Liberale Reflexe

02.07.1993 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: Konkret 07 / 93, S. 48

Nach massiven Protesten hat sich der Rowohlt Verlag entschlossen, die Veröffentlichung eines Buches zu unterlassen, das einen Aufruf zur Tötung behinderter Kinder enthält. Die Reaktionen auf diese Entscheidung zeigen, daß die neue "Euthanasie"-Debatte einen kritischen Punkt erreicht hat

"Die Zeit" ist eine liberale Wochenzeitung. Sie pflegt ein Feuilleton, das sogar Spott, Satire, Ironie für den eigenen Chefredakteur bereithält - ein kritisches Feuilleton also. Daß es unabhängig ist, versteht sich von selbst. In grundstürzenden Angelegenheiten, zum Beispiel wenn es um "Die Welt von Fall zu Fall" geht, bemüht der verantwortliche Redakteur, der nur zufällig nicht Botho Strauß heißt, selbst seine Gedanken und hebt an zum Bocksgesang: "Wo beginnt, wann endet der Schutz des Lebens?" Nein, es geht weder um Mölln noch um Solingen, nicht ganz jedenfalls. Mölln und Solingen, der Zusammenhang von politischem Diskurs und Menschenschlächterei, von rassistischem Agitieren und mörderischem Agieren, findet in der Spalte neben dem Text des verantwortlichen Redakteurs Platz. Benedikt Erenz erinnert dort an ein Rundschreiben des einstigen CDU-Generalsekretärs, das darauf zielte, die Asylpolitik bundesweit zum Thema zu machen, und zeiht zu Recht den "Lehrer Rühe" der Mitverantwortung für "bestimmte Diskurserscheinungen der letzten Monate" ("Zeit" Nr. 23/93).

Ulrich Greiner dagegen will Erinnerungen abschütteln; er blickt in die Zukunft. "Wir müssen Kriterien ausbilden, nach denen relativ sicher bestimmt werden kann, ob ein menschliches Wesen den moralischen und rechtlichen Anspruch auf Schutz des Lebens hat." Ein skandalöser Satz, den sich Benedikt Erenz für spätere Gelegenheiten schon mal merken sollte - und doch ein ganz "normales" Statement, denn Greiner schreibt nicht über Brandanschläge auf Immigrantinnen und Immigranten, sondern über die akademische Debatte zum Thema "Euthanasie", genauer: über die Tötung behinderter Neugeborener, die Greiners Meinung nach aus Gründen der Konsistenz erlauben muß, wer sich für die Abschaffung des Paragraphen 218 engagiert. Der Feuilleton-Frontmann, dem die Proteste gegen das 218-Urteil des Bundesverfassungsgerichts eine "verräterische Kampagne" zu sein scheinen, hält sich nicht lange mit Details auf. Auch für das sorgsam begründete Minderheitenvotum des Vorsitzenden Richters Mahrenholz mag Greiner keine Zeile erübrigen. Die Frau nicht nur ein Gefäß des Fetus, die Schwangerschaft eine einzigartige Phase der "Zweiheit in der Einheit"? Überlegungen, die nicht einmal abgetan, sondern ignoriert werden, weil sie nicht zum Ziel führen: "Wer in der Abtreibungsfrage für Toleranz plädiert ... der muß auch in bestimmten Fällen Euthanasie für erlaubt ... halten."

Und wer in bestimmten Fällen für die Tötung von "menschlichen Wesen", die Menschen sind, eintritt, kommt über kurz oder lang dann doch wieder auf Flüchtlinge zu sprechen. Die Konsistenz erzwingt einen bedrückenden Diskurs. Wer gegen die Tötung Behinderter auftritt, führt Greiner seine logische Gedankenkette fort, ist wahrscheinlich nicht von Caritas geleitet, sondern von "blindem Fanatismus", was seine Ursache wiederum im Auseinanderfallen des Weltbildes hat und als Nebenwirkung ein Engagement gegen die Abschaffung des Asylrechts nach sich zieht: "Sie (die Linke) plädiert für die Beibehaltung des Asylartikels, was de facto auf eine unbeschränkte Einwanderung hinausliefe, und sieht nicht, daß die dadurch entstehende Multikulturalität akzeptierte Grundlagen unseres Zusammenlebens, wie etwa die Meinungsfreiheit oder das Selbstbestimmungsrecht der Frau, relativieren müßte."

