Lebensfähige sollen leben
29.09.2004 | AutorIn: Dr. Oliver Tolmein | Recht
Gynäkologen fordern Änderungen des Abtreibungsrechts und Ausweitung der pränatalen Diagnostik
Nur knapp ein Pfund muß ein Neugeborenes heute wiegen, um nach der Entbindung überleben zu können. Die enormen Fortschritte der neonatologischen Intensivmedizin bringen aber auch Probleme mit sich. Ein Pfund - das ist das Gewicht, das ein Fötus oftmals in der 22. Schwangerschaftswoche erreicht hat. Zu diesem Zeitpunkt können mit der Pränataldiagnostik Aussagen über mögliche Schädigungen und Behinderungen des Fötus getroffen werden. Das Ergebnis einer solchen Diagnose ist dann oft der Abbruch der Schwangerschaft, die durch Paragraph 218a des Strafgesetzbuchs im Rahmen der sogenannten medizinisch-sozialen Indikation straffrei gestellt ist. Daß im Rahmen dieser Indikation ohne vorhergehende Beratung und Bedenkzeiten der Schwangeren Föten abgetrieben werden dürfen, die schon eine beachtliche Chance hätten, im Fall einer Entbindung zu überleben, hat die Diskussion über die gegenwärtige Regelung der sogenannten Spätabtreibungen intensiviert: Behindertenverbände, kirchliche Organisationen, Juristen und Bioethiker haben vorgeschlagen, die 1995 nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingeführte Regelung zum Schwangerschaftsabbruch zu verändern und wenigstens eine Beratungspflicht auch für diese neu gefaßte Indikation einzuführen.
In vielen Fällen wird der Grund für einen Schwangerschaftsabbruch nach der medizinisch-sozialen Indikation nämlich nicht, wie der Gesetzeswortlaut des Paragraphen 218a StGB verlangt, eine Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit der Schwangeren sein, sondern die diagnostizierte Behinderung des Fötus. Um dem Recht Genüge zu tun, wird in diesen Fällen von Ärzten diagnostiziert, die Geburt eines Kindes mit Behinderung würde die seelische Gesundheit der Schwangeren nachhaltig beeinträchtigen. Diese Diagnose, die aus dem gesetzlich geregelten Ausnahmefall für den Fall von Behinderungen der Föten die Regel zu machen droht, hat der Bundesgerichtshof 2002 in seiner Leit-Entscheidung zum Thema ohne Bedenken akzeptiert.
Die Richter des 6. Zivilsenats haben sich in diesem Urteil die Argumentation der Kläger weitgehend zu eigen gemacht, bei einer schweren Behinderung des Kindes könnte auch bei einer bis dahin psychisch gesunden Frau eine so schwerwiegende Beeinträchtigung ihres seelischen Gesundheitszustandes zu befürchten sein, daß dies die Anwendung der medizinisch-sozialen Indikation rechtfertige.
Allerdings macht eine Beratung angesichts einer unmittelbaren Gefährdung des Lebens der Schwangeren tatsächlich sowenig Sinn wie eine Bedenkzeit zwischen dieser Diagnose und der Beendigung der Schwangerschaft - die Gefahr läßt sich nicht wegdiskutieren. Bei einem Abbruch, der vor allem durch die vermutete Behinderung des Fötus motiviert ist, ist das hingegen anders. Und auch auf die Gefährdung der seelischen Gesundheit der schwangeren Frau gibt es möglicherweise andere Antworten als die Beseitigung von deren Ursache, hier also des Fötus. Das sieht, auch wenn sie es nicht so deutlich formuliert, offenkundig auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) so, die anläßlich ihrer Jahrestagung unlängst ein Positionspapier "Pränataldiagnostik - Beratung und möglicher Schwangerschaftsabbruch" vorgelegt hat, in dem sie sich dafür einsetzt, die in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren von der DGGG selbst, aber auch von anderen Interessengruppen veröffentlichten Verbesserungsvorschläge endlich "in die Tat umzusetzen".
Der drängende Ton der Stellungnahme kommt nicht von ungefähr: Erst im Sommer dieses Jahres hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine kleine Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema deutlich gemacht, daß sie keinen Handlungsbedarf sieht und auch frühere Anregungen der DGGG (F.A.Z. vom 25. Juni 2003) für nicht beachtlich hält. Das Votum der Fachorganisation ist bemerkenswert, weil die Arbeitsgruppe der DGGG, die sich seit längerem mit dem Zusammenhang von Abtreibung und Pränataldiagnostik befaßt, heterogen zusammengesetzt ist: In ihr arbeitet die als kritische Bioethikerin hervorgetretene Rechtsanwältin Ulrike Riedel von den Grünen ebenso mit wie Klaus Diederich, der einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Befruchtung ist, oder B. Joachim Hackelöer, der als Chefarzt der Pränataldiagnostischen Abteilung des Krankenhauses Barmbek ein Verfechter vorgeburtlicher Diagnostik ist.
