Mehr Menschenrechte für 650 Millionen

04.04.2005 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Vom UNO-Jahr der Behinderer zur UN-Menschenrechtskonvention für Behinderte - ein Interview mit Professorin Theresia Degener

Menschen - Das Magazin 2005

Theresia Degener ist Juristin und seit Ende der Siebziger Jahre in der deutschen Behindertenbewegung aktiv. Sie hat während ihres Jurastudiums an der University of California/Berkeley begonnen sich mit internationalem Behindertenrecht zu befassen. Von 1988 bis 1994 vertrat sie die internationale Nichtregierungsorganisation „Disabled Peoples’ International“ (DPI) bei der UN- Menschenrechtskommission. 1995 veröffentlichte sie zusammen mit der Niederländerin Yolan Koster-Dreese das Buch „Human Rights and Disabled Persons“, in der u.a. auch die Notwendigkeit einer verbindlichen internationalen Behindertenrechtskonvention thematisiert wurde. Frau Degener lehrt öffentliches Recht an der Ev. Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe und hat zur Zeit eine Gast-Professur an der University of the Western Cape/Südafrika.

Tolmein: 1981 war der Kampf gegen das UNO-Jahr der Behinderten ein zentraler Mobilisierungsfaktor für die deutsche Behindertenbewegung. Jetzt arbeitest Du mit an einer UNO-Menschenrechtskonvention für Behinderte. Wer passt sich da wem an?

Degener: Ich glaube, es ist nicht so sehr eine Frage der Anpassung, es geht um Prioritäten. 1981 hatte ich kaum eine Vorstellung von den Vereinten Nationen, geschweige denn von deren Behindertenpolitik. Der Protest gegen das UNO-Jahr der Behinderten zielte auf die deutsche Behindertenpolitik, von der wir sehr genau wussten, dass sie fürsorgend, aussondernd und diskriminierend war. Unsere Aktionen richteten sich entsprechend gegen nationale Veranstaltungen, mit denen das UNO Jahr der Behinderten gefeiert werden sollte. Deswegen haben wir die Bühnenbesetzung und die Demonstration auf der Eröffnungsfeier in der Dortmunder Westfalenhalle gemacht. Auch auf dem „Krüppel-Tribunal“ im Dezember 1981 wurden deutsche Einrichtungsträger, deutsche Behörden und andere staatliche Stellen und Personen angeklagt. Gegenstand des Protestes war also nicht so sehr das UNO-Jahr der Behinderten, als vielmehr gegen dessen Umsetzung in Deutschland.

War diese Umsetzung des UNO Jahres der Behinderten in Deutschland damals denn eine Art deutscher Sonderweg oder praktizierte die Bundesrepublik damals im Land nur das, was auf UN-Ebene im Prinzip schon vorgegeben war?

Ich habe den Eindruck, dass damals in den meisten Ländern Behindertenpolitik als Fürsorge- und Rehabilitationspolitik betrieben wurde. Behinderung wurde zu der Zeit auch innerhalb der Vereinten Nationen noch eindimensional als medizinisches Problem betrachtet, mit dem sich deswegen auch hauptsächlich die Weltgesundheitsorganisation zu beschäftigen hatte. Der Paradigmenwechsel, mit dem Behinderung zum Menschenrechtsthema wurde, erfolgte erst später im Rahmen der UN-Dekade der Behinderten von 1983 bis 1992. In dieser Zeit gab die UN-Menschenrechtskommission die ersten Menschenrechtsberichte zur Lage behinderter Menschen in Auftrag, die die Basis für die heutige Behindertenpolitik der Vereinten Nationen abgeben.

In Deutschland hat das internationale Recht ja einen guten Ruf. Die Bundesrepublik will die UNO stärken, engagiert sich für internationale Umweltschutzkonventionen , für den Internationalen Strafgerichtshof. Ist Deutschland auf internationaler Ebene auch in Sachen Behindertenrechte ein Musterschüler?

Ja, bislang hat sich Deutschland als ausgesprochenes Unterstützerland erwiesen. Das ist umso erfreulicher, als die Europäische Union sich bislang nicht von ihrer besten Seite gezeigt hat. Im Gegenteil – man muss wohl sagen, dass die EU zunächst in Sachen Rechte von Behinderten eine Blockiererrolle einnahm, die sie erst in den letzten zwei Jahren – nach massiven Protesten durch die NGOs – aufgegeben hat. Da die EU bei den Vereinten Nationen nur mit einer Stimme – nämlich des Landes, das die jeweilige EU-Präsidentschaft innehat – spricht, hatte Deutschland nur die Möglichkeit EU-intern zu verhandeln und zu manövrieren. Dass Deutschland sich von Anfang an klar und deutlich zu einer umfassenden Menschenrechtskonvention für Behinderte bekannt hat, hat innerhalb der EU dann auch einiges bewirkt.