Das "Zeit"-Feuilleton, wir haben es schon festgestellt, ist unabhängig. Es verzichtet von Fall zu Fall mehr auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit, um die eigene Meinung von ihr frei und selbstbestimmt pflegen zu können. Deswegen nur noch eine der Greinerschen Erkenntnisse zum Schluß, weil sie so schön anschaulich werden läßt, wie ein Ressentiment das nächste befördert und alle zusammen dann mit dem Abschied von der als Reflex denunzierten antifaschistischen Tradition unverzüglich die geistige Mobilmachung einläuten: "Beide Emotionen, die gegen eine Änderung des Artikels 16 und die gegen eine Diskussion über Euthanasie, nähren sich aus einer zum bloßen Reflex gewordenen antifaschistischen Tradition. Sie hilft nicht weiter, erzeugt allenfalls ein ideologisches Wohlbefinden, das vor der Wirklichkeit kapituliert. Erst jetzt ist die Bundesrepublik, die vierzig Jahre lang im Windschatten der Geschichte ein friedvolles Dasein führte, in die historische Gegenwart eingetreten und wird mit allen bitteren Widersprüchen und harten Unverträglichkeiten der Moderne konfrontiert." Daß der Sturm, den Greiner gerne losbrechen lassen möchte, ein Volkssturm sein wird - was scherts den Redakteur, solange sich jemand findet, der die Auswahl der Opfer konsistent begründen kann.

Für die "Lösung der Behindertenfrage", die gerade aufgeworfen wird, heißt der zuständige Mann Peter Singer. Der Verlag, der sich seiner angenommen hat, ist wahrscheinlich nicht ganz zufällig derselbe, der auch die antisemitisch gefärbte Streitschrift verlegt hat, in der Ulrich Greiners Herausgeber Helmut Schmidt und Marion Gräfin Dönhoff gegen Raffgier und Schmarotzertum vom Leder ziehen. Die Zeit für Singer allerdings, das mußte der Rowohlt Verlag nun feststellen, ist (noch) nicht reif.

Das von Singer und seiner Mitarbeiterin Helga Kuhse verfaßte Buch "Should the baby live?" (bei Rowohlt etwas schönfärberisch mit: "Muß dieses Kind am Leben bleiben?" übersetzt) ist ein Aufruf zur Tötung behinderter Kinder (Singer schreibt von "infants"). Der Tod sei, behauptet das Autoren-Duo, zum einen das beste für die Behinderten selber, weil ihnen mit Spina bifida (offener Rücken, meist verbunden mit Lähmungen der Beine, manchmal mit Hydrozephalus und geistiger Behinderung einhergehend) oder Down-Syndrom ohnedies nur ein leidvolles Leben bevorstünde. Vor allem aber liege es im Interesse der Eltern, der potentiellen oder tatsächlichen Geschwister, aber auch der Gesellschaft als Ganzem, daß behinderte Neugeborene nicht am Leben blieben: "Wenn wir versuchten, alle behinderten Kinder am Leben zu erhalten, ohne zu berücksichtigen, was das für eine Art von Leben sein wird, werden wir auf andere Dinge verzichten müssen, die wir für mindestens so wichtig halten. ... Jedes Ansteigen der Zahl der Pflegebedürftigen heißt, daß ohnehin schon überstrapazierte Finanzierungsmöglichkeiten noch mehr überstrapaziert werden."

Daß das Gemeinwesen Deutschland seine Finanzierungsmöglichkeiten für die Pflege behinderter und alter Menschen überstrapaziert sieht, fand parallel zur Abschaffung des Asylrechts seinen Niederschlag in der Debatte um die Einführung der Karenztage zwecks Pflegeversicherung. Es ist abzusehen, daß auch die noch sorgsam kaschierte und schrittweise Einführung der Billigpflege (3 bis 4 Stunden pro Tag für Schwerpflegebedürftige, die Rund-um-die-Uhr-Assistenz benötigen) und die Umwälzung der Kosten auf die Versicherten den Sparwünschen der Finanzpolitiker nicht ausreichen wird. Eine allgemeine Debatte über die unzumutbaren Belastungen durch Behinderte und den "Altenberg" steht uns erst noch bevor. Das Buch von Singer/Kuhse leistet dafür Pionierarbeit, denn die volkswirtschaftlichen Gründe, die dagegen sprechen, daß bestimmte "menschliche Wesen den moralischen und rechtlichen Anspruch auf Schutz des Lebens" (Greiner) erhalten, sind in Deutschland bislang nirgends so offen artikuliert worden wie dort.

