Roe gegen Wade und das Recht auf Abtreibung

22.01.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.01.2003, Nr. 18 / Seite 40: Vor dreißig Jahren kippte der US Supreme Court Gesetze, die Abtreibung verboten haben. Heute ist Roe v. Wade auch eine wichtige Entscheidung für die BefürworterInnen bioethischer Argumentationen.

Das erste Treffen fand in einem kleinen verrauchten Café in Dallas, Texas, statt. Die Rechtsanwältinnen Linda Coffee und Sarah Weddington suchten eine Klägerin, mit deren Hilfe sie das Abtreibungsgesetz zu Fall bringen könnten. Norma McCorvey lebte alleine, war dreiundzwanzig Jahre alt, zum dritten Mal schwanger und wollte auf keinen Fall noch ein Kind zur Welt bringen, das sie in ihrer miserablen Lage nur wie zuvor schon ihre beiden ersten zur Adoption freigeben könnte. Norma McCorvey wollte gerne klagen.

Die wenig redegewandte Frau, die eine harte Jugend und die Schule abgebrochen hatte, wollte aber nicht vor Gericht gegen den Staatsanwalt von Dallas, Henry Wade, auftreten. Ihre Anwältinnen, die ihre Wunschkläger, ein verheiratetes, selbstbewußtes Ehepaar, das ein Recht auf Abtreibung einfordern würde, nicht gefunden hatten, willigten ein. Aus Norma McCorvey wurde im Verfahren, das nach drei Jahren mit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten endete, die anonyme Klägerin Jane Roe.

Am 22. Januar 1973, dem Tag der Urteilsverkündung, hatte das kleine Team mit Unterstützung der großen Bürgerrechtsorganisationen und zahlloser Frauengruppen mehr erreicht, als es je zu hoffen gewagt hatte. Nicht nur das texanische Abtreibungsgesetz war für verfassungswidrig erklärt worden - das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten befand mit sieben gegen zwei Stimmen, daß auch alle anderen staatlichen Regelungen, die ein Verbot der Abtreibung im ersten Schwangerschaftstrimester vorsahen, mit der amerikanischen Verfassung nicht vereinbar seien. Erst nach der zwölften Schwangerschaftswoche sollten die Bundesstaaten das Recht haben, Abtreibungsregelungen zu erlassen, die das gesundheitliche Wohl der schwangeren Frau sicherstellen. Und frühestens wenn der Fötus außerhalb des Mutterleibs lebensfähig ist, darf Roe vs. Wade zufolge der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch verbieten, um sein Interesse am Schutz des werdenden Lebens zu realisieren.

Die höchstrichterliche amerikanische Entscheidung steht damit in bemerkenswertem Kontrast zu dem ein Jahr später verkündeten Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts, das eine auf die ersten drei Monate bezogene Fristenlösung für unvereinbar mit dem Grundgesetz hielt und eine Neufassung des § 218a StGB durch den Bundestag deswegen für verfassungswidrig erklärte. Für Norma McCorvey allerdings kam die Liberalisierung des amerikanischen Abtreibungsrechts zu spät: Sie hatte ihr drittes Kind längst entbunden und zur Adoption freigegeben.

Die bahnbrechende Entscheidung hatte Harry Blackmun verfaßt, ein eher konservativer Jurist, den Präsident Nixon 1970 ins Amt befördert hatte, nachdem zwei andere Kandidaten gescheitert waren. Blackmun, der lange Zeit für die berühmte Mayo-Klinik als Rechtsberater gearbeitet hatte, war überzeugt, daß eine medizinisch argumentierende Begründung dem Urteil am besten breite Anerkennung verschaffen könnte - ein Trugschluß, wie sich an den heftigen öffentlichen Reaktionen der Abtreibungsgegner zeigte, die in den Vereinigten Staaten auch damals erheblichen Einfluß auf die Politik hatten und die bis dahin oft genug Vorstöße des Gesetzgebers, in den Bundesstaaten die Abtreibungsregelungen zu liberalisieren, blockiert hatten.

In der juristischen Öffentlichkeit wurde und wird die Entscheidung der obersten Richter der Vereinigten Staaten aber nicht in erster Linie wegen ihres Ergebnisses kritisiert, sondern weil die Begründung das Verfassungsrecht in eine falsche Richtung führte. Die Mehrheit der Richter hatte die weitreichende Freigabe der Abtreibung auf das von den Zusatzartikeln der Verfassung abgeleitete Recht auf Privatsphäre gestützt, das eine schwangere Frau geltend machen könne. William H. Rehnquist, der heute Vorsitzender Richter des Obersten Gerichts ist, argumentierte schon damals in seinem Minderheitenvotum: "Die ,Privatsphäre', die das Gericht hier schützen will, ist nicht einmal eine entfernte Verwandte des Schutzes vor Durchsuchungen und Beschlagnahmungen, den der 4. Zusatzartikel der Verfassung gewährt, den die Mehrheit hier als Grundlage des von ihr entworfenen Rechts auf Privatsphäre gewählt hat."

