Tödlicher "Zeit"-Geist

02.06.1990 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Veröffentlicht in: konkret 06 / 90, S. 20

Bevor man Unsägliches tun kann, muß darüber geredet werden, und wenn die Erhaltung "lebensunwerten Lebens" zu teuer wird, darf "Euthanasie" kein Tabu bleiben. Daß das Gerede über "Sterbehilfe" heute wieder gesellschaftsfähig geworden ist, verdankt das neue Deutschland der fünfzehnjährigen Kampagne einer liberalen Wochenzeitung

"Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen. Diagnostizieren läßt die Krankheit der Gesunden sich einzig objektiv, am Mißverhältnis ihrer rationalen Lebensführung zur möglichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens." (Theodor W. Adorno, Minima Moralia)

I

Es hat in Deutschland nach der Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft, die keine vom Nationalsozialismus war, immer wieder Versuche gegeben "Euthanasie" zu legalisieren (praktiziert wird sie in unbestimmbar großem Umfang ohnedies): die als Tötung aus Mitleid verbrämte Vernichtung als lebensunwert bezeichneten Lebens. Ende der fünfziger und nachhaltiger noch Anfang der sechziger Jahre engagierte sich beispielsweise Prof. Dr. Werner Catel, bis 1944 Gutachter im "Reichsausschuß zur Erfassung schwerer erb- und anlagebedingter Leiden" und bis 1960 Ordinarius für Kinderheilkunde an der Universität Kiel, dafür, daß Eltern die Erlaubnis bekommen sollten, "vollidiotische Kinder" töten zu lassen. Kurze Zeit später bewegte der Contergan-Skandal die bundesdeutschen Gemüter: Um die Geburt von tausenden von "Monstren, die nur dem Namen nach Menschen sind", (so damals die "Welt") zu verhindern, sollte die Abtreibung der Föten oder ihre Nicht-Behandlung nach der Geburt ausnahmsweise gesetzlich erlaubt werden. Anfang der siebziger Jahre wurde angesichts der ersten ökonomischer Krisenerscheinungen im Gesundheitswesen und der anstehenden Strafrechtsreform das "Selbstbestimmungsrecht" zum Behandlungsabbruch bei alten und schwerkranken Menschen gefordert.

Von diesen immer wieder aufgeflackerten Diskussionen unterscheidet sich die nach dem Ende des UNO-Jahres der Behinderten 1981 in Gang gebrachte und gehaltene "Euthanasie"-Diskussion durch die Beharrlichkeit und das nachdrückliche Engagement, mit denen die Meinungs-Führer zu Entscheidungen drängen.

II

"Nichts zu tun hat die Euthanasie mit der Vernichtung angeblich 'lebensunwerten Lebens' im Dritten Reich: Verbrechen, die mit dem Euthanasiebegriff nur kaschiert werden sollten, um das Gewissen der Beteiligten zu beruhigen und die Öffentlichkeit zu täuschen." Weil der Gedanke so naheliegt, daß die Tötung einer 78jährigen kranken Frau oder einer Patientin im Koma 1973 nichts anderes ist als 1933ff, muß ihn der "Zeit"-Artikler apodiktisch von sich weisen. Vorsichtshalber macht er für die gewünschten Folgen seines Schreibens gleichzeitig andere verantwortlich: Nicht er, Theo Löbsack, sondern "der medizinische Fortschritt verlangt nach neuen Rechtsnormen zur Euthanasie". Auch Thomas von Randow ist ein knappes Jahr später in der gleichen Zeitung nur ein von anderen zum Schreiben Getriebener: "In einem Aufruf der amerikanischen Zeitschrift 'Humanist' wird die gütige Euthanasie gefordert", erklärt er in der Überschrift, warum auch in der BRD über alte Themen neu geurteilt werden soll, und findet dabei die für die nächsten Jahre prägende Formel, die waches historisches Bewußtsein suggeriert, aber eine Reflektion der NS-Vernichtungspolitik vermeidet, geschichtliche Fakten und aktuelle Entwicklungen nicht aufeinander bezieht, sondern beziehungslos nebeneinanderstellt: "Der Gnadentod, die Euthanasie, ruft bei uns, die wir während der Nazi-Zeit erlebt haben, daß unter solchen Bezeichnungen gräßliche Verbrechen begangen wurden, Entsetzen und Abwehr hervor. Doch...".

