützen, ist begrenzt.
Gleichstellungsgesetze und Defizite
Die Landesbehindertengleichstellungsgesetze und das Bundesbehindertengleichstellungsgesetz regeln in erster Linie den Abbau von Zugangs- und Kommunikationsbarrieren im Verhältnis BürgerInnen – Verwaltung. Außerdem enthalten sie Vorschriften über die Herstellung von Barrierefreiheit in den Bereichen Bau und Verkehr. Oftmals wurden in Zusammenhang mit der Einführung der Gleichstellungsgesetze auch Vorschriften der jeweiligen Bauordnungen angepasst. Außerdem wurde das Gaststättengesetz verändert, das allerdings an Relevanz verloren hat, da im Zuge der Förderalismusreform die Zuständigkeit für die Gaststätten-Gesetzgebung in die Verantwortung der Länder gefallen ist. Die Abschaffung der Kommunikationsbarrieren für blinde und gehörlose Menschen wird durch Verordnungen konkretisiert, die der Verwaltung aufgeben, wo und wie sie Kommunikationsbarrieren zu beseitigen hat.
Ein erhebliches Defizit ist, dass die Gleichstellungsgesetze den Bereich der Schule weitgehend ausgespart haben. Zwar müssen Schulen in den Bundesländern aufgrund geänderter bauordnungsrechtlicher Vorschriften im Fall eines Neu- oder erheblichen Umbaus rollstuhlgerecht gebaut werden. Das Recht auf Verwendung der Deutschen Gebärdensprache (DGS), das hörgeschädigten Menschen im Umgang mit der Verwaltung eingeräumt wird, haben sie in der Schule aber nicht. Tatsächlich gibt es in der gesamten Bundesrepublik auch keine einzige Schule, die hörbehinderten Menschen ermöglicht ausschließlich in DGS, ihrer Muttersprache, unterrichtet zu werden. In Regelschulen werden im Allgemeinen auch keine Gebärdensprachdolmetscher bezahlt, so dass hier der Weg in gemeinsame Schulen weitgehend versperrt ist, auch wenn er tapferen EinzelkämpferInnen im Prinzip offen steht. Nicht anders ist es mit Universitäten, aber beispielsweise auch Strafvollzugsanstalten: Ein umfassender Anspruch auf Kommunikationshilfen, die den von den Institutionen geschaffenen Hürden Rechnung tragen würden, ist nicht begründet worden. Gerichte unterstreichen diesen Missstand, wenn sie beispielsweise einem gehörlosen Zimmermann attestieren, er habe gar keinen Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher, die ihm ermöglichen würden, sein Studium zum Innenbauingenieur zu absolvieren, weil eine Zweitausbildung das Maß des sozialhilferechtlich Notwendigen überschreiten würde (Sozialgericht München S 53 SO 571/06).
Aber auch im Kernbereich der Regelungen zeigen sich gravierende Defizite. Der Anspruch blinder Menschen darauf, dass Ihnen Dokumente in Brailleschrift zugänglich gemacht werden besteht nur zur Wahrnehmung eigener Rechte im Verwaltungsverfahren. Gleiches gilt auch für den Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher für gehörlose Menschen. Beratungen sind damit nicht notwendigerweise umfasst, genauso wenig beispielsweise die Erstellung einer Brailleschrift-Broschüre über das Kindergartenangebot oder die Übersetzung der Diskussionen beim Elternabend. Einen Anspruch auf Texte in leichter Sprache für Menschen mit Lern- oder geistigen Behinderungen gibt es erst gar nicht. Das bislang größte Verfahren in diesem Bereich, die Klage des BVKM gegen die Deutsche Bundesbahn, die einen bislang barrierefrei zugänglichen Bahnhof mit Bahnsteigen ausgestattet hatte, die mit dem Rollstuhl nicht mehr befahren werden konnten, weil keine Fahrstühle eingebaut worden waren, endete 2006 vor dem Bundesverwaltungsgericht mit einer spektakulären Niederlage der Kläger: Der Bahn wurde zugute gehalten, dass sie überfordert würde, wenn sie bei jedem Neu- oder Umbau zwingend, ausnahmslos und in baldiger Frist einen barrierefreien Zugang zu allen Bahnsteigen herstellen müsste.