Daß der Rowohlt-Verlag die Erarbeitung der detaillierten Selektionskriterien als "ernstes Bemühen der Autoren um eine barmherzige Antwort auf Grenzfragen der Humanität" wertet, steht dazu keineswegs im Widerspruch. "Euthanasie" war, allen Legenden zum Trotz, in Deutschland schon immer ein Akt des Mitgefühls, wie sich z.B. aus einem Urteil des Bundesgerichtshofes gegen den SS-Obersturmführer Borm, Mitglied der "Leibstandarte Adolf Hitler", entnehmen läßt: Der Arzt und passionierte Nazi wurde 1974 trotz seiner Beteiligung an 6.652 "Euthanasie"-Morden während des Nationalsozialismus vom Bundesgerichtshof in letzter Instanz freigesprochen, da "der Angeklagte hauptsächlich an einen Akt der Barmherzigkeit gedacht haben will", was sich aus seiner als glaubwürdig akzeptierten Einlassung ergibt: An der Vernichtungsaktion habe er, Borm, sich nur beteiligt, weil "es sich bei den zur Tötung vorgesehenen Menschen um völlig verblödete, abgebaute Existenzen in erbarmungswürdigem Zustand gehandelt (habe); ... er habe nicht gewußt, daß die Tötungen in erster Linie von Nützlichkeiten bestimmt gewesen seien, sondern an eine ›wirkliche Euthanasie‹ geglaubt."

Selbstverständlich ist Peter Singer kein SS-Obersturmführer, er ist nicht mal ein einfacher Nazi. Aber auch die Debatte um Zwangssterilisation und "Euthanasie", die in den zwanziger Jahren im Deutschen Reich, aber auch in den USA und England geführt worden ist, wurde nicht von den Ideologen der NSDAP, sondern vor allem von wissenschaftlich renommierten Medizinern und Juristen vorangetrieben. Anders als damals wissen wir heute aber, zu welchen Verbrechen die Hierarchisierung eines menschlichen "Lebenswertes" führen kann und was eine mögliche Konsequenz aus der Aberkennung des Lebensrechts für wie schwer auch immer behinderte Menschen ist.

Der Rowohlt Verlag hat sich Ende April 1993 entschlossen, "Should the baby live?" doch nicht auf Deutsch zu veröffentlichen. Ein Happy-End ist das nicht. Glaubt man Michael Naumann, dem Geschäftsführer des Verlags, ist dieser Entschluß nämlich weder das Resultat des tausendfachen Protestes von Buchhändlerinnen und Ärzten, von Behinderten und von Lektoren im eigenen Haus, noch folgt er gar einer Einsicht in die real existierende, wenngleich möglicherweise nicht gewollte gedankliche Tradition der Singerschen Argumentation. "Aus privaten Gründen, für die der Verlag keine Rechenschaft schuldig ist", so Naumann gegenüber dem Mitveranstalter einer öffentlichen Diskussion mit dem Titel "Rowohlt gegen Behinderte", habe man sich zu diesem Schritt entschlossen. Der Presse wurde, differenziert nach mutmaßlicher Stellung zu Singer und stets ganz vertraulich, mitgeteilt, daß der Rowohlt Verlag nie geplant habe, das Buch zu veröffentlichen ("Süddeutsche Zeitung"), bzw. daß er von dem nie gehabten Plan zurücktreten mußte, um Leib und Leben der ihm anvertrauten Mitarbeiter vor "terroristischen Maßnahmen gegnerischer Gruppen" zu schützen ("Die Woche", "Die Zeit"). Den Erfolg dieser nicht gerade konsistenten, aber überaus phantasievollen Pressearbeit sicherte Michael Naumann, Herr über einen respektablen Anzeigenetat, wo nötig durch persönliche Ansprache in den zuständigen Chefredaktionen.

Das Resultat ist eindrucksvoll: Empörung und Erbitterung in den Feuilletons über die anmaßenden Ideologen der Behinderten-Bewegung und ihre terroristischen Freunde - und wo sich derlei nicht herstellen ließ, wie in der "taz", der "SZ" oder im "stern", wird wenigstens vornehm geschwiegen und der Schlüssel der Schreibtischschublade mit den prekären Manuskripten entschlossen rumgedreht. Einer staatsloyalen freien Presse in einem freien Deutschland ist eben alles möglich - nur nicht ein konsequentes Plädoyer gegen das Erscheinen einer Streitschrift, die zum Mord aufruft. Letztlich gehört sich das auch so, weil es anders falsch wäre. Andreas Kuhlmann hat sich, um eben das nachzuweisen, in der "Frankfurter Rundschau" für die "Debatte über die Sache", die keine Sache, sondern eine aktive Handlung, ein Verbrechen ist, trotz einiger Bedenken und Einwände gegen Singers Extremismus in die Bresche geworfen: "Die Behauptung, daß es das Beste sei, diese Dinge (Kuhlmann meint das Plädoyer für die Tötung behinderter Neugeborener, O.T.) unter den Teppich zu kehren" - die niemand aufgestellt hat - , "zeugt von einem bemerkenswerten Mißtrauen gegenüber der eigenen Gesellschaft". Und zu diesem Mißtrauen gibt es bekanntlich 1993 so wenig Anlaß wie schon seit sechzig Jahren nicht mehr.

