Grundlegende Informationen zur Menschenrechtskonvention

04.08.2005 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

In welchem Umfeld steht die kommende Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen?

Menschen - Das Magazin 2005

Demnächst wollen die Vereinten Nationen eine neue, die sechs Menschenrechtskonvention beschließen: Nach den Frauen, Kindern und Bürgerrechten kommen die Behinderten.

Sechs Menschenrechtskonventionen gibt es bislang, die im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelt worden sind: die Bürgerrechts-, die Sozial-, die Rassismus-, die Frauen-, die Kinder- und die Folterkonvention. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass in naher Zukunft eine weitere, die siebte Menschenrechtskonvention Wirklichkeit werden könnte, die speziell die Rechte der 600 Millionen Menschen mit Behinderungen auf der Welt wahren soll. Vor die Verabschiedung einer internationalen Menschenrechtskonvention haben die Vereinten Nationen allerdings Geduld und grandiosen Durchhaltewillen in der Detailarbeit gesetzt. Zwanzig Treffen im Verlauf von knapp zehn Tagen haben die Mitglieder der Delegationen in anlässlich ihrer letzten, der 5. Sitzungsperiode zwischen dem 24. Januar und 4. Februar 2005 abgehalten um dem im Dezember 2001 von der Generalversammlung mit einer Resolution verkündeten Ziel einer Menschenrechtskonvention für Behinderte näher zukommen. Und, teilweise parallel dazu, teilweise ergänzend wurden informelle Treffen anberaumt, die kritische Diskussionen vorbereiten und Kompromisslösungen ausloten helfen sollten. Es war die Fünfte Sitzungsperiode, die sechste folgt am Ende dieses Sommers und von dem 25 Artikel umfassenden Entwurf für die geplante Konvention sind gerade mal 14 diskutiert worden. Auf dem kommenden Treffen wird Artikel 15 im Mittelpunkt stehen, der das Spannungsfeld von „Unabhängig leben und an der Gesellschaft teilhaben“ zum Gegenstand hat. Das Thema ist brisant, regelt Artikel 15 in der gegenwärtigen Fassung doch unter anderem, dass Menschen mit Behinderungen nicht gezwungen werden dürfen in Heimen oder einem anderen Wohnumfeld mit bestimmten Regeln zu leben. Dieses grundlegende Selbstbestimmungsrecht ist im neuen deutschen Sozialgesetzbuch 12 keineswegs mehr selbstverständlich gegeben – und in der Tat haben deutsche Verwaltungsgerichte in der Vergangenheit schon vereinzelt angeordnet, dass Behinderte in Heimen leben müssen, weil die ambulant erbrachte Assistenz und Pflege zu teuer wäre. Gerade der im Entwurf des Artikels 15 festgeschriebene Grundsatz, dass Selbstbestimmung und Autonomie nicht durch die Begrenzung finanzieller Ressourcen eingeschränkt werden dürfen, ist von Entwicklungsländern im Vorfeld der anstehenden Diskussion kritisiert worden. Indien beispielsweise macht geltend, sich eine flächendeckende ambulante Versorgung für seine möglicherweise 100 Millionen Einwohner mit Behinderungen nicht leisten zu können.

Auch andere Bestimmungen des Konventionsentwurfes haben Zwang, der auf Behinderte ausgeübt zum Thema und wenden sich in verschiedenen Zusammenhängen gegen die erzwungene Einweisung in Einrichtungen. Artikel 11 beispielsweise, der in der Fünften Sitzungsperiode Anfang dieses Jahres ausführlich debattiert wurde, verbietet „Folter und grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ von Menschen mit Behinderungen. Damit knüpft die Vorschrift an die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen an und macht deutlich, dass das dort festgeschrieben Folterverbot auch für Behinderte gilt. Wichtiger ist aber wohl, dass der Entwurf der Menschenrechtskonvention für Behinderte konkretisiert, wo die besondere Gefährdung dieser Gruppe von Menschen liegt. Dass Behinderte nicht unmenschlich oder grausam behandelt werden, sollen die Vertragsstaaten vor allem dadurch sicherstellen, dass sie medizinische Versuche an Menschen mit Behinderungen verbieten und Behinderte vor solchen Versuchen auch schützen, es sei denn, sie haben freiwillig und nach ausführlicher Aufklärung über Ziel und Art der Behandlung ihre Einwilligung gegeben. Damit stellt sich dieser Entwurf der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen gegen das Menschenrechtsabkommen zur Biomedizin des Europarates, das unter bestimmten Voraussetzungen auch fremdnützige medizinische Experimente an Menschen erlaubt, die nicht einwilligen können.

