Mollath frei
08.08.2013 | AutorIn: Dr. Oliver Tolmein | Recht
Maßregelvollzug geht weiter
Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein hohes Gut. Der Fall Mollath zeigt jedoch, dass lang anhaltender öffentlicher Druck die Justiz beeinflussen kann. Das ist keine schlechte Nachricht – denn Unabhängigkeit zu wahren, verlangt nicht, sich von der Gesellschaft abzusondern. Im Gegenteil: Richter sind auch nur „Staatsbürger in Robe“.
Der Fall Mollath hat das Augenmerk der Öffentlichkeit auf die forensische Psychiatrie gelenkt. Auf jene Fälle, in denen Menschen nach Straftaten wegen verminderter oder fehlender Schuldfähigkeit in den Maßregelvollzug geschickt worden sind.
Dort verbringen sie dann wegen ihrer vermeintlichen Gefährlichkeit Jahre, nicht selten den Rest ihres Lebens in Unfreiheit. Wären sie schuldfähig, hätten sie für die gleichen Taten oft nicht mehr als eine Bewährungsstrafe kassiert.
Das Bundesjustizministerium hat vor kurzem aus Anlass der Debatten um den Fall Mollath viel zu wenig beachtete Eckpunkte für eine Reform des Maßregelvollzugsrechts vorgelegt und darauf hingewiesen, dass sich in den vergangenen 16 Jahren (bezogen auf die alten Bundesländer) die Zahl der im Maßregelvollzug untergebrachten Straftäter mehr als verdoppelt hat – und die Zahlen steigen weiter an.
Das Ministerium führt den steilen Anstieg der Unterbringungen auf weniger Entlassungsempfehlungen seitens der Sachverständigen, auf stärkeres Sicherheitsdenken und auf eine „punitive Grundstimmung in der Kriminalpolitik“ zurück. Das klingt plausibel – und wirft gleichzeitig die Frage auf, wieso der Fall Mollath in der ansonsten eher sicherheitsfixierten Öffentlichkeit, in der Toleranz gegenüber psychisch Kranken nicht gerade groß geschrieben wird, eine so vehemente Justiz- und Psychiatriekritik mobilisiert? Es waren wohl Mollaths Attacken gegen die „Schwarzgeldverschiebungen“ und die ungebrochene Gewissheit seiner Anhänger, dass ihr 56-jähriger Held zu Unrecht verurteilt wurde, die diese untypische Sympathie für einen Untergebrachten beförderten.
Auf Mollaths Täterschaft oder Unschuld sollte es in der gesellschaftspolitischen Diskussion aber nicht ankommen. Die meisten der Menschen, die im Maßregelvollzug landen, haben tatsächlich Vorschriften des Strafgesetzbuchs verletzt. Sie haben Sachen zerstört, Matratzen in Brand gesteckt, Menschen blutig geschlagen oder sogar getötet – und dennoch sind viele von ihnen Opfer von Justiz und Psychiatrie.
Sie bezahlen wegen angeblicher oder tatsächlicher psychischer Erkrankungen und der vertrackten Gefährlichkeitsprognose, der so ungeheuer schwer zu entkommen ist, einen weitaus höheren Preis für ihren Rechtsverstoß als Menschen, denen keine völlige oder verminderte „Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ attestiert wird.
Wie diese „seelischen Störungen“ festgestellt werden, was heutzutage alles unter dem Etikett „psychische Erkrankung“ gefasst und wie bestürzend eng „Normalität“ gefasst wird, ist ein weiteres Thema, das nicht nur in der öffentlichen Debatte, sondern auch in den psychiatrischen und juristischen Fachdiskursen aufgegriffen werden sollte. Wenn das gelingt und wenn die gravierenden Benachteiligungen beseitigt werden, die die Unterbringung im Maßregelvollzug heute mit sich bringen, hat die Gesellschaft durch den Fall Gustl Mollath gelernt.