Wie verträgt sich diese deutsche Musterschülerrolle mit der ziemlich schwachen Performance der Bundesrepublik in Sachen Anti-Diskriminierungspolitik für Behinderte im eigenen Land?

Auch das ist keine neue Erscheinung. Internationale und nationale Menschenrechtspolitik in Deutschland klafften schon immer auseinander. Und in vielen europäischen Nachbarländern ist es nicht anders. Es ist eben politisch einfacher Menschenrechtsverletzungen auf globaler Ebene oder im Ausland zu thematisieren, als im eigenen Hinterhof zu kehren.

Wie verhältst Du Dich als Mitglied der deutschen Delegation, die aber aus der Behindertenbewegung kommt, zu diesem Widerspruch?

Ich bin als Beraterin der Bundesregierung Mitglied der deutschen Delegation. Die Delegationsleitung obliegt nicht mir, sondern dem federführenden Ministerium bzw. der deutschen diplomatischen Vertretung in New York. Ich sehe meine Aufgabe darin, mein Expertenwissen, dass sich zum einen aus meiner Arbeit in der Behindertenbewegung speist, zum anderen aber aus meiner rechtswissenschaftlichen Forschung zum Thema Menschenrechte und Behinderung, zur Verfügung zu stellen, um eine möglichst gute Behindertenrechtskonvention zu Stande zu bringen.

Schon die Erfahrungen mit dem Benachteiligungsverbot aus Artikel 3 Grundgesetz und jetzt auch mit dem Behindertengleichstellungsgesetz zeigen, wie schwierig es ist, gegen Vorurteile und gewachsene Traditionen mit Hilfe rechtlicher Instrumentarien vorzugehen. Ist da eine UN-Konvention nicht ein noch schwerfälligeres Mittel?

Es ist richtig, dass ein Gesetz alleine noch keine gesellschaftliche Transformation bewirken kann. Aber ohne Antidiskriminierungsrecht Diskriminierung zu bekämpfen ist ebenfalls schwierig. Jede soziale Transformation braucht Zeit. Der Kampf gegen Rassismus, das zeigen die Erfahrungen mit dem US-amerikanischen Diskriminierungsrecht, dauert Generationen. Eine UN-Konvention ist natürlich insofern schwerfälliger, als ihre rechtliche Wirkung zwar mit der Ratifikation verbindlich ist, sie aber nicht unbedingt unmittelbar wirkt. D.h. sie muss von den einzelnen Mitgliedstaaten erst durch nationales Recht umgesetzt werden. Anders als im europäisches Gemeinschaftsrecht gibt es im Völkerrecht jedoch kaum effektive Sanktionsmechanismen, um diesen nationalen Umsetzungsprozess zu fördern. Deshalb ist im internationalen Menschenrecht die Rolle der Nichtregierungsorganisationen so bedeutsam. Sie leisten Überzeugungsarbeit und erzeugen Druck auf die Regierungen, ihre durch die Konventionen begründeten Menschenrechtsverpflichtungen auch wirklich einzuhalten. Es wird daher in erheblichem Maße auf die internationalen und nationalen Behindertenorganisationen ankommen. Sie müssen lernen, die zukünftige Behindertenrechtskonvention zu nutzen und entsprechenden Druck auf ihre Regierungen ausüben. Es gibt Länder, wie z.B. Australien oder Südafrika, in denen internationale Menschenrechtskonventionen einen großen Einfluss auf nationale Gesetzgebung hatten. In Deutschland war das bisher weniger der Fall, aber das kann sich ja noch ändern.

Woran liegen die Probleme mit der nationalen Umsetzung in Deutschland? Haben die deutschen Behindertenverbände da Defizite? Oder liegt es daran, dass es in Deutschland überhaupt besonders schwierig ist, den Menschenrechts- und Anti-Diskriminierungsgedanken rechtlich umzusetzen?

Beides spielt sicherlich eine Rolle. Die internationalen Behindertenverbände haben erst in den letzten Jahren angefangen, sich als Menschenrechtsorganisationen zu begreifen. Das nötige Know-How im Umgang mit Menschenrechtsinstitutionen und Menschenrechtsnormen müssen die meistens noch lernen. Auf nationaler Ebene sieht es nicht anders aus. Die deutschen Behindertenverbände unterscheiden sich da kaum von anderen Ländern. Aber auch die Tatsache, dass es in Deutschland eine Antidiskriminierungs- und Menschenrechtskultur erst in den Anfängen gibt, ist sicher ein nicht zu unterschätzender Faktor.