Die Auseinandersetzung um "Euthanasie", mit neuer Schärfe im Jahr der Deutschen Einheit entbrannt, ist jetzt an einem kritischen Punkt angelangt. Die "Euthanasie"-Gegner haben, vor allem mit ihrem Protest gegen die Veröffentlichung des gefährlich diskriminierendem Buches von Singer/Kuhse, einen bemerkenswerten und wohl auch unerwarteten Erfolg erzielt. Die öffentlichen Reaktionen darauf zeigen aber, daß ein Wendepunkt bevorsteht, daß das Klima rauher werden wird - so wie die Basis der "Euthanasie"-Befürworter fester und breiter geworden ist. Die Debatte um den angeblichen Mißbrauch von Sozialleistungen, der Pflegeversicherungsstreit und die Einschnitte in die Krankenversorgung tragen das ihre dazu bei, den Druck zu vergrößern.

Andreas Kuhlmanns Beitrag in der "Frankfurter Rundschau", die zu Beginn der Auseinandersetzungen entschlossen wie keine andere überregionale Tageszeitung gegen die "Euthanasie"-Philosophen angeschrieben hatte, ist dafür ein Beispiel: Er tritt für die Veröffentlichung von Singers Buch ein - auch weil er dessen Positionen für diskussionswürdig hält. Zwar seien sie überzogen und daher angreifbar, aber eben nicht prinzipiell falsch: "(Es) würde sich breite Übereinstimmung (daß eine zum Tode führende Nichtbehandlung gerechtfertigt sei, O.T.) wohl für Patienten finden lassen, denen, wie in schwersten Fällen der Spina bifida (offener Rücken), die Lebensverlängerung absehbar ein übergroßes Maß an Qualen bescheren wird. Doch bei solchen krassen Negativbefunden belassen es Kuhse und Singer nicht..." Daß auch die "krassen Negativbefunde" keineswegs objektiv begründet, sondern als krass vor allem in der einseitigen (und z.T. veralteten) Darstellung der von Singer/Kuhse ausgewerteten Literatur dargestellt sind, wird schon nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die "Lebenswert"-Philosophie ist so bereits in Ansätzen übernommen - wenngleich die Grenzen noch deutlich anders gezogen werden. An die Stelle aktiver Solidarität und eines Plädoyers für Selbsttätigkeit tritt das Versprechen von Mitleid und die Hoffnung auf andere: "Es ist keineswegs ausgemacht, daß sich dann (wenn ohne Einschränkungen und Gegenwehr über Euthanasie diskutiert würde, O.T.) diejenigen ermuntert fühlen, die mit geschädigten Föten und behinderten Neugeborenen kurzen Prozeß machen wollen. Es könnten vielmehr Stimmen laut werden, die die Lebensansprüche auch von physisch oder mental beeinträchtigten Menschen verteidigen."

Es könnten - wahrscheinlich aber ist das nicht, denn zur Zeit läßt sich eher beobachten, wie die Stimmen gegen den deutschen Zeitgeist verstummen. Wer die eigenen Ansprüche sichern will, verzichtet auf allzu lautes Engagement. In der Kantine und zu Hause vor dem Fernseher läßt sich der Unmut über die allgegenwärtige Verrohung der Verhältnisse komfortabel ausleben, wozu sich da noch dem Risiko aussetzen, öffentlich als ein Ewiggestriger behandelt zu werden, als einer, der den Anschluß an die Moderne verpaßt hat, deren Bewältigung, ob es uns gefällt oder nicht, nun einmal leider Blut, Schweiß und Tränen verlangt.

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Von Oliver Tolmein erscheint im August ein Buch über die neue "Euthanasie"-Bewegung: "Wann ist ein Mensch ein Mensch?"(Hanser Verlag)

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