Die Konvention der Vereinten Nation geht aber an einer entscheidenden und für das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen noch deutlich weitere. Sie verlangt von den Staaten, Behinderte besonders vor zwangsweise durchgeführten Behandlungen oder Einweisungen in Einrichtungen schützen, die darauf zielen ihre Einschränkungen zu behandeln oder ihren Zustand zu verbessern.

Damit signalisiert der Konventionsentwurf, dass Behinderung nichts ist, was in erster Linie behandelt, therapiert oder eliminiert werden soll. Die Anerkennung von Differenz ist zwar im gegenwärtig vorliegenden Entwurf bislang nicht ausdrücklich als Recht ausformuliert, sie gehört aber zu den grundlegenden Voraussetzungen für das Leben Behinderter, die durch die Konvention auch anerkannt werden. Menschen mit Behinderungen mögen sich anders verständigen und bewegen, sie mögen anderes und anders wahrnehmen als andere – und daran sollen allenfalls sie selber etwas ändern dürfen, wenn sie es denn wollen. In der Debatte über diesen Artikel hat als Beispiel für eine erzwungene Behandlung die Zwangssterilisation eine wichtige Rolle gespielt, der auch heute noch viele behinderte Frauen ausgesetzt werden.

In der recht kontrovers geführten Diskussion zeichnet sich ab, dass in diesen heiklen Fragen auch die Staaten, die den Konventionsentwurf gegenwärtig beraten keineswegs einig sind. Einer Reihe von Staaten, darunter auch Kanada und Irland geht die Ablehnung erzwungener Maßnahmen in der Entschiedenheit, wie sie gegenwärtig den Konventionsentwurf prägen, zu weit. Sie halten eng gefasste Ausnahmeregelungen, die durch entsprechende Verfahrensregelungen abgesichert werden sollen, für erforderlich. Die EU hat in einem eigenen Formulierungsentwurf ein ganzes Paket von Ausnahmen geschnürt, in dem auch die Überlegung enthalten ist, dass erwzungene medizinische Maßnahmen im „besten Interesse“ von Behinderten sein können. Der Zusammenschluss von Behindertenorganisationen, die an der Erarbeitung der Konvention beteiligt sind, der „International Disability Caucus“ hat diesen EU-Vorstoß scharf als „paternalistisch“ kritisiert.

Noch grundsätzlicher verläuft die Debatte über Artikel 9, der die gleiche Anerkennung von Behinderten als Personen im Recht verlangt. Dabei geht es unter anderem um das Vormundschafts- und Betreuungsrecht, das in fast allen Staaten der Erde erlaubt, dass Menschen mit Behinderungen durch andere Menschen vertreten werden. Auch wenn die Voraussetzungen unter denen das geschieht und das Ausmaß dieser Fremdvertretung unterschiedlich geregelt sind, kritisieren Behindertengruppen diese Form der Fremdbestimmung. Frühzeitig verlangten sie, dass der Konventionsentwurf den Paradigmenwechsel von einem auf Fremdbestimmung setzenden Vormundschaftsrecht zu einem Konzept der unterstützten Entscheidungsfindung vollzieht. An die Stelle eines Betreuers, der Rechte von Menschen mit Behinderung an deren Stelle wahrnimmt, sollen Assistenten treten, fordert der „International Disability Caucus“ in seinem Strategiepapier: „Ein Mensch mit Lernschwierigkeiten braucht möglicherweise Hilfe beim Lesen oder um seine Aufmerksamkeit auf eine Entscheidung, die getroffen werden muss, zu konzentrieren. Eine Person, die sich nicht mit Sprache verständigen kann, könnte jemanden haben, der non-verbale Äußerungen, wie zustimmende oder ablehnende Reaktionen, übersetzt.” Der gegenwärtige Entwurf des Artikels 9 versucht dieses anspruchsvolle und innovative Konzept wenigstens ansatzweise in rechtliche Terminologie zu bringen – ein Projekt, das bei entsprechender Lobbyarbeit erhebliche Auswirkungen auf das Behindertenrecht in den Nationalstaaten haben könnte.

Durch die direkte Beteiligung von Behindertengruppen und ihren Expertinnen und Experten an der Debatte, ist diese vielen parlamentarischen Gesetzesvorhaben auf nationaler Ebene weit voraus. Die Menschenrechtskonvention für Behinderte kann so schon bevor sie beschlossen ist, auf dem langen Weg ihrer Entstehung wichtige Impulse für die behindertenpolitische Auseinandersetzung vor Ort geben. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass auch außerhalb der Vereinten Nationen vermittelt wird, warum und worüber an diesem Projekt diskutiert und gestritten wird.

 

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