Kehrt England um?

01.11.2001 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: FAZ, 1. November 2001: Ein Londoner Gerichtsurteil zur Sterbehilfe lässt aufhorchen

Dianne Pretty ist 42 Jahre alt, Mutter und Großmutter. Viel mehr hat man in den zahlreichen Artikeln und Hörfunksendungen, die in den letzten Monaten in Großbritannien und in den USA über sie veröffentlicht wurden nicht über die Geschichte und das Leben dieser Frau erfahren. Dianne Pretty, die in einer kleine Stadt wenige Meilen nördlich von London wohnt, ist einer dieser Menschen, an deren Existenz die Öffentlichkeit vor allem eines interessiert: wie sie zu Ende gebracht wird. Die seit 25 Jahren verheiratete Frau will erreichen, dass die englische Staatsanwaltschaft ihrem Ehemann Straffreiheit für den Fall zusichert, dass er sie aktiv bei ihrem Selbstmord unterstützt. Denn sie selbst, so argumentierte die im Rollstuhl sitzende Klägerin in dem Verfahren vor dem High Court in London, könne sich aufgrund ihrer schweren Erkrankung, nicht mehr alleine umbringen. Die vor zwei Jahren an der Lou Gehrig`s Krankheit (auch amyotrophische Lateralsklerose, ALS, genannt) erkrankte Frau, sitzt im Rollstuhl, kann die Arme nicht mehr bewegen. Sie kann auch kaum noch schlucken.

Patienten mit dieser schweren, oftmals schnell fortschreitenden Krankheit, bei der die Nerven, die für Bewegungsimpulse zuständig sind, zerstört werden, haben auch in den USA und in Canada in den Neunziger Jahren die Debatte um Tötung auf Verlangen und ärztlich unterstützten Selbstmord in Bewegung gehalten. Zuletzt ließ sich der 52jährige Thomas Youk, der mehrere Jahre zuvor erkrankt war, von dem berüchtigten Pathologen Jack Kevorkian vor laufender Kamera töten. Kevorkian, der zuvor ohne bestraft zu werden auch schon andere Menschen mit Lou Gehrig's Krankheit oder Alzheimer auf deren Bitte hin ums Leben gebracht oder ihnen aktive Unterstützung beim Selbstmord geleistet hatte, wurde für diese medienwirksame Aktion 1999 zu einer Haftstrafe von 10 bis 25 Jahren verurteilt.

In dem englischen Verfahren, das Mitte Oktober mit einem jetzt veröffentlichten Urteil vor dem High Court in London zu Ende gebracht wurde, bekundeten die drei Lord-Richter zwar tiefe Sympathien mit der Klägerin, wiesen ihr Begehren aber ab. Diese Entscheidung ist angesichts der englischen Rechtsprechung, die in bioethischen Konfliktfällen ansonsten zu einer weitgehenden Deregulierung neigt und die den Lebensschutz mit mehreren Leitentscheidungen spürbar verringert hat, keineswegs selbstverständlich. 1994 hatten die englischen Gerichte in mehreren Instanzen beispielsweise einmütig entschieden, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung, die zum sicheren Tod führen musste, im besten Interesse von Tony Bland wäre, einem Patienten, der nach einem schweren Unfall mehrere Monate im Wachkoma lag und nach Ansicht seiner Ärzte kaum noch Aussicht auf Verbesserung seiner Lage hatte. Letztes Jahr hatte der High Court in London mit einem Urteil, das später vom House of Lords bestätigt wurde, Furore gemacht, das bei Siamesischen Zwillingen die Trennung gegen den Willen der Eltern anordnete, um so die Chancen eines der Kinder gerettet zu werden zu verbessern, obwohl klar war, dass die Ärzte mit dem Eingriff das schwächere der beiden Kinder sicher töten würden.

