Prinzip Entlastung

13.05.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

XII. Zivilsenat des BGH läßt Euthanasie in weitem Umfang zu

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2003, Nr. 110 / Seite 35: Eine Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes zu Sterbehilfe will dem Patientenwillen freie Bahn verschaffen und droht den Lebensschutz für schwer hirnverletzte weitgehend preiszugeben. Der Beschluss wird aber auch von Befürwortern der Sterbehilfe angegriffen, weil er zwar willensstark ist, aber unklar analysiert und argumentiert.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird nicht selten beklagt, das Bundesverfassungsgericht maße sich eine Rolle als Super-Revisionsinstanz an. Insbesondere mit Blick auf "Euthanasie" kristallisiert sich nun heraus, daß der Bundesgerichtshof sich als Ersatzgesetzgeber versteht - ohne daß er dafür allerdings nennenswerte Kritik erntete. In einem Zeitraum von gut neun Jahren haben der 1. Straf- und der 12. Zivilsenat des BGH mit ihrer Rechtsprechung die Tötung durch Unterlassen der lebenserhaltenden künstlichen Ernährung von einwilligungsunfähigen Menschen, die schwer hirngeschädigt sind, unter Betreuung stehen und sich nicht eigenständig artikulieren können, am Gesetzgeber vorbei legalisiert. Den ersten großen Schritt nach vorne unternahm 1994 der 1. Strafsenat, als er ein ohnedies schon mildes Urteil des Landgerichts Kempten aufhob, mit dem ein Arzt und ein Betreuer wegen versuchten Totschlags an einer alten, hirngeschädigten Frau zu einer Geldstrafe verurteilt worden waren, weil sie das Pflegepersonal angewiesen hatten, die lebenserhaltende künstliche Ernährung der weiter nicht behandlungsbedürftigen Frau zu beenden, um ihrem Leben so ein Ende zu setzen. Der Bundesgerichtshof entwickelte die Idee, es könne eine Sterbehilfe auch für Menschen geben, die sich noch gar nicht im Sterben befinden, und diese "Hilfe zum Sterben", die tatsächlich nichts anderes als eine "Tötung durch Unterlassen" ist, könne durch Betreuungsrecht oder mutmaßliche Einwilligung der betreffenden Patienten gerechtfertigt sein.

Mit seiner am 10. April veröffentlichten Entscheidung in einem etwas anders gelagerten Fall (F.A.Z. vom 11. April) hat jetzt der 12. Zivilsenat diese juristische Konstruktion mit Blick auf das Betreuungsrecht modifiziert und damit für den juristischen Alltag tragfähig gestaltet. Im Ergebnis wird Betreuungsgerichten die Verantwortung zugewiesen, Entscheidungen eines Betreuers für den Abbruch lebenserhaltender Behandlungen bei schwer hirngeschädigten Patienten zu überprüfen. Daß es dafür im Betreuungsrecht nicht einmal eine analog anwendbare Vorschrift gibt, hat die BGH-Richter wenig gestört: Sie haben nach dem Grundsatz, je schwächer das Argument ist, desto mächtiger muß die These formuliert sein, kurzerhand und denkbar allgemein auf eine "Gesamtschau des Betreuungsrechts" zurückgegriffen und das "unabweisbare Bedürfnis" konstruiert, "mit den Instrumenten dieses Rechts auch auf Fragen im Grenzbereich des menschlichen Lebens und Sterbens für alle Beteiligten rechtlich verantwortbare Antworten zu finden".

Ziel dieser Rechtsfindung ist nicht nur der Schutz des Betreuten, um dessen Leben es geht, sondern, wie der Bundesgerichtshof detailliert ausführt, auch Fürsorge für den Betreuer, dem die Last aufgebürdet sei, eine Entscheidung für oder gegen eine lebenserhaltende Behandlung zu treffen. Das Recht könne aber vom einzelnen nichts Unzumutbares verlangen, weswegen der Betreuer entlastet werden müsse. "Das Prüfungsverfahren vermittelt der Entscheidung des Betreuten damit eine Legitimität, die geeignet ist, den Betreuer subjektiv zu entlasten sowie seine Entscheidung objektiv anderen zu vermitteln." Der 12. Zivilsenat bedenkt nicht, daß mit dieser Begründung für eine Prüfungskompetenz der Vormundschaftsgerichte zugleich ein schwerwiegender Einwand formuliert ist. Die Entscheidung, die einen Betreuer belasten kann, ist nicht die Entscheidung, einen Menschen mit einer Lebensperspektive von oftmals vielen Jahren mit der nötigen Nahrung zu versorgen, damit er weiterleben kann. Belastend ist die Entscheidung, gezielt durch Abbruch der Ernährung einen Tod vor der Zeit herbeizuführen.