Aber nicht nur äußerst konservative Juristen wie Rehnquist, auch einflußreiche liberale Wissenschaftler wie der amerikanische Verfassungsrechtler Laurence Tribe oder feministische Juristinnen halten es für falsch, Frauen Abtreibungen zu ermöglichen, weil sie ein Recht auf Privatsphäre hätten. Sie wenden sich allerdings nicht wie Rehnquist gegen die Ausweitung eines abgeleiteten Grundrechts, sondern gegen die auf medizinische Fakten fokussierende Sicht der Schwangerschaft. In den achtziger und neunziger Jahren argumentierten beispielsweise die Jura-Professorinnen Catherine MacKinnon oder Erin Daly, Schwangerschaft sei nicht bloß Privatangelegenheit. Es gehe nicht wie beim Recht auf Privatsphäre darum, Frauen, die schwanger sind, in Ruhe zu lassen. Die Behandlung von Schwangerschaft sei vielmehr eine Frage von Freiheit und Gleichheit, denn die Chance für Frauen, am ökonomischen und sozialen Leben auch nur ansatzweise gleichberechtigt teilzuhaben, hänge von den Möglichkeiten ab, ihre Reproduktionsfähigkeit zu kontrollieren. Diese Kritik, die nicht das Lebensrecht des Fötus in den Mittelpunkt rückt, sondern die soziale und gesellschaftliche Bedeutung von Schwangerschaft, ist in spätere Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten, vor allem in das 1992 abgeschlossene Verfahren Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania vs. Casey, eingeflossen - allerdings verknüpft mit Einschränkungen der Abtreibungsmöglichkeiten. Gerade die Akzentuierung des Rechts auf eine private Sphäre, das in der deutschen Debatte um Abtreibung in den siebziger Jahren in die Formel "Mein Bauch gehört mir!" gekleidet worden war, hat der Roe-v.-Wade-Entscheidung des Obersten Gerichtshofes aber eine Zukunft als Leitentscheidung für die bioethische Debatte beschert. Erste Ansätze dazu zeichneten sich Mitte der siebziger Jahre in der Sterbehilfekontroverse ab. Wenn einer Frau unter Berufung auf dieses Recht zugestanden wird, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen, so das in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument, dann muß es einem Menschen erst recht gestattet werden, sein Leben, das er nicht mehr leben möchte, zu beenden. Der Oberste Gerichtshof von New Jersey griff dann auch auf Roe vs. Wade zurück, als er 1976 erlaubte, bei der seit Jahren im Wachkoma lebenden Karen Ann Quinlan die künstliche Beatmung abzubrechen.

Seitdem ist das Recht auf Privatsphäre in den Schriften von Befürwortern einer Deregulierung der biomedizinischen Forschung immer wieder ins Zentrum der Debatte gerückt worden. Wenn es um Leben und Tod geht, um Behinderung und die gesellschaftlichen Wunschvorstellungen angepaßte Fitneß, ist sich jeder selbst am nächsten - so läßt sich die Überzeugung, die diesen Vorstellungen zugrunde liegt, zusammenfassen. Ob es um Präimplantationsdiagnostik, Euthanasie oder Klonen geht - das Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden, seine Lebenssphäre selbst zu regeln, liefert eine erfolgversprechende Begründung gegen gesetzliche Beschränkungen.

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten allerdings hat in den Verfahren mit bioethischen Konfliktkonstellationen, die er seit Roe vs. Wade zur Entscheidung angenommen hat, zurückhaltender geurteilt und seine eigene legendäre Abtreibungsentscheidung zwar erwähnt, ihre Grundsätze aber nicht zur Leitlinie erhoben. Deutlich wurde das in den Auseinandersetzungen um den Abbruch der künstlichen Ernährung bei der Wachkoma-Patienten Nancy Cruzan und im Konflikt um das Verbot des ärztlich unterstützten Suizids.

Ausdrücklich hat die Mehrheit der Richter die These zurückgewiesen, daß es bei Euthanasie in erster Linie um ein Recht von Patienten gehe, in Ruhe gelassen zu werden. Statt dessen wurden Freiheitsinteressen und das Recht auf ein angemessenes Verfahren diskutiert. Zudem sah das Gericht in den neunziger Jahren anders als zwanzig Jahre zuvor nicht die Notwendigkeit, einer gesellschaftlichen Entwicklung zum Durchbruch zu verhelfen, auf die der Gesetzgeber nur widerstrebend reagierte. Statt dessen betonte es in neueren Entscheidungen den Spielraum der Bundesstaaten bei der Gestaltung ihrer Gesetze.

Nachdem es in den Jahren unter Clinton stiller um Roe vs. Wade geworden war, ist die damalige Entscheidung durch den Amtsantritt von George W. Bush wieder ein brisantes Thema geworden. Die Befürworter einer freizügigen Abtreibungsregelung geraten unter den biomedizinischen Entwicklungen, die den Fötus immer früher und als von der Frau unabhängiges Geschöpf behandeln, in die Defensive. Das Urteil in Roe vs. Wade ist für die Gegner jeder Freigabe von Abtreibung zwar ein schwer aus dem Weg zu räumendes institutionelles Hindernis, da es der medizinischen Sicht auf die Schwangerschaft so große Bedeutung beimißt; es ist aber in der gesellschaftspolitischen Debatte als Argumentationshilfe nur von begrenztem Wert.

Daß Norma McCorvey mittlerweile eine überzeugte Christin geworden ist und für die evangelikale Organisation "Operation Rescue" als entschiedene Abtreibungsgegnerin auftritt, erleichtert den Frauen- und Bürgerrechtsorganisationen, die gerade jetzt zum dreißigsten Jubiläum der Gerichtsentscheidung für eine "Save Roe Now!"-Kampagne mobilisieren, ihr Engagement auch nicht.

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Weiterführende Links

    Die Gerichtsentscheidung Roe v. Wade | http://www.tourolaw.edu/patch/Roe/
    Die Pro-Life Gruppen zu Roe v. Wade | http://www.roevwade.org/index2.html
    Pro-Choice Gruppen zu Roe v. Wade | http://www.choice.org/roevwade/

 

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