Neue Gesetz-Entwürfe zu "Kind als Schaden"

21.01.2002 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Frankreich und der BGH beschäftigen sich mit ethischen Voraussetzungen einer behindertenfeindlichen Rechtsprechung

FAZ vom 21.01.2002: Die Debatte um das neue französische Gesetz, das verhindern soll, dass Kinder mit Behinderungen weil sie geboren wurden auf Schadenersatz klagen, hat auch fü Deutschland Relevanz. Der BGH muss demnächst prüfen, ob seine ständige Rechtsprechung um "Kind als Schaden" auch zum neuen § 218a StGB passt.

"Wir rennen nicht dem Tod entgegen, wir fliehen vor der Katastrophe der Geburt", notierte E. M. Cioran in seinen Überlegungen "Vom Nachteil, geboren zu sein". Die Vorstellung, Schadenersatz dafür verlangen zu können, daß man auf die Welt gekommen ist, hätte den radikalen Skeptiker wahrscheinlich erheitert und zugleich noch tiefer in die Verzweiflung getrieben. Das französische Parlament, dessen Abgeordneten eine entschieden optimistischere Sicht der Welt zu eigen ist, müht sich nun, der Debatte über das mit dem so nüchternen wie grauenhaften Begriff "wrongful life" etikettierte Thema den existenzphilosophischen Gehalt zu nehmen und sie gut geordnet zu einem Abschluß zu bringen. Das Gesetz, das nach den zwei Schadenersatzentscheidungen der Cour de Cassation (F.A.Z. vom 10. Januar) im Eiltempo beschlossen wurde, trägt denn auch den pathetischen Titel: "Gesetz zur nationalen Solidarität mit und über die Entschädigung von Menschen mit angeborenen Behinderungen".

Der Doppeltitel ist dem Paradox geschuldet, daß den davon Betroffenen etwas genommen werden soll, nämlich ein Schadenersatzanspruch, um ihnen etwas zu geben, nämlich die Chance einer besseren Integration in die Gesellschaft. Dabei ist der Abschnitt, der die "nationale Solidarität" zum Thema hat, klug gedacht: Daß ein wichtiges Motiv für Eltern, sich gegen Kinder mit Behinderungen zu entscheiden oder in deren Namen Schadenersatzklagen einzureichen, die miserable materielle Lage von Behinderten ist, zweifelt kaum jemand an. Die Lösung, die das Gesetz bietet, ist allerdings denkbar unbestimmt: Es gibt den Auftrag, zu untersuchen, wie die materielle Lage von Menschen mit Behinderungen ist, wie es um ihre Integration steht und was zu tun ist, um spürbare Verbesserungen zu erreichen. Die Schadenersatzansprüche betreffende Regelung ist demgegenüber klar und einfach: Schadenersatzansprüche der Kinder soll es nicht mehr geben, Ansprüche der Eltern dagegen weiterhin. Damit könnte die Lage in Frankreich so werden, wie sie in etlichen westlichen Staaten schon ist, wo den Eltern, nicht aber den Kindern Ansprüche gegen Ärzte eingeräumt werden, wenn diese es nicht geschafft haben, im Verlauf der Schwangerschaft eine drohende Behinderung festzustellen und damit die Möglichkeit zum Abbruch der Schwangerschaft zu geben.

Daß das Leben eines Kindes mit Behinderung damit nicht mehr als Schaden für es selbst, wohl aber als Schaden für seine Familie betrachtet wird, wird allgemein als akzeptabel angesehen. Warum eigentlich? Gesteht man dem Kind selbst einen Schadenersatzanspruch zu, räumt man ihm immerhin einen Status als handelndes Subjekt ein und erhält die Überlegung wach, daß es vor allem darauf ankommen müßte, ob das Leben dem Menschen, der es lebt, selbst unerträglich sein könnte. Allerdings handelt es sich dabei um eine Fiktion, schlimmer noch, um eine Projektion außenstehender Nichtbehinderter, die die Verknüpfung von Behinderung und "Unerträglichkeit des Seins" vornehmen. Insofern ist die Idee eines solchen Schadenersatzanspruches diskriminierend. Verbleibt der Schadenersatzanspruch aber bei den Eltern, wird dadurch nichts besser, sondern alles schlimmer: Es wird nämlich damit nicht nur grundsätzlich zugestanden, daß die Eltern ein Verfügungsrecht über ihr Kind haben, das ihnen erlaubt, dessen Existenz von seiner Beschaffenheit abhängig zu machen. Konkret wird in jedem Verfahren zudem ganz offen ein Unwert-Urteil von außen über das Leben dieses Kindes gesprochen.