Bemerkenswert ist angesichts der verbreiteten Barrieren im baulichen und kommunikativen Bereich, dass die Landesbehindertengleichstellungsgesetze und das entsprechendes Bundesgesetz wenig genutzt werden und bislang erst zu wenigen dutzend veröffentlichten Entscheidungen geführt haben.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
Das zur Umsetzung der Richtlinie 2000/78/EG beschlossene AGG ist kein Gesetz, das ausschließlich die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung untersagt. Auch die Benachteiligung wegen des Alters, wegen der ethnischen Herkunft, wegen des Geschlechts, wegen der sexuellen Orientierung und der Weltanschauung bzw. der Religion sind dadurch verboten. Kern des Gesetzes ist das Verbot der entsprechenden Diskriminierungen im Arbeitsleben, das AGG reicht aber weiter in den zivilrechtlichen Bereich hinein und verbietet auch eine schlechtere Behandlung im Rahmen des Abschluss von Massenverträgen, wozu auch Miet- und Versicherungsverträge gehören.
Im Zuge der langjährigen Diskussion um dieses Gesetz wurde seitens der zahlreichen Kritiker die Gefahr des Zurückdrängens der Privatautonomie als Grundlage des deutschen Vertragsrechts beschworen und vor einer enormen Klagewelle gewarnt. Tatsächlich hat es auch hier seit Inkrafttreten des Gesetzes nur vergleichsweise wenige Verfahren gegeben, die überdies in vielen Fällen nicht zum Erfolg geführt haben. Die mit wenig Kompetenzen und Sachmitteln ausgestattete Antidiskriminierungsstelle des Bundes gibt an, dass lediglich 0,1 % der bei den Landesarbeitsgerichten anhängigen Verfahren AGG-Fälle betreffen. Die Erfolgsquote der Verfahren liegt ebenfalls eher niedrig. Was weniger damit zu tun hat, dass wir es hier mit einem „AGG-Hopping durch Schwerbehinderte“ zu tun hätten, wie die einflußreiche „Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht“ (NZA) Ende 2007 zu vermelden wusste, sondern dass die Beweislastverteilung in § 22 AGG hohe Hürden errichtet. Eine Chance hat nur, wem es gelingt, dass er “Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen“. Wann das allerdings gelungen ist, sehen Gerichte durchaus unterschiedlich. Weder die Tatsache, dass ein Konzern die Beschäftigungsquote nicht erfüllt, noch dass er Behinderte einer ganz bestimmten Gruppe gar nicht eingestellt hat, nicht, dass jemand alle Voraussetzungen einer ausgeschriebenen Stelle gut erfüllt und diese dennoch sechs Monate immer neu ausgeschrieben wird, weder dass das Unternehmen nicht barrierefrei zugänglich ist, noch dass es von vornherein klarstellt, es könne keine Arbeitsassistenten zulassen, werden von Gerichten zwingend als solche Indizien bewertet. Bleibt die Beweislast für den Nachweis der Benachteiligung aber beim betroffenen Behinderten, hat er keine Chancen – oftmals weiß er gar nicht, wer die Stelle tatsächlich bekommen hat, noch wie dessen Qualifikation tatsächlich ist.
Ähnliches gilt für die Fälle des allgemeinen Zivilrechts, die Benachteiligungen bei Vermietungen, im Rahmen des Reiserechts oder beim Abschluss von Versicherungen zum Gegenstand haben und die – zumindest soweit aus veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich - noch weitaus seltener sind. Das mag zum einen daran liegen, dass hier die Kosten durchschnittlich höher als in arbeitsgerichtlichen Verfahren sind, gleichzeitig sind die Rechtsschutz-Möglichkeiten in Ermangelung von Gewerkschaften, weitaus niedriger.
