Heime müssen künstliche Ernährung nicht abbrechen

14.02.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.02.2003, Nr. 38 / Seite 33

Das OLG München hat Heimen ein Verweigerungsrecht eingeräumt. Sie müssen Pflegebedürftige nicht durch Abbruch der künstlichen Ernährung töten nur weil Ärzte oder Angehörige es wollen.

Heime können nicht gezwungen werden, schwerstbehinderte Bewohner durch einen eventuell von Ärzten, Betreuern oder auch dem Vormundschaftsgericht angeordneten Abbruch der künstlichen Ernährung zu töten. Das ist das Ergebnis des Rechtsstreits zwischen einem bayrischen Heim und dem Vater und Betreuer eines nach einem Selbstmordversuch 1998 im Wachkoma liegenden siebenunddreißigjährigen Mannes, der vom Oberlandesgericht München nun abschließend entschieden wurde. Das Urteil ist beachtenswert, weil es in diesem in der bundesdeutschen Gerichtspraxis einmaligen Fall eine klare Grenze für das gezogen hat, was Einrichtungen auferlegt werden kann, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Leben ihrer Bewohner zu bewahren und nicht deren Tod herbeizuführen.

Das Recht, sich der Mitwirkung an der Tötung von Patienten durch Unterlassen von gebotener künstlicher Ernährung zu verweigern, ist für den Alltag in Heimen mittlerweile nicht mehr nur von theoretischer Bedeutung. In den letzten Jahren hat, angestoßen durch ein Urteil des Ersten Strafsenats des Bundesgerichtshofs, die Vorstellung, es könnte richtig sein, das Leben schwerstbehinderter Menschen durch Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen zu beenden, zu einer Fülle entsprechender Verfahren vor den Vormundschaftsgerichten geführt, von denen die meisten Menschen betreffen, die in Einrichtungen leben.

Auch im vorliegenden Fall steht das Ergebnis der vormundschaftsrichterlichen Entscheidung, ob es überhaupt zulässig ist, das Leben des Mannes, der nicht im Sterben liegt, durch Eingriffe von außen zu beenden, noch aus. Das Landgericht Traunstein wird sie in den nächsten Wochen treffen. Dabei sollten sich die Richter der entscheidenden Kammer vergegenwärtigen, was der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München jetzt in seiner Entscheidung deutlich formuliert hat: Der beabsichtigte Abbruch der künstlichen Ernährung bei Wachkoma-Patienten, die eine Lebensperspektive von vielen Jahren haben können, ist eben nicht "sogenannte passive Sterbehilfe", wie bisweilen beschönigend behauptet wird.

In der seit nunmehr acht Jahren in der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis heftig und kontrovers geführten Auseinandersetzung um die Herbeiführung des Todes bei Menschen, die in den Abbruch lebenserhaltender Behandlungen nicht einwilligen können, ist dieses Verfahren nicht im Zentrum angesiedelt. Es hat aber dennoch große Bedeutung. Zum einen fällt auf, daß in den entsprechenden Rechtsstreitigkeiten häufiger Mitarbeiter von Pflegeeinrichtungen, die täglich mit den Patienten befaßt sind, gegen die Anordnung eines tödlichen Ernährungsabbruchs auftreten. Das mit den ökonomischen Interessen der Heimbetreiber zu erklären griffe zu kurz. Plausibler erscheint, daß gerade im täglichen Umgang mit Schwerstbehinderten deren Mensch-Sein anders und intensiver wahrgenommen wird, zumal die Pflegenden im Gegensatz zu den Angehörigen nicht immer wieder an das Zusammenleben erinnert werden, wie es vor der Behinderung war.

Des weiteren wird durch dieses Verfahren daran erinnert, was es tatsächlich heißt, das Leben eines unterstützungsbedürftigen Menschen gezielt durch wochenlangen Entzug lebensnotwendiger Nahrung zu beenden. Wie sich daran zeigt, geht die in diesem Zusammenhang üblich gewordene Argumentation, der Entzug der künstlichen Ernährung sei Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten, von einer falschen Sichtweise des zur Entscheidung stehenden Konflikts aus. Der Mensch, um dessen Leben es hier geht, kann eben, weil er sich im Wachkoma befindet, gerade nicht mehr selbst bestimmen, welche Behandlung er auf sich nimmt und welcher Behandlung er sich verweigert. Er kann es sowenig, wie er die Konsequenzen dessen, was entschieden wird, selbst tragen könnte. Anders als ein Mensch, der sich erhängt oder vom Hochhaus stürzt, muß ein Patient, der durch Nahrungsentzug sterben darf oder soll, von anderen zu Tode gepflegt werden.

Das OLG München hat in seiner Entscheidung diesem Problem, wenn auch nur ansatzweise, Rechnung getragen, indem es darauf hingewiesen hat, daß das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, wie auch immer es genau gefaßt wird, durch den Heimvertrag eingeschränkt werden kann - und im vorliegenden Fall eingeschränkt worden ist. Die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts in grundlegenden persönlichen Angelegenheiten durch Vertrag, die in anderen Fällen wohl als sittenwidrig und unwirksam qualifiziert werden müßte, ergibt hier, da das Selbstbestimmungsrecht in seinem eigentlichen Gehalt von seinem Träger nicht ausgeübt werden kann, Sinn.

Auch diese Entscheidung signalisiert deutlich, daß es weitergehender Diskussionen über den Umgang mit schwerstbehinderten Pflegeabhängigen bedarf und daß die rechtliche Lage derzeit unbefriedigend ist. Es wäre an der Zeit, daß das Bundesjustizministerium, dessen Beamte schon seit längerem an einem Regelungsentwurf arbeiten, einmal einen Arbeitsstand bekanntgibt - nicht um eine Entscheidung der Politik zu verkünden, der sich das Recht unterordnen soll, sondern aus Gründen der Transparenz und damit die gesellschaftliche Meinungsbildung vorangetrieben werden kann.

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