Selbst wenn man davon ausgeht, daß so ein Abbruch unter Umständen nicht strafbar oder sogar rechtmäßig sein sollte, ist doch zu fragen, wieso es Aufgabe eines Gerichts sein soll, die Entscheidung gegen das Leben eines Menschen, der sich nicht im Sterben befindet, zu erleichtern - nichts anderes ist aber die Konsequenz dessen, was der 12. Zivilsenat als "Entlastung" beschreibt. Diese Frage drängt sich um so mehr auf, wenn man sich vergegenwärtigt, wodurch der Betreuer entlastet werden kann: Entweder wird die Verantwortung delegiert oder sie verflüchtigt sich. In dem einen Fall trüge nunmehr der Vormundschaftsrichter die Belastung, was die Frage aufwirft, mit welchem Recht der Richter verpflichtet wird, von nun an über Leben und Tod zu entscheiden - und darum geht es tatsächlich, auch wenn das Gericht formal nur über die Rechtmäßigkeit einer Betreuerentscheidung befinden muß.

Mit Blick auf ein Urteil des OLG München, das das Heimpersonal von der Verpflichtung befreit hat, an der sogenannten "Hilfe zum Sterben", die ein Betreuer initiiert hat, mitzuwirken (F.A.Z. vom 14. Februar), ist zudem zu fragen, was eigentlich geschieht, wenn ein Betreuungsrichter Gewissensgründe geltend macht und die Entscheidung für den Tod eines Betreuten, der noch lange leben könnte, nicht tragen möchte, obwohl sie nach dem Beschluß des BGH rechtmäßig ist. Da es in Deutschland keine Todesstrafe gibt und auch sonst keine Situation, in der die, wie auch immer juristisch bezeichnete, Tötung eines Menschen vorab von einem Gericht genehmigt werden dürfte, ergeben sich hier für Richter ganz neue Konflikte, für die die Befangenheitserklärung ihrem Wesen nach nicht geeignet erscheint, weil es dabei nicht um seine Stellung zu den Parteien geht, sondern um eine persönliche Grundsatzentscheidung, die die verantwortliche Mitwirkung daran, einen Menschen gezielt zu Tode zu bringen, betrifft.

Soll die Verantwortung aber nicht auf den Richter abgewälzt, sondern Entlastung durch Verteilung der ethischen Last erreicht werden, droht die Gefahr, daß hier am Ende niemand mehr Verantwortung für den herbeigeführten Tod eines Menschen trägt: Der Betreuer nicht, weil ihn das Gericht entlastet, das Gericht nicht, weil der Betreuer die Initiative ergriffen hat. Damit aber wäre der Lebensschutz einwilligungsunfähiger, schwer hirngeschädigter Menschen nachhaltig beeinträchtigt.

Immerhin hat der Bundesgerichtshof in seinem Beschluß eine Grenze eingezogen, die schlimmste Auswirkungen der Entscheidung verhindern kann. Wenn das Grundleiden des Betroffenen noch keinen irreversiblen tödlichen Verlauf genommen hat, soll für ein Verlangen des Betreuers, die medizinische Behandlung einzustellen, auch dann kein Raum sein, wenn die Mutmaßungen über die möglichen Wünsche des Patienten in dieser Lage zu dem Ergebnis kämen, daß er nicht mehr behandelt werden möchte. Die "Entscheidungsmacht des Betreuers ist als gesetzliche Vertretungsmacht an rechtliche Vorgaben gebunden" und nur im Rahmen dieser durch das Strafrecht vorgegebenen Bindung "kann sie sich gegenüber der Verpflichtung des Arztes, das Leben des Patienten zu erhalten" durchsetzen. Allzu große Hoffnungen auf die Wirkung dieser Grenzziehung sind allerdings unangebracht, denn es zeigt sich in der Praxis, daß viele Vormundschaftsgerichte entgegen einer starken Tendenz in der Medizin, die die Wahrnehmungsfähigkeiten dieser Patienten betonen und ihre Krankheit als chronisch, aber nicht tödlich ansehen, stets zu der Ansicht kommen, daß bei Menschen im "vegetative state", dem sogenannten Wachkoma, ein "irreversibler tödlicher Verlauf des Grundleidens" zu verzeichnen sei.

Da die betroffenen Patienten keine Stimme haben und auch kein Verfahrenspfleger nach dem Vorbild des englischen Official Solicitor oder wenigstens Interessengruppen als amici curiae für sie auftreten können, wird das Bundesverfassungsgericht mit diesem folgenreichen Stück richterlicher Rechtsfortbildung, das tief in das Lebensrecht einschneiden kann, nicht befaßt werden. Es wäre also der Gesetzgeber gefragt, das Betreuungsrecht so zu ändern, daß dem Vorbehalt des Gesetzes Rechnung getragen und der Lebensschutz für Menschen, die sich nicht bereits im Sterben befinden, jedenfalls besser gewahrt wird, als durch die Rechtsprechung des BGH. Angesichts des jahrelangen Schweigens von Legislative und Exekutive zu diesem Problemkreis und der traurigen Gestalt, die der Bundestag sonst bei der Entscheidung bioethischer Fragen abgibt, müßte dafür aber mehr gesellschaftlicher Nachdruck entfaltet werden, als es gegenwärtig der Fall ist.

Weiterführende Links

    Entscheidung des BGH/XII. Zivilsenats zu Sterbehilfe | http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=b07966be856a6246405930d74b210fc2&client=3&anz=4&pos=1&nr=25809

 

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