Doch jetzt ist der Schreiber aufs Neue mit so Gräßlichem, das Entsetzen und Abwehr hervorruft, konfrontiert, daß die Verbrechen, die während der Nazi-Zeit niemand verübt hat, sondern die, einem Ritual gleich, von Besessenen begangen wurden, in der Erinnerung ihren außerordentlichen Schrecken verlieren: Künstliche Ernährung und Beatmung verlängern "hoffnungslose, zum Siechtum führende Krankheit", die moderne Intensivmedizin bewirke "lediglich qualvolles Dahinsiechen". In einer Folge von Artikeln wird ein halbes Jahr hindurch das Entsetzen vor dem Massenmord an Kranken durch stereotype, gedankenlose Formulierungen zu einer Phrase herabgewürdigt. Sich von der Vernichtung "lebensunwerten Lebens" durch die Nationalsozialisten scharf abzugrenzen, gehört, wie beim Gesellschaftsspiel, zu den Spielregeln, die eingehalten werden müssen, will man das Ziel erreichen.

Dann versucht ein "Momos" zusammenzudenken, was seiner Meinung nach zusammengehört: "Die Mörder von gestern sind auch die Folterknechte von heute. Ohne Hitler gäbe es in unseren Krankenhäusern heute weniger Schmerzen und weniger qualvolle Tode. Weil auf die Tat gestarrt wird und nicht auf die Motive der Tat..." Ach hätte Hitler es nur gut gemeint... So aber muß bis weit in die achtziger Jahren beschwörend auf das Wort gestarrt werden, um die geforderten Taten aus seinem Bann zu befreien: "Euthanasie, an sich ein schönes griechisches Wort, ist hoffnungslos zerstört und bei uns nicht mehr ernsthaft zu gebrauchen" ("Zeit" vom 11.5.1984); "über den zahlreichen Problemvarianten hinter dieser Frage steht als Kennzeichen ein Wort, auf das aus dem dunkelsten geschichtlichen Hintergrund unseres Jahrhunderts ein riesenhafter Schatten fällt: Euthanasie." ("Zeit" vom 23.6.89).

Wenn riesenhafte Schatten aus dem Hintergrund über Problemvarianten herfallen und Worte als Kennzeichen hinter Fragen stehen, wenn also die Lage unbeschreiblich finster und die Zusammenhänge undurchschaubar scheinen, dann steht in Deutschland seit Dregger nur noch ein Ausweg offen: der Abschied von der Geschichte.

Ende der achtziger Jahre wähnen sich die Redakteure der "Zeit", die seit Jahren so bemüht wie sonst kaum jemand dafür schreiben, daß die Tötung behinderter Neugeborener, schwerkranker und alter, also leistungsunfähiger und auch nicht schön anzusehender Menschen legalisiert wird, ohne daß jemand ein schlechtes Gewissen bekommen soll, kurz vor dem Etappen-Ziel. Im dritten "Zeit"-Dossier (diesmal ein Streitgespräch), das im Sommer 1989 innerhalb weniger Wochen zur Unterstützung der Thesen des australischen Euthanasie-Propagandisten Peter Singer (KONKRET 7/89) veröffentlicht wird, kann Redakteur Reinhard Merkel aufatmen: "Ich habe am Ende der heutigen Diskussion das immerhin ganz beruhigende Gefühl, daß der Verdacht der Faschismus-Nähe solcher Positionen offenbar nicht mehr besteht und klargeworden ist, daß es ein in jedem Sinn sehr schweres Problem ist und daß wir nicht so tun dürfen, als müßten wir die Diskussion darüber abblocken, weil alles so, wie es bei uns ist, in Ordnung ist."

Ein dreiviertel Jahr später können, da der Verdacht der Nähe zum Nationalsozialismus im Beisein von Chefredakteur Theo Sommer und mehreren Ressortchefs ausgeräumt worden ist, wieder in einem ausführlichen Dossier, die Ecken und Winkel des bislang überschatteten Problems ausgeleuchtet werden: "Rein ökonomische Argumente für die Euthanasie hören sich überaus brutal und berechnend an", weswegen sie neuerdings nicht mehr in Reinform, sondern ethisch verklärt vorgetragen werden, "aber da die Gesundheitskosten jährlich doppelt bis dreimal so schnell wachsen wie die Inflationsrate und neue Techniken steigende Ausgaben für immer ältere Patienten erwarten lassen, wird die Beantwortung der Frage immer drängender, wie die Kosten der Krankenversorgung in den Griff zu kriegen sind." - "Kriegen" weist die Richtung, als Formel zur Berechnung der Stärke des zu greifenden Feindes schlagen wir vor, sich auf die zu konzentrieren, bei denen die Summe von Pflegesatz plus Inflationsrate plus Lebensalter größer ist als die wöchentliche Rente.