Die Auseinandersetzung um das französische neue Gesetz kreist um Themen, die in den nächsten Wochen auch in der Bundesrepublik auf der Tagesordnung stehen. Zwar haben der Bundesgerichtshof und der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in den vergangenen Jahren eine ständige Rechtsprechung entwickelt, die Eltern in den "Kind als Schaden"-Fällen grundsätzlich Schadenersatzansprüche zugesteht. Alle diese Fälle basierten aber bislang auf der bis 1995 geltenden alten Fassung des § 218a StGB, der eine Abtreibung bei sogenannter embryopathischer Indikation erlaubte, das heißt, wenn das Kind "an einer nicht behebbaren Schädigung seines Gesundheitszustandes leidet". Mit dem Wegfall dieser Indikation im neuen § 218a StGB ermöglicht aber nur noch die medizinische Indikation des § 218a Absatz 2 StGB eine nicht rechtswidrige Abtreibung nach der zwölften Schwangerschaftswoche. Nicht die mögliche Behinderung des Embryos, sondern die Gefahr für das Leben beziehungsweise die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes der Schwangeren soll dem Wortlaut nach die Indikation begründen.

Voraussetzungen für Schadenersatzansprüche wegen der Geburt eines nicht gewollten Kindes, darauf hat der 6. Zivilsenat des BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2000 ausdrücklich hingewiesen, ist nun aber, daß der Schutz vor wirtschaftlichen Belastungen Gegenstand des jeweiligen Vertrages mit dem Arzt ist. "Die Rechtsprechung des BGH zu den Schadenersatzansprüchen wegen der Geburt eines behinderten Kindes aufgrund ärztlichen Fehlverhaltens läßt sich mit der medizinischen Indikation kaum vereinbaren", argumentiert die auf Fragen des Medizinrechts spezialisierte Rechtsanwältin Ulrike Riedel. "Denn wenn die Abtreibung nur hätte erfolgen können, wenn die Mutter in Gefahr ist, dann hat der Arzt, wenn die Abtreibung aufgrund ärztlichen Fehlverhaltens unterbleibt, zwar vielleicht seine Pflichten aus dem Arztvertrag verletzt, aber dieser Vertrag umfaßt jedenfalls nicht den Schutz vor wirtschaftlichen, sondern eben vor gesundheitlichen Belastungen."

Klärung erwartet sich die Juristin, die auch als Sachverständige Mitglied der Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" ist, von einem Verfahren, das der 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs am 8. Januar dieses Jahres zur Revision angenommen hat, weil es sich dabei erstmals um einen Fall nach dem neuen Recht handelt. Eine Entscheidung über den Fall, bei dem der Mutter eines 1996 mit Fehlbildungen an Armen und Beinen geborenen Kindes Schmerzensgeld und Schadenersatz zugesprochen wurde, wird in der ersten Jahreshälfte erwartet.

Allerdings will die Enquetekommission nicht abwarten und darauf hoffen, daß die Justiz ihre Rechtsprechung selbst überprüft. Im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit "Pränataldiagnose" und "Genetischen Daten" haben die Abgeordneten und Sachverständigen sich auch kritisch mit der "Kind als Schaden"-Rechtsprechung befaßt. Die Kommission berät derzeit über eine Empfehlung für eine gesetzliche Regelung an den Bundestag. Das Parlament soll demnach Schadenersatzansprüche, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Tatsache stehen, daß ein Kind überhaupt geboren wurde, gesetzlich ausschließen. Damit würde der Bundestag einen Schritt weiter gehen als das französische Parlament, weil auch Schadenersatzansprüche der Eltern ausgeschlossen oder in ihrem Umfang zumindest erheblich eingeschränkt würden.

Möglich wäre vielleicht noch, zwar nicht den gesamten Unterhalt, wohl aber den sogenannten "behinderungsbedingten Mehraufwand" einzuklagen. Nach Auffassung der Juristin Theresia Degener, einer Spezialistin für Fragen des Antidiskriminierungsrechts, ist aber auch ein so eingeschränkter Schadenersatzanspruch nicht akzeptabel, weil das Kind dadurch nicht so akzeptiert werde, wie es ist, sondern als ein Kind, das besondere Kosten verursache, die man versuchen müsse woanders einzutreiben. Die zweifellos größere finanzielle Belastung, die Familien mit behinderten Kindern zu tragen hätten, ist nach Ansicht von Professor Degener nicht durch Schadenersatzansprüche, die eine "Schuld" für die Behinderung voraussetzten, aufzufangen, sondern durch ein Sozialrecht, das Menschen, die von Geburt an behindert sind gegenüber Unfallgeschädigten oder Kriegsopfern nicht länger benachteilige. "Die Chance, so ein Gesetz zu schaffen, das nicht zuerst nachfragt, wieso jemand behindert ist, sondern was er für Unterstützung benötigt, hat die rot-grüne Koalition aber mit dem letztes Jahr beschlossenen Sozialgesetzbuch IX erst einmal vertan, das in dieser entscheidenden Frage nicht entschlossen mit dem alten Kausalitätsprinzip bricht."