In dem Prozeß, den Dianne Pretty angestrengt hatte, standen zwei grundlegende rechtliche Probleme im Mittelpunkt: Ohne allzu große Umstände konnte der High Court entscheiden, dass die Staatsanwaltschaft sich zu Recht geweigert hat ein nolle prosequi, ein Untätigbleiben für den Fall zuzusichern, dass Brian Pretty seine Frau, wie weitreichend auch immer, beim Selbstmord, unterstützen würde. Das Beharren der Richter, dass eine Tat erst geschehen sein müsse, bevor strafrechtliche Reaktionen (oder auch Nicht-Reaktionen) darauf erfolgen könnten, wurde dadurch verstärkt, dass das Ehepaar Pretty sich weigerte den Director of Public Prosecution oder das Gericht über Einzelheiten ihrer Selbstmord-Planung zu informieren.

Weitaus schwieriger war die Frage zu klären ob der zweite Abschnitt des Suicide Act von 1961 mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Der Suicide Act von 1961 verbietet es, einem anderen beim Selbstmord zu helfen, diesen Selbstmord herbeizuführen oder ihn bei den Vorbereitungen zu beraten und zu unterstützen. Damit ist die englische Rechtslage klarer, aber auch restriktiver als in Deutschland, wo zwar die aktive Tötung auf Verlangen durch den § 216 StGB unter Strafe gestellt ist, die Anstiftung oder die Beihilfe zum Selbstmord aber nicht sanktioniert wird.

Dianne Pretty und ihr Anwalt argumentieren, dass diese konsequente Regelung in Widerspruch zu mehreren Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Da die entscheidenden Vorschriften der Menschenrechtskonvention in England erst 1998 mit dem Human Rights Act implementiert worden sind, und dort erst seitdem Grundrechte normiert sind, wie beispielsweise in der us-amerikanischen Verfassung und ihren Zusätzen oder im deutschen Grundgesetz, hat das Verfahren Bedeutung über den Einzelfall und auch über die Euthanasie-Problematik hinaus: In England entwickelt sich mit solchen Prozessen erst seit knapp zwei Jahren eine Rechtsprechung, die die nun als nationales Recht geltenden Menschenrechte und Grundfreiheiten auslegt. Wegen der besonderen Bedeutung des Antrages von Dianne Pretty für die Bioethik-Debatte engagierten sich in dem Verfahren auch mehrere Bürgerrechtsgruppen und die Gesellschaft für Freiwillige Euthanasie auf der Seite. Auf der anderen Seite traten konservative Organisationen wie die "Gesellschaft zum Schutz ungeborenen Lebens" gegen die Klage auf und wurden vom High Court ebenso wie das Innenministerium als "interessierte Parteien" mit eigenen, wenn auch gegenüber der Klägerin eingeschränkten Rechten in dem Verfahren zugelassen.

Eine Bestimmung, die assistierten Selbstmord grundsätzlich unter Strafe stelle, argumentierte Dianne Pretty, stelle einen Verstoß gegen das Recht auf Selbstbestimmung dar, das unter anderem in Artikel 8 der Menschenrechtskonvention festgeschrieben sei. Die Richter hielten diesem Argument entgegen, dass das Selbstbestimmungsrecht gegen den Schutz des Lebens abgewogen werden müsse. Insbesondere sei zu bedenken, dass ein Recht auf assistierten Selbstmord nicht auf Menschen begrenzt werden könne, die sterbenskrank wären, denn damit würde, zumindest indirekt ein Urteil über deren Lebenswert gefällt, das zu fällen Dritten aber grundsätzlich nicht zustehe. Aber auch jenseits dieser Problematik hielten die Lord-Richter es für legitim die Entscheidungsfreiheit schwerstkranker ein Stück weit zu beschneiden, weil nur so der besondere Wert des Lebens akzentuiert und ein Mindestmaß an Schutz für Angehörige gesellschaftlich besonders gefährdeter Gruppen sichergestellt werden könnte. Für diese Auffassung konnte das englische Gericht auf zwei Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes der USA verweisen und sich vor allem auf ein Urteil des Kanadischen Verfassungsgerichtshofes von 1993 stützen, der in dem Verfahren Rodriguez v Generalstaatsanwalt von Kanada angesichts einer fast identischen Konstellation mit 5 gegen 4 Stimmen gegen eine Freigabe des unterstützen Selbstmordes entschieden hat. Auch die "Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über den Schutz der Menschenrechte und der Würde tödlich erkrankter und sterbender Menschen" von 1999 wird in der Entscheidung der Londoner Lord-Richter, denn dort wird zwar das Recht auf Selbstbestimmung unterstrichen, gleichzeitig aber ausdrücklich empfohlen, dass es verboten bleibt, das Leben Sterbenskranker vorsätzlich zu beenden.

