Schwerbehindertennachweis

26.03.2005 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Eine Auslegungssache: Englischer Streit um Spätabtreibungen

F.A.Z., 26.03.2005, Nr. 71 / Seite 35: In England versucht eine junge Vikarin ein Strafverfahren gegen Ärzte in Gang zu bringen, die eine Spätabtreibung wegen eines Fetus mit Lippenkieferngaumenspalte durchgeführt haben - bislang stößt sie auf viel Resonanz und hat wenig Erfolg.

Die junge Vikarin Joanne Jepson hat nicht nur im englischen Chester eine Gemeinde, sondern auch im WorldWideWeb. Die Homepage haben ihr Christen aus der wirklichen Welt programmiert. Ein mittelgroßer Provider spendiert ihr für den Auftritt im virtuellen Raum Platz auf seinem Server. Auf dem digitalisierten Foto, das dort zu sehen ist, schaut die Theologin freundlich drein, eher mild als kämpferisch. Ihre Botschaft gegen die Spätabtreibung von Föten wegen ihrer Behinderung ist aber kompromißlos formuliert. Mit ihrer Hartnäckigkeit hat sie in den letzten Jahren Schlagzeilen produziert - und es spricht einiges dafür, daß sie im Vereinigten Königreich auch weiterhin als unnachgiebige Streiterin im Rampenlicht stehen wird. Wofür genau sie streitet, ist allerdings umstritten: Als christliche Fundamentalistin, die prinzipiell gegen Abtreibungen und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen sei, attackieren sie die einen, andere sehen die Theologin als mutige Verfechterin von Behindertenrechten, die sich gegen Diskriminierung durch selektive Spätabtreibungen zur Wehr setzt.

In dem vielbeachteten Verfahren, das sie vor knapp drei Jahren mit einer Beschwerde wegen Untätigbleibens der Polizei in Gang gebracht hat, hat vor wenigen Tagen die Königliche Anklagebehörde im erzwungenen zweiten Anlauf entschieden, das Verfahren gegen zwei Ärzte des Nationalen Gesundheitsdienstes einzustellen. Nach eingehenden Ermittlungen, erläuterte die Behördensprecherin Juli Seddon gegenüber dieser Zeitung, seien die Staatsanwälte zu der Auffassung gelangt, daß die 2001 erfolgte Abtreibung eines Fötus wegen dessen Behinderung nicht strafbar gewesen sei. Nun überlegen sich Jepson und ihr Anwalt Paul Conrathe, ein Klageerzwingungsverfahren vor Gericht einzuleiten. Einige Frauenorganisationen, aber auch der Britische Schwangerschaftsberatungsdienst haben harsche Kritik daran geübt, daß die achtundzwanzigjährige Geistliche in diesem Verfahren überhaupt aktiv werden kann, obwohl sie keinerlei verwandtschaftliche Beziehung zur Schwangeren oder dem Vater habe. Eine Klagebefugnis für eine insoweit Unbeteiligte wäre in Deutschland auch tatsächlich nicht gegeben. In England hat aber jedermann ein aus dem Status als Bürger erwachsendes Recht, sich gegen beliebige rechtswidrige Handlungen und Maßnahmen der öffentlichen Gewalt, zu der auch die Anklagebehörde zählt, zur Wehr zu setzen.

Auslöser von Joanne Jepsons so kontrovers bewertetem Engagement war eine Statistik. 2002 wurde sie durch die detailliert aufgeschlüsselte Erhebung des Gesundheitsministeriums darauf aufmerksam, daß eine schwangere Frau nach der 24. Woche abgetrieben hatte, weil ihr Kind mit einer Lippenkieferngaumenspalte zur Welt gekommen wäre. Jepson, die selbst mit einer Fehlbildung des Kiefers geboren wurde und deren Bruder das Down-Syndrom hat, war alarmiert. Die damals sechsundzwanzigjährige Theologin, die erst mit neunzehn Jahren operiert werden konnte und die deswegen am eigenen Leib erfahren hat, wie die Gesellschaft Behinderte ausgrenzt, beauftragte einen Anwalt und erzwang, daß die Polizei in dem Fall ermittelte. In ihren Augen war die Abtreibung rechtswidrig, denn das zuletzt 1990 reformierte Abtreibungsrecht erlaubt den Schwangerschaftsabbruch nach der 24. Schwangerschaftswoche nur, wenn das Risiko hoch ist, daß das Kind im Fall seiner Geburt so erhebliche "physische oder psychische Anormalitäten aufweist, daß es schwerbehindert wäre". Die Anklagebehörde hat in ihrer Entscheidung, die Ermittlungen einzustellen, den subjektiven Gehalt der Vorschrift unterstrichen. Es gehe, so Juli Seddon, im Gesetz nicht darum, ob die Behinderung des Fötus tatsächlich schwer sei. Die Vorschrift sehe Straffreiheit schon für den Fall vor, daß die Ärzte der "in gutem Glauben" entwickelten Ansicht seien, daß die Anormalitäten des Fötus eine schwere Behinderung zur Folge haben.

Jepsons Anwalt Paul Conrathe, der sich in Verfahren um Euthanasie und Menschenrechte Behinderter einen Namen gemacht hat, weist darauf hin, daß in den Beratungen des Gesetzentwurfes damals Experten und Politiker den Vorwurf ausdrücklich zurückgewiesen hatten, daß mit dieser so unbestimmt formulierten Vorschrift selbst Schwangerschaften wegen Vorliegen einer Lippenkieferngaumenspalte in einem späten Stadium abgebrochen werden könnten. Daß genau dieser Fall jetzt dennoch eingetreten ist, ist für Conrathe ein wichtiger Grund, das Verfahren, dessen Kosten über Spenden finanziert werden, fortzuführen: "Es muß geklärt werden, wie uferlos auslegbar dieses Gesetz sein darf."

Der Fall Jepson hat in Großbritannien auch wegen seines politischen Umfelds eine erregte Auseinandersetzung hervorgerufen. Erst vor kurzem hat nämlich der konservative Oppositionsführer Michael Howard einen Vorstoß unternommen, Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich nur noch bis zur 20. Woche zu erlauben. Dann müßten bereits bei Abtreibungen nach der 20. und nicht, wie heute, erst nach der 24. Woche die besonderen Voraussetzungen für eine Spätabtreibung vorliegen. Howard begründet diesen Vorstoß mit der Entwicklung der medizinischen Möglichkeiten, die dazu führen, daß auch Kinder, die von der 21. Schwangerschaftswoche an geboren werden, am Leben erhalten werden können. Frauenorganisationen halten dagegen, daß es vor allem sehr junge Frauen sind, die spät abtreiben, weil sie unzureichend beraten sind oder ihre Schwangerschaft zu spät zur Kenntnis nehmen. Eine Änderung des Gesetzes, so das Argument dieser Gruppen, hätte zur Folge, daß gerade diese oft ohnehin schon überforderten Frauen unfreiwillig zu Müttern würden.

 

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