Selbstbestimmung tot

06.12.2000 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: Jungle World, 6.12.2000: Die Bioethik wird vor allem in den liberalen Staaten anerkannt. Das niederländische Sterbehilfegesetz geht dieser Entwickung voran.

Die Verabschiedung des Euthanasiegesetzes in den Niederlanden, das die Tötung auf Verlangen durch einen Arzt unter bestimmten Bedingungen legalisiert, wird bis auf weiteres wohl kaum praktische Auswirkungen haben: In den letzten zwanzig Jahren hat sich in dem liberalen Land schon eine Praxis der Euthanasie entwickelt, die sehr viel weiter reicht und größere Personengruppen erfasst, als es das jetzt verabschiedete Gesetz zulässt. Das Sterbehilfegesetz verlangt als Voraussetzung für die Tötung, dass die Patienten unerträgliche Schmerzen haben, die anders nicht bekämpft werden können, dass sie einwilligungsfähig sind und der Sterbeprozess eingesetzt hat bzw. sie unter einer unheilbaren Krankheit leiden, die zum Tode führt.

Dagegen haben Gerichte längst auch anerkannt, dass sogar die Tötung von Menschen zulässig ist, die nur ihres Lebens überdrüssig sind, ohne dass sie Schmerzen haben oder erkrankt sind, oder von Menschen, die an Depressionen leiden, sowie von behinderten Neugeborenen, die keinen eigenen Willen äußern können. Das Gesetz hat nicht zum Ziel, diese juristische Praxis einzuschränken, es soll lediglich in den anderen Fällen die Sterbehilfe erleichtern.

Gleichzeitig hat die Verabschiedung des Gesetzes aber in hohem Maß symbolische Bedeutung - sie markiert einen scharfen Bruch mit der Tradition der westlichen Kulturen, die dem Staat die Aufgabe zuweisen, Leben zu schützen. Wie scharf dieser Bruch ist, lässt sich nicht zuletzt daran erkennen, dass die Nationalsoszialisten in Deutschland die Verabschiedung eines Sterbehilfegesetzes zwar lange Jahre geplant hatten, den Entwurf dann aber doch unter Verschluss hielten. Sie befürchteten, dass die geplante Regelung unvereinbar mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen wäre und erheblicher Widerstand gegen das Gesetz die Etablierung der Euthanasie behindern würde.

Paragraph eins der Vorschrift dürfte Beobachtern der gegenwärtigen Entwicklung vertraut sein: "Wer an einer unheilbaren, sich oder andere stark belästigenden oder sicher zum Tode führenden Krankheit leidet, kann auf sein ausdrückliches Verlangen mit Genehmigung eines besonders ermächtigten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erlangen."

Der Schutz menschlichen Lebens ist nicht mehr in jedem Fall die Aufgabe des Staates - das ist die Aussage des niederländischen Euthanasiegesetzes. Deswegen ist der in den letzten Tagen von EU-PolitikerInnen formulierte kritische Hinweis, die niederländische Regelung verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, zwar hilflos, aber er geht nicht völlig fehl. Die EMRK stellt in Artikel 2 immerhin fest: "Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils (...) darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden." Allerdings liegt der Einwand nahe, dass die Niederlande mit ihrem Gesetz nicht das Recht auf Leben in Frage stellen, sondern es lediglich dem Patienten überlassen, ob er dieses Recht noch in Anspruch nehmen will.

Der Versuch, mithilfe der EMRK gegen das niederländische Gesetz vorzugehen, wird spätestens daran scheitern, dass in den Niederlanden nicht der Staat das Leben nimmt, sondern eine Vereinbarung zwischen Arzt und Krankem getroffen werden soll. Mit der Abkehr vom Prinzip, das Leben prinzipiell zu schützen, stehen die Niederlande nicht allein - allerdings haben in anderen europäischen Ländern und in den USA bislang erst die Gerichte und nicht die Parlamente den Schutz des Lebens erheblich relativiert, indem sie den Abbruch von lebenserhaltender Maßnahmen, z.B. bei Patienten im Wachkoma, zuließen.

