Tödliches Mitleid

02.06.1999 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Sterbehilfe und Rechtsprechung in der Bundesrepublik

Veröffentlicht in: Dr. med. Mabuse, Mai / Juni 1999, Heft 119

"Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle anderen auch nicht mehr mitmachen." Legt man dieses Diktum Ulrike Meinhofs der gegenwärtigen bundesdeutschen Kontorverse um "Tötung auf Verlangen" zugrunde muß man neidvoll zugestehen, daß die "Euthanasie"-Befürworter wohl die Speerspitze einer beispiellos erfolgreichen Widerstandsbewegung bilden. Im Verlauf von zehn Jahren ist es ihnen gelungen aus einer marginalisierten Randposition ins Zentrum vorzustossen. Die Entwicklung vom Wittig Urteil des Bundesgerichtshofes 1984 bis zum Kemptener Urteil des höchsten deutschen Strafgerichtes 1994 charakterisiert den Verlauf der Debatte, den Weg zum Sorgen dafür, daß auch alle anderen nicht mehr Mitmachen und damit den Siegeszug dieser außerparlamentarischen Opposition gegen den Lebensschutz eindrucksvoll.

Im Wittig-Urteil[1] wurde festgestellt, ein Hausarzt haben den Tatbestand des § 216 StGB (Tötung auf Verlangen) verwirklicht, weil er anläßlich eines Selbstmordversuchs seiner Patientin, den er entdeckte, als er einen zuvor verabredeten Hausbesuch unternahm, keinen Rettungsversuch unternahm, da er wußte, daß die 76jährige Frau ein Patiententestament verfasst hatte, in dem sie medizinische Intensivbehandlung im Sterbeprozeß ablehnte.Der BGH hielt den zuvor geäußerten Willen angesichts der Bewußtlosigkeit der Patientin beim Eintreffen des Arztes für unbeachtlich und argumentierte: "Gerade derjenige, der die suizidale Situation so einrichtet, daß zwischen Selbstmordhandlung und Todeseintritt eine längere Latenzperiode liegt, in der das Hinzukommen Dritter ermöglicht wird, handelt oft in der unterschwelligen Hoffnung, daß sein verzweifelter Schrei nach menschlichem Beistand gehört werde." Bestraft wurde der Arzt allerdings nicht: Ihm wurde angesichts der Schäden, die die Patientin im Fall einer Lebensrettung wahrscheinlich erlitten hätte, eine Pflichtenkollision zugutegehalten, die sein Vorgehen rechtfertigen konnte.

Zehn Jahre später. Auch im 1994 entschiedenen Kemptener Fall[2] gingen die Angeklagten, ein Arzt und ein Angehöriger, straffrei aus. Hatte der BGH aber in der Wittig-Entscheidung noch rechts-dogmatisch für eine weitreichende Pflicht des Arztes zur Lebenserhaltung argumentiert, wurden diesesmal die Möglichkeiten nicht zu behandeln akzentuiert. Bei einer 75 Jahre alten Frau, die in einer Art Wachkoma lag, sollte nach dem Wunsch des behandelnden Arztes und ihres Sohne die künstliche Ernährung beendet werden, weil sich die Lage der Patientin, die anerkanntermaßen nicht im sterben lag, sondern lediglich schwer behindert war, nicht mehr verbessern würde. Der Fall wurde publik weil sich das Pflegepersonal des Altenheimes weigerte, die Frau durch Ernährungsabbruch verhungern zu lassen. Der BGH hob eine Verurteilung des Landgerichts Kempten wegen versuchten Totschlags (die Strafe war wegen der Tragik des Falls nur gering bemessen: Eine Geldstrafe) auf, weil der Arzt und der Sohn sich im unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden hätten und außerdem möglicherweise von einer "mutmaßlichen Einwilligung" der Patientin in ihr Verhungern hätte ausgegangen werden könne.

Bemerkenswert immerhin ist, daß der Bundesgerichtshof, der nur einen kleinen Bruchteil von Revisionsanträgen auch tatsächlich zuläßt und verhandelt, beidesmal "Euthanasie"-Konstellationen zur Setzung von neuen Maßstäben für die juristische Debatte und die medizinische Praxis genutzt hat, die entscheidungsunfähige alte Menschen betrafen und in denen es um ärztliches Handeln ging - nicht um das von Krankenschwestern oder Angehörigen. Wäährend auch in der Rechtsprechung anderer Länder die Herbeiführung des Todes durch den Arzt privilegiert betrachtet wird, wohl weil Ärzten unterstellt wird fachlich besonders qualifziert zu sein und ethisch motiviert zu handeln, unterscheidet die Begrenzung der Rechts-Diskussion hier auf die Fälle schwerkranker alter Menschen die Bundesrepulbik von den USA oder auch Groß-Britannien, wo die Einstellung von Ernährung oder das Abschalten der Beatmung vor allem zu scharfen und langwierigen Konflikten geführt hat, wenn es um das Leben junger Menschen ging.