Rückgriff auf Art 3 Abs. 3 Grundgesetz
So lange es, wie beispielsweise im Schulrecht, aber auch im Sozialrecht, keine speziellen Einzelgesetze gibt, auf die sich benachteiligte Menschen stützen können, um gegen ihre Benachteiligung vorzugehen, kann der Rückgriff auf Art 3 Abs. 3 Satz 2 GG erforderlich sein: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ In der Regel wird der Rückgriff so geschehen, dass bestehende gesetzliche Regelungen im Licht des Grundrechts ausgelegt werden, vereinzelt kann auch unter allerdings engen Bedingungen versucht werden, das Grundrecht direkt anzuwenden – ein Verfahren, das allerdings in den unteren Instanzen wenig Wirkung zeitigen: hier gilt die Priorität des geschriebenen und tradierten Gesetzes in verschärftem Maße.
Exemplarisch für die begrenzte Reichweite dieser Möglichkeiten ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1997, die damals nach knapp zweijährigem Rechtsstreit (also ungewöhnlich schnell) ergangen war, und mit der ein behinderter Schüler für sein Recht auf Beschulung in einer Regelschule kämpfte – im Ergebnis vergeblich. Das Bundesverfassungsgericht befand damals –und hat diesen Rechtssatz bis heute nicht korrigiert: „Die Überweisung eines behinderten Schülers an eine Sonderschule gegen seinen und seiner Eltern Willen stellt nicht schon für sich eine verbotene Benachteiligung im Sinne des Art 3 Abs 3 Satz 2 GG dar. Eine solche Benachteiligung ist jedoch gegeben, wenn die Überweisung erfolgt, obwohl eine Unterrichtung an der allgemeinen Schule mit sonderpädagogischer Förderung möglich ist, der dafür benötigte personelle und sächliche Aufwand mit vorhandenen Personal- und Sachmitteln bestritten werden kann und auch organisatorische Schwierigkeiten und schutzwürdige Belange Dritter der integrativen Beschulung nicht entgegenstehen.“ (BVerfG 1 BvR 9/97)
Die Kriterien dieser Entscheidung sind auch heute noch die Eckpunkte der deutschen Rechtsprechung, die sich mit der Benachteiligung Behinderter befasst: Der Benachteiligungsbegriff wird eng gefasst – Sonderinstitutionen, seien das Heime, Werkstätten für Behinderte oder Schulen, gelten nicht per se als nicht-inklusiv oder aussondernd, sie stehen daher auch nicht unter besonderen Begründungszwängen; Nicht-Benachteiligung steht unter einem Kosten- und Aufwandsvorbehalt, organisatorische Belange können eine erhebliche Rolle spielen und die Aufhebung einer Benachteiligung verhindern und schließlich werden schutzwürdige Belange Dritter anerkannt, die einer Inklusion oder einem gegen Diskriminierung gerichteten Vorgehen entgegenstehen können. Benachteiligung darf also – insoweit zivilisiert das Recht die gesellschaftlichen Verhältnisse – nicht unbegründet und willkürlich erscheinen, von „guten Gründen“ getragen allerdings hat Benachteiligung auch heute noch gute Chancen weit mehr als nur Bestandsschutz zu genießen. Ihre Abwehr ist auch durch das neue, von der EU aufgezwungene Recht, keineswegs zum Zweck an sich geworden, auch nicht zum Indikator für eine gute Entwicklung der inneren Struktur der Gesellschaft. Sie ist ein Anliegen allenfalls mittlerer Priorität und mit zahlreichen Grenzen – immerhin, im Vergleich zur rechtlichen Lage behinderter Menschen und auch anderer Minderheiten vor zwanzig Jahren ist das schon ein beachtlicher Schritt nach vorn.