Pflicht zur Selbstbestimmung?

11.10.2011 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Medizinethik allgemein

Erklärungslösung, Entscheidungslösung und der andere Weg der Eidgenossen

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.10.2011 Seite 33: Von der Ethik der Autonomie, die sich in biopolitischen Wegentscheidungen durchgesetzt hat, hört man in der Debatte um Organspenden wenig. Die Reformpläne des Schweizer Gesetzgebers zeigen: Der Entscheidungszwang ist nicht alternativlos.

Für Gesetzgeber und Exekutive erweist sich das Unterfangen, die Organspende neu zu regeln, als Herausforderung der besonderen Art. Ein Gesetzentwurf zu organisatorischen Fragen, mit dem eine EU-Richtlinie über Qualitäts- und Sicherheitsstandards umgesetzt werden soll, befindet sich im Gesetzgebungsverfahren, ohne besondere Beachtung auf sich zu ziehen. Dagegen hat das Projekt eines zweiten Gesetzes, das schon im kommenden Frühjahr verabschiedet werden soll, heftigen Streit ausgelöst. Wo es aber in der Vergangenheit bei Gesetzesvorhaben zu bioethischen Themen stets erhebliche Differenzen innerhalb des Parlaments gab, erscheint das Spektrum der Positionen, die in der Auseinandersetzung um die Überarbeitung des Transplantationsgesetzes bislang an die Öffentlichkeit getreten sind, eher schmal. Das ist überraschend. Der biopolitische Diskurs, wie er dann auch in Gesetzen Gestalt gewonnen hat, war bislang stark durch den positiven Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht von Menschen geprägt. In der Debatte über Organspenden greift jetzt ein Gedanke Raum, der aus der entgegengesetzten Intuition folgt: der Gedanke, dass es eine Pflicht, wenn auch nicht direkt zur Preisgabe eigener Organe nach dem Hirntod, so doch zur Vorwegnahme der Entscheidung über die Bereitschaft dazu geben sollte. Das Potential für einen Wertkonflikt ist also vorhanden.

Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr macht allerdings kurz vor der ausdrücklichen Statuierung einer Pflicht halt und schlägt nur eine sogenannte Erklärungslösung vor. Obwohl sein Entwurf vom Wortlaut des gegenwärtig geltenden Transplantationsgesetzes nur geringfügig abweicht, führt er in eine andere ethische Region, in der nicht mehr die Freiwilligkeit regiert, sondern die allgemein akzeptierte Erwartung. Unter dem geltenden Recht sind es noch die Krankenkassen, die aufgefordert sind, ihren Mitgliedern Unterlagen über die Organspende zur Verfügung zu stellen „mit der Bitte, eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abzugeben“. Künftig sollen sie diese Mitglieder dazu „auffordern“, eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende in einem Organspendeausweis zu dokumentieren.

In der SPD geht man noch weiter und verficht ein Konzept, das dem Bürger eine Entscheidung zwingend abverlangen soll. Die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, Carola Reimann (SPD), will die Krankenkassen dazu verpflichten, alle fünf Jahre eine Entscheidung zur Organspende von ihren Versicherten einzuholen. Der Entwurf lässt allerdings offen, wie die Krankenkassen die Verpflichtung gegebenenfalls durchsetzen sollen. Die Bundesärztekammer, die sich anfangs auch für die sogenannte Entscheidungslösung ausgesprochen hat, ist mittlerweile aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken umgeschwenkt und plädiert nunmehr für die Erklärungslösung. Grundlegende Kritik an beiden Entwürfen, die dem Ziel verpflichtet sind, die Zahl der postmortalen Organspenden zu steigern, formuliert öffentlich bislang nur ein außerparlamentarisches „Bündnis gegen die Widerspruchs- und Erklärungsregelung bei Organspenden“. Das „Bündnis“ behauptet, die Öffentlichkeit werde einseitig informiert.

Einen bemerkenswerten Kontrast zur deutschen Debatte stellen die Bestrebungen in der Schweiz dar, das dortige Transplantationsgesetz zu reformieren. In der Schweiz, wo ebenfalls die erweiterte Zustimmungslösung gilt, also im Zweifelsfall die Angehörigen befragt werden, ist die Diskussion ebenso wie in Deutschland in Gang gekommen, weil die Zahl der postmortalen Spender mit 13,3 pro eine Million Einwohner im europäischen Vergleich niedrig ist und insbesondere nicht an die knapp 34 Spender pro eine Million Einwohner heranreicht, die in Spanien gezählt werden. Die Lebendspende spielt in der Schweiz eine ungleich wichtigere Rolle als in Deutschland. Außerdem werden mittlerweile auch Organe von Patienten nach Herz-Kreislauf-Stillstand, sogenannten Non-Heart-Beating-Donors, entnommen. Bei unseren Nachbarn ist von einer Erklärungs- oder Entscheidungspflicht nicht die Rede.