Da nichts dafür spricht, daß bei jungen Menschen im Wachkoma von einem ausgeprägteren Behandlungswillen auszugehen ist, oder deren Lebensqualität anders beurteilt werden würde, ist zu befürchten, daß, ähnlich wie beim gezielten Sterbenlassen von Neugeborenen, der Behandlungsabbruch bei jüngeren Wachkoma-Patienten hierzulande nicht vor Gericht kommt, in diesen Fällen also das Recht von vornherein umgangen werden kann, wobei unklar ist, woran das liegt. Während bei behinderten Neugeborenen die starke rechtliche Position der Eltern, die besonderen Umstände in der Klinik, die einen Behandlungsabbruch leichter als nicht rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen können, eine Rolle spielen werden, drängt sich ist bei jungen nicht-einwilligungsfähigen Patienten in Deutschland keine Hypothese als besonders plausibel auf.

Den BGH haben allerdings auch andere Konstellationen beschäftigt, hier hat er sich allerdings im wesentlichen unter Zugrundelegung der auch sonst üblichen dogmatischen Konstruktionen entschieden hat. Spektakulär war vor allem das Verfahren gegen eine Fach-Krankenschwester, die auf einer Wuppertaler Intensivstation mehrere Menschen mit Spritzen getötet hatte und dafür vom Landgericht zu 11 Jahren Haft verurteilt worden war. Der BGH hatte über einen Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft zu befinden, die die Krankenschwester wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt sehen wollte. Der Revisionsantrag blieb erfolglos, "weil die Angeklagte - wie ihr nicht zu widerlegen ist - nicht aus Feindseligkeit oder eigensüchtigen Motiven, sondern wegen der jeweils für aussichtslos angesehenen Lage der Todkranken aus spontanem Mitleid mit ihnen gehandelt hat. Die Angeklagte tötete nicht aus Feindschaft. Denn sie glaubte, der schnelle und schmerzlose Tod liege im wohlverstandenen Interesse der Patienten, denen sie im Hinblick auf das ohnehin bevorstehende Lebensende sinnlose Operationen und unnötige Schmerzen ersparen wollte."[3] Der BGH sah in dieser Motivation aber eben keinen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, sondern nur einen Anlaß statt auf Mord auf Totschlag zu erkennen.

Bemerkenswert ist allerdings die auch in diesem Urteil enthaltene Überlegung, der Richter der 3. Strafkammer, "daß in oberflächlich vorhandener Mitleidsmotivation sich Feindseligkeit gegenüber dem Lebensrecht Schwerstkranker offenbaren (kann). Daher kann Mitleid in Fällen dieser Art die Annahme des Heimtückemerkmals nur dann ausschließen, wenn es sich aus einer objektiv nachvollziehbaren Wertung des Täters ableitet, die der Vermeidung schwersten Leidens den Vorrang gibt. Heimtücke wird bei 'Mitleidstötungen' vorliegen, wenn der Täter seine Opfer unter Ausnutzung von deren Arg- und Wehrlosigkeit nach eigenen Wertmaßstäben 'selektiert' und von sich aus selbstherrlich das Leben der seiner ärztlichen oder pflegerischen Fürsorge anvertrauten Patienten gezielt verkürzt, indem allein er bestimmt, wen er wann durch eine von niemandem erbetene Tötung 'erlösen' will." Diese Passage mag einerseits als Schutz für Patienten und Ablehnung von "willkürlicher" Patiententötung verstanden werden. Im Zusammenhang mit den anderen Urteilen läßt sie sich aber plausibler anders deuten: Sie zeichnet den Weg vor für die Normierung von Grenzen, innerhalb derer Strafrecht zusehends seine Wirkungsmacht verlieren soll. Der nicht selbstherrlich handelnde Täter, derjenige, der objektiv nachvollziehbare Wertung vornimmt und nicht eigene, sondern allgemeine Wertmaßstäbe anwendet wird privilegiert - oder geht unter bestimmten Bedingungen, wie im Kemptener Fall, auch ganz straffrei aus. Über die Feststellung der "mutmaßlichen Einwilligung" der Patientin, die im Rahmen der Entscheidung zum Kemptener Fall die Straffreiheit für diejenigen sichern sollte, die die Tötung durch Unterlassen der Ernährung sichern sollten, schreiben die BGH-Richter: "Lassen sich auch bei der gebotenen sorgfältigen Prüfung konkrete Umstände für die Feststellung des individuellen mutmaßlichen Willens des Kranken nicht finden, so kann und muß auf Kriterien zurückgegriffen werden, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen." Zwar soll dabei Zurückhaltung geboten sein - in der Praxis ist das aber wenig mehr als eine freundliche Floskel: Entscheidend ist, daß die "allgemeinen Wertvorstellungen" den Maßstab dafür abgeben können, ob jemand leben oder sterben soll.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur sind diese Ansätze des BGH aufgegriffen und fortgeführt worden: Der Rechtsphilosh Günter Jakobs von der Universität Bonn, hat auf das Zusammenspiel von Rechtspraxis und ärztlichem Alltag hingewiesen und prognostiziert, daß die Einschränkung, der Behandlungsverzicht müsse dem "mutmaßlichen Willen" als "ermittelbarem Willen" entsprechen nur solange selbstverständlich wäre, wie es keinen neuen, sich aus dieser Praxis ergebenden Behandlungsstandard gebe. "Sollte der Behandlungsverzicht aber üblich werden, so verändert sich auch, was für Ärzte als Standard zu gelten hat, und bei einem nicht ermittelbaren und deshalb nur standardisiert zu bestimmenden mutmaßlichen Willen wird ebenso verfahren werden; gegen die erweiterte passive Euthanasie helfen kann - durchaus ermittelbare - Proteste nur solange, bis sie als Skurrilität einzelner Zurückgebliebener abgetan werden können."[4]