III

Die Redakteurinnen und Redakteure der "Zeit" haben seit Anfang der siebziger Jahre kaum eine Gelegenheit ausgelassen, sich für "Euthanasie" zu engagieren: Was im einzelnen kritisiert oder zur Veränderung vorgeschlagen wurde, läßt sich aus den allermeisten der insgesamt über hundert Artikel nicht entnehmen. Die Autorinnen und Autoren beschränkten sich neben der Beteuerung eigener Betroffenheit auf vage, vielseitig interpretierbare Formulierungen. Die in immer neuen Variationen gestellte Frage: "Muß man trostloses Leben mit allen Mitteln verlängern?", weist aber, auch ohne daß präzise Antwort gegeben wird, die Richtung, in die nachgefühlt werden soll. Beeindruckend ist nachzulesen, wie die "Zeit" das Thema über die Jahre akzentuiert: Das würdevolle Sterben schwerkranker Alter zu ermöglichen, wobei 'würdevoll' als Synonym für 'schnell' steht, wird am Beginn der sicherlich nie konzipierten und doch so wirkungsvoll aufeinander abgestimmten Serie von Texten als Ziel der "Euthanasie"-Debatte benannt, es folgen dramatische Schilderungen der Qualen behinderter Neugeborener, die es nicht zu verlängern gelte, und Berichte über die aussichtslose Lage von Menschen im Koma, klischeehafte Schilderungen der Leiden sterbewilliger, zumeist querschnittgelähmter Unfallopfer, die zu beenden möglich werden müsse. 1989 wird versucht, die über die Jahre entwickelte Stimmung zu rationalisieren und letzte Bedenken auszuräumen, indem "Euthanasie" als logische Konsequenz einer zeitgemäßen Ethik dargestellt wird. Während Behindertengruppen versuchen, die Restauration einer von "tödlichem Mitleid" (Dörner) in Gang gebrachten Praxis des "Heilen und Vernichten" zu verhindern, forciert die "Zeit" ihren Einsatz für die Freigabe der Tötung auf Verlangen und des Behandlungsabbruchs bei Schwergeschädigten und behinderten Neugeborenen. "Der Streit um Leben und Tod", "Exzeß der Vernunft oder Ethik der Erlösung" und "Mitleid allein begründet keine Ethik" sind drei Dossiers überschrieben, die innerhalb von zwei Monaten veröffentlicht werden.

Unvermittelt wird die Kontinuität dieses Engagements bisweilen von Artikeln durchbrochen, die beklagen, wie wenig Mühe auf die Strafverfolgung von Ärzten verwandt wird, die an der "Euthanasie" im Dritten Reich beteiligt waren. Einen Zusammenhang vom einen zum anderen herzustellen, liegt den Autoren fern - und wo er sich aufdrängt, prägen Auslassungen den Bericht. Ob diese unbewußt 'passieren', läßt sich nicht herausfinden, es ist auch unerheblich, weil es nicht beruhigender wäre, wenn wir wüßten, daß das Unterbewußte der "Zeit"-Schreiber ihre Berichterstattung so sorgsam strukturiert. Benno Müller-Hill zitiert beispielsweise in der "Zeit" vom 13. Juli 1984 den Entwurf für ein "Euthanasie"-Gesetz der Nazis: "Das Leben eines Kranken, der infolge unheilbarer Geisteskrankheit sonst lebenslänglicher Verwahrung bedürfen würde, kann durch ärztliche Maßnahmen, unmerklich für ihn, beendet werden". Die Distanzierung von dem repressiven Gesetzestext wäre weniger leicht gefallen, wenn Müller-Hill auch die Präambel und den Paragraphen I des Textes mitgeteilt hätte: "Die Erhaltung des Lebens von Menschen, die wegen einer unheilbaren Krankheit ein Ende ihrer Qual herbeisehnen oder infolge unheilbaren chronischen Leidens zum schaffenden Leben unfähig sind ... (weiterer Wortlaut unbekannt. Sinngemäß: ...ist mit den sittlichen Normen der Volksgemeinschaft nicht zu vereinbaren). Paragraph 1: Wer an einer unheilbaren, sich oder andere stark belästigenden oder sicher zum Tode führenden Krankheit leidet, kann auf sein ausdrückliches Verlangen mit Genehmigung eines besonders ermächtigten Arztes Sterbehilfe durch einen Arzt erhalten."