Was unterscheidet jetzt ein UN-Konvention von der Antidiskriminierungsgesetzgebung auf deutscher oder EU-Ebene? Würde ein gutes Antidiskriminierungsgesetz in Deutschland die UN-Konvention überflüssig machen?

Nein, denn Antidiskriminierungsgesetze sind auf Fragen der Gleichbehandlung begrenzt, während die UN-Konvention den gesamten Katalog der Menschenrechte umfasst. Diskriminierung wegen ihrer Behinderung ist nur eine der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die behinderte Menschen erleben. Freiheitsentzug, erniedrigende und grausame Behandlung oder Folter, Verweigerung medizinischer Versorgung oder medizinische Forschung ohne Einwilligung, keine Informations- und Meinungsfreiheit, keine freien und geheimen Wahlrechte, kein Recht auf Bildung, Verletzung der Arbeitsrechte oder Verletzung der Privatssphäre sind andere Beispiele von Menschenrechtsverletzungen, die mit der UN-Konvention verhindert werden sollen.

Du warst jetzt ein Jahr in Südafrika, einem Land, für das die UN-Konventionen eine andere Rolle spielen als für Deutschland, in dem auch die Ressourcen viel geringer sind, die Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen: Kann man in Sachen Menschenrechte und Behinderung in Deutschland von Südafrika was lernen?

Ich glaube, beide Länder könnten voneinander lernen. Was Deutschland von Südafrika lernen könnte, ist das klare Bekenntnis zur Umsetzung des Selbstvertretungsanspruches behinderter Menschen. An zentralen Stellen innerhalb der Regierung, der Gesetzgebung und Rechtsprechung wurden behinderte Menschen aus der südafrikanischen Behindertenbewegung gesetzt. Direkt im Präsidentenamt gibt es ein Office on the Status of Disabled Persons, in dem behinderte ExpertInnen das Sagen haben. Im südafrikanischen Verfassungsgericht sitzen zwei behinderte Verfassungsrichter. Südafrika ist mit 13 behinderten Abgeordneten weltweit das Land mit der höchsten Anzahl behinderter ParlamentarierInnen. Das ist schon sehr beeindruckend. Andererseits sind auch nach zehn Jahren Demokratie und Post-Apartheid die Mehrzahl behinderter Menschen in Südafrika immer noch erwerbslos und leben in absoluter Armut unter menschenunwürdigen Bedingungen. Das gilt insbesondere für schwarze Behinderte, die nur zu einem ganz geringen Teil vernünftige Schulabschlüsse oder Ausbildungen haben.

Wie kommt diese starke Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen zustande? Wird Behinderung auch kukturell anders wahrgenommen? Oder konnte man aufgrund der Apartheid-Politik die Notwendigkeit eine Anti-Rassismus-Behindertenpolitik besser nachvollziehbar machen?

Einerseits wurden viele FreiheitskämpferInnen durch Folter und anderen Polizeiterror behindert. Außerdem haben am gemeinsamen Kampf gegen die Apartheid, auch viele Behinderte teilgenommen. Das hat sicherlich dazu beigetragen, dass der ANC frühzeitig Behinderte neben Frauen und Kindern zu den besonders diskriminierten Gruppen wahrgenommen hat.

Wie passt die Menschenrechtskonvention für Behinderte zur allgemeinen Entwicklung in Sachen Bioethik, die ja auch im internationalen Raum ihre Spuren hinterläßt: Wird es Menschenrechte für Behinderte geben, aber keine Behinderten mehr, die in den Industriestaaten leben?

Ich hoffe, dass die Menschenrechtskonvention für Behinderte hier hoffentlich deutliche Akzente setzen und einen Standard setzen wird, hinter den nicht mehr zurückgegangen werden kann und der die zugespitzte Entwicklung, die du beschreibst verhindert. So ist im gegenwärtigen Konventions-Entwurf als allgemeiner Grundsatz der Respekt vor der Unterschiedlichkeit und Akzeptanz von Behinderung als Teil der menschlichen Vielfältigkeit in Artikel 2 d) verankert. Zusammen mit dem Diskriminierungsverbot und dem Recht auf Leben kann dieser Grundsatz eine wichtige Argumentationshilfe sein, den es zu Nutzen gilt.

 

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