Bemerkenswert knapp fiel allerdings die Auseinandersetzung der Richter mit der Rechtsprechung von High Court und House of Lords zum Entzug der künstlichen Ernährung bei Patienten im Wachkoma (oder Vegetativen Status) aus, die in mehreren Fällen zugelassen wurde, obwohl man nicht wußte, wie sich der Patient selbst in dieser Situation entschieden hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre: Lapidar merkten die Richter an, dass zwischen Abbruch einer medizinischen Behandlung und aktiver Herbeiführung des Todes ein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Das ist nicht falsch, blendet aber aus, dass auch ein grundsätzlicher Unterschied zwischen einem, wie von Dianne Pretty, selbst verantworteten Verlangen nach dem eigenen Tod besteht, und der objektivierenden Mutmaßung von Dritten, die Beendigung des Lebens durch Abbruch einer Behandlung sei im besten Interesse des nicht selbst entscheidungsfähigen Patienten. Eine Entscheidung für den Tod jedenfalls wird in beiden Konstellationen gefällt.

Auch das Urteil im Fall Dianne Pretty allerdings lässt eine Tür offen: Wenn der Gesetzgeber zu der Auffassung gelangte, dass assistierter Selbstmord künftig legal sein soll, stellen die Europäische Menschenrechtskonvention und das englische Recht nach ihrer Überzeugung kein rechtliches Hindernis dar auch eine Form von aktiver Euthanasie zu legalisieren. Sie weisen in den Urteilsgründen aber darauf hin, dass die englische Law Commission 1994 Vorstöße zur Legalisierung von Euthanasie abgeblockt habe. Und auch der Versuch die Rechtsprechung der englischen Gerichte zum Abbruch künstlicher Ernährung bei Wachkoma-Patienten in einem Gesetz zu kodifizieren ist an tiefgreifenden Uneinigkeiten im britischen Parlament gescheitert.

Dianne Pretty zieht gegen das Urteil jetzt vor die letzte Instanz, das House of Lords. Zwar gilt als wahrscheinlich, dass die Obersten englischen Richter sich im Ergebnis ihren Kollegen vom High Court anschließen. Viel hängt wird aber von den Mehrheitsverhältnissen und von der Begründung abhängen: Wenn die Richter des House of Lords gesetzlichen Handlungsbedarf konstatieren, könnte auch England bald in die Spuren von Belgien und den Niederlanden treten. Die öffentliche Reaktion auf die High Court Entscheidung in den auf Deregulierung in Bioethik eingeschworenen Medien jedenfalls war bereits kritisch.

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Weiterführende Links

    Das Urteil des High Court | http://porch.ccta.gov.uk/courtser/judgements.nsf/5cbcc578c01a9c02802567170061b8c6/65039f467faf73a380256aed00386425/$FILE/Pretty_v_DPP_SSHD.htm?OpenDocument
    Hintergrund zur englischen Diskussion | http://macdonald.butterworths.co.uk/news/getarticle.asp?newsid=1063
    Hintergrund zur Lou Gehrig`s Krankheit | http://www.sunweb.ch/custom/als-mnd.ste/fragen.htm
    Hintergrund zu Dr. Kevorkian | http://www.focusonals.com/kevorkian.htm

 

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