So unterschiedlich wie die Zusammensetzung der Kommission ist, so unterschiedlich sind auch die Vorschläge für gesetzliche Neuregelungen, die im Herbst 2004 auch Gegenstand der Beratungen der Bundesärztekammer sein sollen. Ein wichtiges Anliegen der Geburtsmediziner ist eine bessere statistische Erfassung der Schwangerschaftsabbrüche, die präzise Aussagen über das Ausmaß der Spätabtreibungen ermöglichen soll. Deren Zahl ist in den letzten Jahren auf 377 im Jahr 2003 angestiegen - die Mediziner gehen aber davon aus, daß etliche Föten, die ein Gewicht knapp unter 500 Gramm haben, nicht als Abtreibungen, sondern als Totgeburten behandelt und aufgrund aktueller gesetzlicher Vorgaben deswegen nicht registriert werden. Die Zahl der tatsächlich erfolgten Spätabtreibungen dürfte also deutlich höher liegen.
Im Mittelpunkt der von einer Kommission der DGGG über mehrere Jahre hinweg entwickelten Positionen, die mit teilweise anderer Akzentsetzung im letzten Jahr als "Überlegungen" veröffentlicht worden waren, steht die Einführung einer Beratungspflicht für Fälle der medizinisch-sozialen Indikation. Der Vorschlag mit den gravierendsten Folgen ist die Einschränkung der Möglichkeiten, bei Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs die Schwangerschaft überhaupt abzubrechen. Als legitimierende Diagnose für einen solchen späten Abbruch sollen "in der Regel" nur noch schwerste unbehandelbare Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Ungeborenen anerkannt werden, die dann von einem interdisziplinären ärztlichen Gremium durch Konsens festgestellt werden müssen.
Um Spätabbrüche zu verhindern, will die DGGG gleichzeitig aber auch die Zahl von pränataldiagnostischen Untersuchungen erhöhen, weil nach Auffassung ihrer Experten frühzeitig und professionell vorgenommene Untersuchungen späte Abtreibungen verhindern können. Dieser Vorschlag ist ebenso wie die Idee einer Haftungsbegrenzung in den berüchtigten "Kind als Schaden"-Fällen nach französischem Vorbild auf Fälle grober Fahrlässigkeit Ausdruck davon, daß die Vorschläge weitgehend den ständischen ärztlichen Interessen verhaftet sind. Dennoch geben sie, insbesondere angesichts der beharrlichen Untätigkeit der Bundesregierung, wichtige Impulse in der gegenwärtigen Debatte - vor allem, weil sie nicht die Möglichkeiten des straffreien Schwangerschaftsabbruchs an sich in Frage stellen, sondern nur eine ethisch besonders bedenkliche Ausprägung der gegenwärtigen Praxis eindämmen wollen. Insofern deren Zielsetzung vor allem sein sollte, die Diskriminierung Behinderter zu vermeiden, wie sie in der Praxis der Spätabtreibungen und der ausufernden Pränataldiagnostik heute zum Ausdruck kommt, werden manche Vorschläge der DGGG auch kritisch betrachtet.
Das gilt insbesondere für die Anregung, Spätabtreibungen "in der Regel" auf Fälle "schwerster unbehandelbarer Krankheiten" beim Fötus zu begrenzen. Der Vorschlag der DGGG beinhaltet im Kern eine Wiedereinführung der mit guten Gründen als eugenisch kritisierten und abgeschafften embryopathischen Indikation. Daß sie jetzt im Interesse des Kindes selbst erfolgen soll, dem ein extrem leidvolles Leben nicht zugemutet werden soll, macht den Vorschlag nicht besser: Alle Versuche, insbesondere von Ärzten und Juristen, zu bestimmen, welche Behinderungen und Krankheiten so sind, daß ein Leben mit ihnen auf keinen Fall lebenswert sein soll, sind gescheitert - und wurden von Menschen mit Behinderungen oft als Diskriminierung erlebt.
Erinnert sei hier nur an die "Einbecker Empfehlungen zu den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen" der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht aus dem Jahr 1986: Im Verlauf der Beratungen wurden selbst schwere Ausprägungen der Glasknochenkrankheit als Behinderung beschrieben, die mit dem Leben nicht vereinbar sei.
Weiterführende Links
- Stellungnahmen zu Spätabtreibung und Pränataldiagnostik | http://www.dggg.de/dokumentationen.html
- Netzwerk gegen Pränataldiagnostik | http://www.bvkm.de/0-10/praenataldiagnostik,netzwerk,index.html
- Position der Lebenshilfe zu Spätabtreibung | http://www.lebenshilfe.de/recht/Ethik/sp%C3%A4tabtr.htm