Spätabtreibung - ein Notstand

11.06.2002 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Rot/Grün will die ethischen Probleme der Spätabtreibung nicht verstehen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2002: Nach der 22. Schwangerschaftswoche ist die Grenze von Abtreibung und Frühgeburt verwischt. Auch sonst birgt der 1995 beschlossene § 218a StGB einige Probleme in sich.

In bioethischen Debatten kennen die Kontrahenten keine Fraktionen mehr, sondern nur noch ihr eigenes Gewissen. Daß aber Gewissensfragen und politisches Engagement, das der Logik von Fraktionen folgt, nicht grundsätzlich unvereinbar sind, dokumentiert die Debatte um Spätabtreibung. Zwar hat die Enquetekommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" in ihrem kürzlich vorgestellten Abschlußbericht noch einmütig empfohlen, es müsse eine eigene gesetzliche Regelung für die sogenannten Spätabbrüche geschaffen werden, ein entsprechender Vorstoß der Bundestagsfraktion der Union ist aber Mitte Mai schon in erster Lesung von den Fraktionen von SPD, FDP, Grünen und PDS abgelehnt und an die Ausschüsse überwiesen worden - bezeichnenderweise in derselben Sitzung, in der Tierschutz zum Staatsziel erhoben wurde. Vergangene Woche haben sich nun die Ausschüsse mit dem Thema befaßt und die CDU/CSU-Vorlage abgewiesen. Bei der jetzt anstehenden zweiten und dritten Lesung im Plenum stehen die Chancen für den Antrag daher schlecht.

In der Kontroverse geht es vor allem um die jährlich hundertfünfzig bis zweihundert Schwangerschaften, die nach der zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche abgebrochen werden. Gemäß der 1995 in Kraft getretenen gesetzlichen Neuregelung des Paragraphen 218a StGB sind Abtreibungen zu diesem Zeitpunkt nur noch nach sozial-medizinischer Indikation möglich: bei Gefahr für Leben oder einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Gesundheit der Mutter. Eine Beratung vor dem Eingriff ist anders als bei Indikationen, die den Schwangerschaftsabbruch vor der zwölften Woche möglich machen, nicht erforderlich.

Allerdings gibt es Hinweise darauf, daß Spätabtreibungen in der Praxis nicht nur in jenen Fällen vorgenommen werden, die der Gesetzeswortlaut im engen Sinne umfaßt. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte eines Jungen, der heute in einer Pflegefamilie lebt. 1997, als dieser "Tim" noch ein namenloser Fötus war, diagnostizierten Ärzte bei ihm Trisomie 21, eine genetische Besonderheit, die auch als Down-Syndrom bekannt ist. Die Schwangerschaft wurde in der fünfundzwanzigsten Woche beendet. Das Kind überlebte aber die medizinische Prozedur und wurde dann, in der Hoffnung, es werde dennoch sterben, liegengelassen. Im Fall von "Tim". der heute noch wegen dieses "Liegenlassens" die Strafgerichtsbarkeit beschäftigt, war eine medizinische Indikation im Sinne des Gesetzes nicht gegeben. Grund für die Abtreibung bot einzig und allein die unerwünschte Behinderung.

Die Kommentierung der sozial-medizinischen Indikation legt die Vorschrift weit aus. Die Indikation soll demnach "regelmäßig bejaht werden, wenn die Schädigung der Leibesfrucht so erheblich ist, daß die Pflege und Erziehung des kranken Kindes eine zeitlich, kräftemäßig oder wirtschaftlich unzumutbare Überforderung der Schwangeren bedeuten würde". Damit wird die Behinderung des Kindes zum Dreh- und Angelpunkt der Möglichkeit, noch zu einem Zeitpunkt abzutreiben, zu dem der Fötus im Falle einer Frühgeburt bereits selbständig lebensfähig wäre.

Die Unionsfraktion hat eine parlamentarische Initiative gestartet, die eine Beratungspflicht nach pränataler Diagnose mit pathologischem Befund erreichen soll. "Wir wollen", so die Initiatorin des Antrages, die CSU-Abgeordnete Eichhorn, "daß nach so einem kritischen Befund in Ruhe geredet werden kann und der Automatismus, den es heute gibt, daß nach dem Befund möglichst schnell die Abtreibung erfolgt, unterbrochen wird." Auch die Abgeordneten der Regierungskoalition halten Beratung für sinnvoll. Sie beharren aber darauf, daß sie freiwillig bleibt.

Der Streit um die Freiwilligkeit ist aber auch einer um die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Parlamentarier von SPD und Grünen geben sich überzeugt, daß Spätabtreibungen nur bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen im engen Sinn durchgeführt werden. Die datenschutzrechtlichen Bedenken gegen die im Antrag der Union vorgeschlagene detaillierte statistische Erfassung positiver Pränataldiagnosen, die einen Schwangerschaftsabbruch zur Folge hatten, sind nicht von der Hand zu weisen. Es mutet aber seltsam an, eine Neuregelung mit Verweis auf geringes Wissen um die gegenwärtige Praxis abzulehnen, gleichzeitig aber nichts dafür zu unternehmen, dieses Wissen zu vergrößern. Offensichtlich ist die Sorge bei rot-grünen Abgeordneten, daß alles, was an die Regelung der Abtreibung rührt, den 1995 mühselig erkämpften Kompromiß ins Wanken bringt, größer als ihr Interesse daran, die Diskriminierung von Behinderten möglichst zu verhindern.

Die Unionsfraktion fordert neben der Beratungspflicht auch eine Änderung der haftungsrechtlichen Vorschriften, um die berüchtigten "Kind als Schaden"-Prozesse gegen Ärzte zu erschweren (F.A.Z. vom 21. Januar). Sie will, um die Zahl der Abtreibungen und vor allem die der Spätabtreibungen zu verringern, die Lebensumstände von Familien mit behinderten Kindern verbessern und dafür ein umfassendes, steuerfinanziertes einheitliches Leistungsgesetz für Behinderte schaffen. Rätselhaft bleibt aber, wieso sie in der gegenwärtigen Kontroverse um ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz, das Behinderten ermöglichen würde, gegen Benachteiligungen bei Versicherungs-, Miet- oder Arbeitsverträgen anzugehen, das Interesse an der besseren Integration zurückstellt. Als ob das, was im Bereich der Familienpolitik durchgesetzt werden soll, im Bereich der Wirtschaftspolitik inakzeptabel wäre.

Weiterführende Links

    Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik | http://www.bvkm.de/netzwerk/politischer_standpunkt.html
    Die Tim lebt-Seite | http://www.tim-lebt.de/gesetz/index.html
    Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (pdf-Datei) | http://dip.bundestag.de/btd/14/066/1406635.pdf

 

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