Objektiv empfinden

07.05.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Neue Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.05.2004, Nr. 106 / Seite 40: Schon die letzten Grundsätze der bundesärztekammer zur Sterbebegleitung waren umstritten. Die neuen Grundsätze machen nichts besser.

Wer wem in welcher Form und unter Zuhilfenahme welchen Gerichts am besten aus dem Leben helfen dürfen soll, ist ein Thema, das kaum eine politische Institution, die auf sich hält, derzeit mit Schweigen übergehen möchte. Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz, die Enquêtekommission des Deutschen Bundestages, eine parteiübergreifende Gruppe von Bundestagshinterbänklern, allerlei Interessengruppen - und jetzt auch noch die Bundesärztekammer: jede und jeder präsentieren Handlungsrichtlinien oder Gesetzesvorschläge, als würde das oft klägliche Sterben vereinsamter Menschen in Kliniken und Altenheimen schon allein durch den hohen Ausstoß von Beschlußvorlagen erträglicher. Die neuen Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung sind allerdings ein besonders irritierender Fall von fehlgeleiteter Aktivität. Im Sommer wird die Kommission des Bundesjustizministeriums unter Leitung des ehemaligen BGH-Richters Kutzer einen umfassenden Vorschlag zur Sicherung der Rechte von Patienten am Lebensende fertiggestellt haben. In dieser Kommission arbeitet unter anderen der Präsident der Bundesärztekammer, Eggert Beleites, mit. Der Vorschlag der Kutzer-Kommission wird darauf zielen, zentrale aktuelle Streitfragen der Sterbehilfedebatte zu klären, beispielsweise die Rolle der Vormundschaftsgerichte beim Abbruch lebenserhaltender Behandlungen. Eine besondere Dringlichkeit, kurz vorher neue ärztliche Grundsätze zu diesem Thema zu präsentieren, ist nicht erkennbar - zumal der unbefangene Leser Schwierigkeiten haben wird festzustellen, wie sich die im stillen erarbeiteten Grundsätze von denen unterscheiden, die vor sechs Jahren nach harten, öffentlich ausgetragenen Kontroversen beschlossen wurden. Für diejenigen aber, die gerne zwischen den Zeilen lesen, bieten die neu formulierten Grundsätze einigen Stoff zur Auslegung. Bemerkenswert erscheint vor allem die neu eingearbeitete Behauptung, daß "Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr für Sterbende eine schwere Belastung darstellen können", die dann mit der rätselhaften Forderung relativiert wird: "Jedoch müssen Hunger und Durst als subjektive Empfindungen gestillt werden." Auch wenn man nicht weiß, ob objektive Empfindungen vorstellbar sind und wie subjektive gestillt werden können, ahnt man: Die Bundesärztekammer müht sich, mit dem Zeitgeist ins reine zu kommen. Deswegen wird auch die schon 1998 kritisierte Unterstellung beibehalten, daß Patienten im Wachkoma sich in einem Stadium "anhaltender Bewußtlosigkeit" befinden, obwohl gerade das nach neuen medizinischen Erkenntnissen äußerst zweifelhaft ist. Dafür wird an mehreren Stellen der neuen Grundsätze akzentuiert, welche Bedeutung dem in Form von Patientenverfügungen artikulierten Selbstbestimmungsrecht zukommt, ohne auch nur einmal die vielfach geäußerten Bedenken angesichts des Zustandekommens dieser oftmals pauschalen Verfügungen zu reflektieren. Wichtiger, als solche wenig neuen Grundsätze zur Sterbebegleitung zur Unzeit in die Diskussion zu werfen, wäre es für die Bundesärztekammer gewesen, sich für die Etablierung der Palliativmedizin einzusetzen, damit Ärzte im Studium nicht nur Grundsätze der Sterbebegleitung studieren und auslegen lernen, sondern auch die Behandlung sterbender Patienten.

Unter Jura Veröffentlichungen auf dieser Homepage finden Sie einen Aufsatz von mir aus der Zeitschrift MedR (Medizinrecht), der sich kritisch mit dem Entwurf der Grundsätze der BÄK von 1998 auseinandersetzt.

Weiterführende Links

    Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung | http://www.bundesaerztekammer.de/30/Richtlinien/Empfidx/Sterbebegleitung2004/index.html

 

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