Die Enquetekommission, die sich auf die Entwicklungen der Medizin zu konzentrieren hat, wird allerdings kaum empfehlen, das Sozialgesetzbuch IX wieder zu ändern. An diesem Punkt wird die Schwäche eines auf Ethik sich konzentrierenden, sozialpolitische Fragen aussparenden Ansatzes in der Auseinandersetzung mit dieser Thematik deutlich.

Allerdings werden die Experten und Parlamentarier der Enquetekommission dem Bundestag zusätzlich wohl empfehlen, daß die Regelung der "Kind als Schaden"-Konstellation auch einen Haftungsausschluß für Ärztinnen und Ärzte beinhalten soll, wenn sie der Schwangeren pränatale Diagnosen nicht anbieten, die keine Therapie- oder Präventionsmöglichkeiten eröffnen. Eine solche Vorschrift soll es ermöglichen, die pränatale Diagnostik einzudämmen, die in den letzten Jahren selbst nach Meinung von Humangenetikern, die Anfang der achtziger Jahre noch ihrer Ausweitung das Wort geredet hatten, dramatisch zugenommen hat. Ein sprunghafter Anstieg war vor allem nach dem ersten Urteil des BGH zum Schadenersatz nach Geburt eines behinderten Kindes 1984 zu verzeichnen gewesen.

Allerdings könnte es sich als schwierig erweisen, eine Verständigung darüber zu erzielen, welche der pränataldiagnostischen Untersuchungen keine Therapiemöglichkeiten eröffnen. Befürworter des umfassenden Einsatzes von Triple-Test und Fruchtwasseruntersuchung argumentieren, daß beispielsweise auch die frühzeitige Diagnose einer Trisomie 21 (bekannt als Down-Syndrom) therapeutischen Nutzen insofern in sich bergen könnte, als sie eine bessere nachgeburtliche Betreuung eines solchen, meist auch herzgeschädigten Kindes ermögliche. Tatsächlich führt die pränatale Diagnose einer Trisomie 21 allerdings nicht zu besseren Geburtsvorbereitungen, sondern fast immer zum Abbruch der Schwangerschaft.

Ähnliche Debatten wie in Frankreich und Deutschland finden sich derzeit auch in anderen Rechtsordnungen. So steht im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin in diesem Monat das Gesetz AB 360 auf der Tagesordnung des Parlaments, das jede Form von Schadenersatzansprüchen wegen "wrongful birth" ausschließen soll. Bemerkenswert an diesen Auseinandersetzungen ist, daß erst jetzt, Jahrzehnte nachdem die Pränataldiagnose in großem Umfang eingeführt und ausgeweitet worden ist, die gesellschaftlichen Folgen außerhalb von Expertenkreisen als besorgniserregend wahrgenommen werden. Die Fähigkeit zu realisieren, wie der medizinische Fortschritt die soziale Wirklichkeit verändern kann, ist offensichtlich weitaus weniger ausgeprägt als der Optimismus, den das Neue stimuliert. Kein Wunder also, daß parallel zum bemühten Versuch, die Konsequenzen der ersten Stufe der Pränataldiagnostik in den Griff zu bekommen, die Debatte über die Etablierung der zweiten Stufe der vorgeburtlichen Selektion, die Präimplantationsdiagnostik, vorangetrieben wird, als wäre nichts geschehen.

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Weiterführende Links

    Das französische neue Gesetz zu Geburt als Schaden | http://www.assemblee-nat.fr/propositions/pion3431.asp
    Konservative Juristen-Kritik an der deutschen "Kind als Schaden"-Rechtsprechung | http://www.juristen-vereinigung-lebensrecht.de/schriften/zfl1998/01/thema.html
    Links zu BGH-Entscheidungen zu "wrongful life" | http://www.uni-koeln.de/jur-fak/lbrah/vorlesungen/doc_schuldr_bt.htm

 

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