Im Vergleich zur Rhetorik der "Zeit"-Artikel, in denen der "Exzeß der Vernunft" attackiert, die "Ethik der Erlösung" beschworen wird, in denen der "würdevolle Tod" nur als Stichwort fungiert und die Varianten, die das Synonym-Wörterbuch zu "Leiden" anbietet, die Spalten füllen, hat dieser Gesetzestext den Vorzug, klar und nüchtern zu bleiben - das Anliegen bleibt vergleichbar, denn daß sich auch die "Zeit"-Autoren von einem "Monstrum, dem ein Unfall das Rückgrat zerbrach", stark belästigt fühlen und fürchten, daß "eine hochentwickelte medizinische Technologie künftig Ärzte zwingt, die Operationssäle und Intesivstationen mit hoffnungslosen Fällen zu füllen", steht nach Lektüre mehrerer Dutzend Artikel zum Thema nicht in Zweifel. Das Unbehagen der Journalisten speist sich nicht aus ökonomischen Quellen, es entspringt der angstvollen Vorstellung, selbst in eine Lage zu geraten, die die Fortführung des guten, weil erfolgreich an den anerkannten und verinnerlichten Normen ausgerichteten Lebens unmöglich macht.

"Nach einem Verkehrsunfall war Ingrid F: völlig gelähmt. Sie wollte sterben. Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der 'Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben' verhalf ihr zum Zyankali. Ein Tod, der bedrückende Fragen auf wirft", kündigt die "Zeit" 1987 einen langen Artikel an, der keinerlei Fragen aufwirft. Stattdessen liefert er ein bedrückendes Beispiel für eine Rhetorik, die den schnellen Tod verklärt, weil sie sich keinen Begriff von einem Leben machen kann und will, das nicht in den Produktionsprozeß einzugliedern ist, dessen Autonomie eine ihm selbst innewohnende sein müßte und nicht mehr als materielle Unabhängigkeit mißverstanden werden könnte: "Ingrid nimmt sich wahr als einen Kopf, der an einer Maschine befestigt ist. Diese Maschine fühlt nichts. Ein Freund vergleicht Ingrids Zustand mit einer Geige, von der nur noch das Griffbrett übriggeblieben ist... Ingrid stellt fest, daß dieses Leben nicht tragbar ist. Ihre einzige Hoffnung ist der Tod .. Die Gewißheit des Todes ließ Ingrid heiter werden... Ingrid atmet noch, tief, hart, aus der Tiefe des Körpers.. Sie machte auf Frau S. (die Frau, die ihr das Zyankali gab, O.T.) den Eindruck eines Menschen, der nach langer Reise am Ziel angekommen ist. Nie zuvor, sagt sie, habe sie Ingrid so strahlend, ja glücklich gesehen."

Dieser rührselige Naturalismus eines Lore-Romans, der statt Reflektion einen Reflex auslöst - "so möchte ich auch nicht leben" - , prägt auch die Schilderung der zahlreichen anderen Schicksale, die in knappen Sätzen zur Einführung "in die Problematik" am Anfang der jeweiligen Artikel stehen und uns vor allem über die beschädigte und allseitig reduzierte Vorstellung vom Leben erzählen.

Drei Jahre nachdem uns die "Zeit" den Tod von Ingrid F. als Erlösung präsentiert hat, veröffentlicht die Zeitung eine Attacke gegen die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben. Ingrid F. "ist die erste von mehreren Behinderten, deren DGHS-Tod in der Boulevard-Presse vermarktet wird", schreibt Ernst Klee, der genau weiß, daß die Zeitung, deren Zeilenhonorar er einstreicht und mit deren Auflage sich auch sein Bekanntheitsgrad mehrt, den Tod von Ingrid F. auf nicht weniger miese Art und Weise instrumentalisiert hat. Zwei volle Seiten hat Ernst Klee Platz, in der "Zeit" dagegen zu polemisieren, daß "weder Atrott noch Singer davor zurückschrecken, von Vorurteilen ohnehin bedrohte Behinderte mit Negativ-Klischees vorzuführen", und nicht eine Bemerkung ist es ihm wert, daß die "Zeit", nicht allzulange ist es her, die DGHS als "wunderbar" attributierte und einen Querschnittgelähmten als "lebenden Leichnam". Indem Klee das Blatt, in dem er im Rahmen einer auf "Euthanasie" zielenden Debatte auch publizieren darf, von seiner Kritik an den Tötungsbefürwortern ausnimmt, macht er sich zum Mittäter, weil er die Verhältnisse besser scheinen läßt, als sie sind.