Die Reform des schweizerischen Transplantationsgesetzes setzt stattdessen bei der besseren Unterstützung und lebenslangen gesundheitlichen Versorgung der Lebendspender an. Für sie ist eine eigene Stiftung gegründet worden, die durch das überarbeitete Gesetz finanziell deutlich besser ausgestattet wird. Der Gesetzgeber hat einen umfassenden „Vergleich des Organspendewesens in der Schweiz und in Spanien“ anstellen lassen – im Ergebnis wird infolgedessen der Ausbau einer Koordinatoren-Infrastruktur befürwortet, die nicht nur bewirken soll, dass mehr potentielle Spender gemeldet werden, sondern auch, dass weniger Angehörige die Zustimmung zu einer Organentnahme verweigern – ein Effekt, der in der Schweiz derzeit besonders häufig in Krankenhäusern ohne neurochirurgische Abteilung zu verzeichnen ist.

Die Schweizer Parlamentarier erörtern im Unterschied zu ihren deutschen Kollegen die Frage, wie die Einwilligung in die einer Organentnahme vorangehenden, vorbereitenden medizinischen Maßnahmen erfolgen soll. In engem Zusammenhang damit steht die Frage, wann mit den Angehörigen über eine eventuell beabsichtigte Organentnahme zu sprechen ist.

Die Antwort des Schweizer Gesetzgebers auf die beiden Fragen ist nicht eindeutig. In den Erläuterungen zum Reformentwurf wird betont, dass die Angehörigen erst nach der ärztlichen Entscheidung, alle lebenserhaltenden Maßnahmen abzubrechen, aber vor der Diagnose des Todes befragt werden sollen, ob sie die Zustimmung zur Organentnahme erteilen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung über den Verzicht auf den Einsatz aller Kräfte für den Erhalt des Lebens und die Entscheidung über eine eventuelle Organspende klar voneinander getrennt sind. Gleichzeitig hebt der Gesetzentwurf hervor, dass auch alle Maßnahmen, die ergriffen werden, um Organe und Gewebe zu erhalten, eine Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters voraussetzen. Da zweifelhaft erscheint, dass diese Maßnahmen wirklich immer erst dann ergriffen werden, wenn die Entscheidung zum Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung schon getroffen ist, tut sich hier ein Spannungsfeld auf, über das in der Schweiz immerhin diskutiert wird. In Deutschland nicht.

Die neue Schweizer Regelung verlangt auch, dass die organerhaltenden Maßnahmen den Spender allenfalls minimalen Risiken und Belastungen aussetzen. Gemeinsam ist den Entwürfen in der Schweiz und in Deutschland allerdings, dass sie keine unabhängige Beratung zur Organspende vorsehen. Frau Reimanns Entwurf sieht in dieser Hinsicht lediglich eine zweckgerichtete Aufklärung über die Voraussetzungen einer Organspende und über deren Bedeutung vor. Im Entwurf des Gesundheitsministeriums wird den Krankenkassen aufgegeben, ihren Versicherten gegenüber „fachlich qualifizierte Ansprechpartner für Fragen zur Organ- und Gewebespende“ zu nennen. Auch das klingt nicht nach umfassender und gar ergebnisoffener Beratung.

Noch deutlicher wird diese Begrenzung auch in diesem Entwurf, wenn es im neuformulierten Paragraphen 2 eher drohend heißt, die Kassen müssten die Bevölkerung auch „über die Rechtsfolgen einer unterlassenen Erklärung im Hinblick auf das Entscheidungsrecht der nächsten Angehörigen“ aufklären. Dabei ist die Rechtsfolge einfach: Die nächsten Angehörigen müssen entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen entscheiden. Vergleichbar ist es übrigens auch geregelt, wenn jemand es unterlassen hat, eine Patientenverfügung zu verfassen – der gesetzliche Vertreter muss dann entsprechend dem mutmaßlichen Willen entscheiden.

Einen wesentlichen Unterschied gibt es aber: Niemand darf gezwungen werden, eine Patientenverfügung zu verfassen. Dagegen will der Gesetzgeber von jedem Bürger verlangen, eine Erklärung zur Organentnahme zu verfügen. So wird das Selbstbestimmungsrecht in Gesundheitsangelegenheiten in eine faktische, möglicherweise sogar förmliche Verpflichtung zur Selbstbestimmung überführt. Das, was so bewilligt wird, ist jedenfalls keine freie Spende mehr. Trotzdem möchte sich der Staat wohl auch aus Kostengründen weigern, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die es den Bürgern erleichtern würden, die Entscheidung, zu der sie gedrängt werden, informiert zu treffen. Das erscheint auch verfassungsrechtlich bedenklich.

 

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