Der Unterschied zwischen einer Rechtsprechung, die den Einzelfall in den Mittelpunkt stellt und die damit den Rahmen des Nicht-Verbotenen markiert, ohne etwas über das gesellschaftlich Erwünschte auszusagen, und einer Gesetzgebung, die allgemeingültige Normen setzt, die das Zusammenleben (und zusammen sterben) positiv regeln, ist allerdings erheblich.

Bedeutung gewinnt die niederländische Abkehr von der prinzipiellen Pflicht des Staates, Leben zu schützen, durch das Umfeld, in dem sie sich vollzieht. Zwar gab es am niederländischen Modell der Sterbehilfe international viel Kritik, gleichzeitig ist aber zu beobachten, dass auch in anderen europäischen Staaten eine Praxis an Boden gewinnt, die die Bewertung der "Qualität" des Lebens zur Voraussetzung für dessen Schutzwürdigkeit macht.

Spektakuläre Beispiele lieferten in den letzten Wochen die Kontroverse um die siamesischen Zwillinge Mary und Jodie in England und die Klage im Namen eines schwerbehinderten Mannes, mit der vor dem französischen Obersten Gericht Schadenersatz für dessen nichtverhinderte Geburt eingefordert wurde. In England entschied der Court of Appeal, dass Mary getötet werden durfte, um Jodies Leben zu retten. In Frankreich gewährte der Cour de Cassation als erstes europäisches Gericht einem Menschen Schadenersatz wegen wrongful birth. Auch in anderen bioethischen Fragen sind Großbritannien und Frankreich ihren europäischen Nachbarn voraus: Hier wird geklont, mithilfe der Präimplantationsdiagnose selektiert, hier soll Embryonenforschung zugelassen werden.

Dass Bioethik gerade jetzt in Ländern große Erfolge zeitigt, die eine lange demokratische Tradition haben, die sozialdemokratisch regiert werden und in denen emanzipatorische Tendenzen einiges Gewicht haben, fällt auf. Für Großbritannien und die Niederlande lässt sich zum einen auf den starken Einfluss des stark individualisierenden Liberalismus und utilitaristischer Philosophen verweisen. Für Frankreich dürfte dagegen eher die in der Aufklärung begründete strikte Trennung von Kirche und Staat und das begründete Verständnis von Fortschritt eine wichtige Rolle spielen.

Während in den USA einige dieser Faktoren ebenfalls bedeutend sind, existiert dort wegen einer die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen erheblich in Frage stellenden Kultur der Diversity eine weitaus solidere Basis für Minderheiten - wie z.B. für die Behindertenbewegung - sich in der gesellschaftlichen Kontroverse um Bioethik öffentlich vernehmbar und wirkungsvoll zu artikulieren. So gelingt es besser, dem sich etablierenden bioethischen Mainstream Grenzen zu setzen.

Das Dilemma, das sich aus der gegenwärtigen Lage für die Versuche ergibt, eine gesellschaftliche Opposition gegen die neuen bioethischen Konzepte in den europäischen Staaten zu mobilisieren, ist erheblich. Die Säkularisierung in Frankreich ist schließlich grundsätzlich ein enormer Fortschritt. Und ein Rückzug auf die Forderung, ein staatszentriertes Lebensschutz-Modell in Kraft zu halten ist, wie die Geschichte der Auseinandersetzung um den Schwangerschaftsabbruch zeigt, mindestens zweischneidig.

Für das Bemühen, einen gesellschaftlichen Konsens zu erreichen, der sich gegen Selektion und strikt individualistische vom Nützlichkeits- und Optimierungsdenken geprägte Lebenswert-Vorstellungen richtet, bieten sich als Bündnispartner vor allem kirchliche und religiöse Gruppen an, mit denen aber oft weitreichende Differenzen hinsichtlich der Überlegungen zur Entwicklung von Gesellschaft an sich bestehen.

Überdies besteht die Gefahr, dass die Absage an die von liberalem Individualismus geprägten Ideen der Bioethiker in eine unkritische Übernahme nicht minder problematischer Gemeinwohl-Überlegungen mündet. Eine emanzipatorische Ethik aber, die den leichtgängigen Konzepten der Bioethik etwas entgegensetzen könnte, existiert derzeit allenfalls in Versatzstücken.

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