Nur die Kritik, die sich selbst genügt und darauf verzichtet, auf die Entwicklung der Debatte realen Einfluß zu nehmen, sie gar zu stoppen, bekommt in der "Zeit" den Platz, den sie beansprucht. Während Franz Christoph, Aktivist aus der Behindertenbewegung und kompromißloser Gegner der "Euthanasie", zwar an einem "Zeit"-Gespräch teilnehmen darf, aber kaum zu Wort kommt, wird kurz darauf der Moralphilosoph Hans Jonas ausführlich über seine Position zur Tötung Alter, Kranker und Behinderter befragt. Er äußert sich kritisch, bleibt aber im Rahmen des Akzeptierten: "Man darf sich nicht vom Gesichtspunkt einer Mitleidsethik bestimmen lassen, sondern nur von der Verantwortung für die Folgen, die aus unserer Einstellung resultieren, hier und da das Mittel des Tötens zu gebrauchen. Damit soll und darf man garnicht erst anfangen. Das ist meine Einstellung, aber ich habe Verständnis dafür, wenn jemand anders entscheidet." Man darf nicht - aber was sein soll, soll sein...

IV

Daß "Euthanasie" heute wieder ein Thema ist, über das "offen", also ohne die Aggressionen zurückhalten zu müssen, geschrieben werden kann, daß "lebensunwertes Leben" heute kein Tabubegriff mehr ist, sondern einer, der, nachdenklich ausgesprochen, nach Konsequenzen verlangt, ist wesentlich auf die jahrelange Kampagne der "Zeit" zurückzuführen. Das wirkungsvollste Argument im Streit für die Freigabe der Tötung "lebensunwerten Lebens" ist 'Liberalität': Wer in Deutschland "zähe Tabus" beseitigen will, hat eine Intelligenz, die Freiheit mit Prinzipienlosigkeit verwechselt, schnell auf seiner Seite. "Eine seit langem fällige, vernünftige und ideologiefreie Klärung" zu verlangen, klingt so neutral, daß niemand es verwehren mag, obwohl jeder wissen könnte, daß 'ideologiefrei' nur 'geschichtslos' meint und eine Klärung auf diesem Gebiet, das geklärt ist - "Euthanasie" ist verboten - herbeiführen zu wollen, die Restauration alter Lösungen, die Endlösungen waren, bedeutet.

Gegen diese Klarheit werden Bedenken gestellt, ein paar skrupulöse Äußerungen vorrätig gehalten - sie stellen aber nicht wirklich in Frage, sondern sichern nur den Erfolg, weil sie verhindern, daß der scheinbar suchenden Unentschlossenheit ein schroffes, kompromißloses 'Nein!' entgegengesetzt wird. "Das Lebensrecht von Behinderten ist undiskutierbar, da bin ich bereit mit Ihnen übereinzustimmen", beruhigt Chefredakteur Theo Sommer im "Zeit"-Gespräch Franz Christoph. Was als Beruhigung verstanden werden soll (und verstanden wird), zeigt im Gegenteil, was die Stunde geschlagen hat. Die beruhigende Formel ist als Zugeständnis formuliert, längst nicht mehr bare Selbstverständlichkeit, die auszusprechen schon peinlich wäre. "Aber das ethische Problem der Euthanasie", fährt Sommer fort, "ist diskutierbar und es muß diskutiert werden, zumal die Diskussion da ist". Das Etappen-Ziel ist erreicht, schon wird der erste Schritt aus der Verantwortung für das Absehbare getan: Nachdem die "Zeit" über die Jahre als "doktrinär lebensblind" diejenigen attackierte, die "Euthanasie" mit einem Tabu belegten, sollen wir uns jetzt der Macht des Faktischen fügen. Die Diskussion ist da - und niemand hat sie angefangen.

Dateien:

Logo Adobe PDF

1153145981.pdf(PDF Dokument, 25 Ki Größe)

 

Zurück zur Übersicht