In diese Richtung, Zurückweisung der Proteste als unbeachtliche Skurrilität, weisen in der juristischen Literatur derzeit zwei Argumentationsansätze, die beide an die BGH-Entscheidung zum Kemptener Fall anknüpfen. Nach der einen Auffassung ist die ärztliche Intervention, die auf den Tod eines "unheilbar Kranken oder Sterbenden" zielt "ihrem sozialen Gesamtsinn nach etwas ganz anderes als eine 'Tötungshandlung' i.S. des § 212 StGB. Sie richtet sich nicht gegen das Leben."[5] und ist damit eine sozialadäquate Verhaltensweise und damit überhaupt nicht vom Strafrecht erfasst. Die andere Position will Sterbehilfekonstellationen zwar, recht konventionell, mit Hilfe des Notstandsparagraphen lösen, dabei aber eine bemerkenswerte normative Setzung bei der Abwägung der Interessen des Patienten vornehmen: "Die Seite des Lebensinteresses für den Patienten ist leer" wird mit Blick auf Patienten im Wachkoma verkündet und die Argumente dafür (die Behauptung ein Apalliker erlebe nichts mehr) lassen sich umstandslos auch auf andere Patientengruppen übertragen. Das Ergebnis wird konsequent fortgeschrieben: Wer kein "Lebensinteresse "mehr hat hat auch kein normativ begründetes Recht auf Leben mehr, die Tötung eines "interessenlosen" Menschen auch gegen einen vorher geäußerten Willen erfüllt damit keinen Straftabestand mehr, weil es kein geschütztes Rechtsgut "Leben" mehr gibt.[6]

Ob nun die Handlung des tötenden Arztes "sozialdäquat" ist, oder der Getötete an seinem Leben kein Interesse mehr haben soll - es geht in dieser Sicht jedenfalls nicht mehr um individuelle Konstellationen, sondern um grundsätzliche Entscheidungen, die gerade über den Einzelfall hinausweisen und darauf hinauslaufen, den betroffenen Patientengruppen aus dem Schutzbereich des Strafrechts herauszunehmen, eine Entkriminalisierung vorzunehmen. Das Projekt "Entkriminalisierung", das in Bereichen wie Betäubungsmitteldelikte, Sachbeschädigung und Ladendiebstahl seit Jahren und auch für die nähere Zukunft keinerlei Erfolgsaussichten hat, greift nun ausgerechnet bei den Tötungsdelikten in erheblichem Maße. Dabei bedarf es, um weitrreichende Folgen zu erzielen nicht einmal einer Gesetzesänderung, es reicht eine allgemeines gesellschaftliches Übereinkommen, bestimmte Formen von Leben als "lebensunwert" zu betrachten. Eine Gesetzesänderung ist, zumal nach den Erfarungen im Bundestag mit dem Transplantationsgesetz, auch gar nicht erwünscht: Der Verlauf der Auseinandersetzungen, die dorthin führen ist angesichts der in bioethischen Fragestellungen bisweilen äußerst überraschenden Frontverläufe für alle Beteiligten mit zu großen Unwägarkeiten behaftet. Die Politik läßt, wie in anderen kritischen Bereichen auch, die Justiz deswegen machen: Die "Euthanasie"-Debatte und -Praxis wird im Wesentlichen durch die in professionellen Debatten , die im Wesntlichen außerhalb der Öffentlichkeit stattfinden, entwickelten ethischen Vorstellungen zweier tendenziell technokratischer Eliten, der Juristen und der Ärzte, bestimmt.

Ins Praktische transformiert wird diese Debatte durch die in neuerer Zeit vorgenommenen Versuche, den § 1904 BGB umzudeuten: Die Vorschrift, die konzipiert ist als Schutzvorschrift für Betreute, denen lebensgefährdende Heileingriffe nur zugemutet werden sollen, wenn auch ein Vormundschaftsgericht ihnen zustimmt, wird gegen ihren Wortlaut und ohne Beachtung ihrer systematischen Einordnung von manchen Autoren und Gerichten als Vorschrift interpretiert, die bei "Euthanasie"-Fällen "analog" angewanendet werden könnte. Auch eine Tötung durch Nahrungsentzug, so die krude Logik, ist schließlich lebensgefährdend - also soll der Vormundschaftsrichter auch sie beschließen können. Damit werde, so hat es das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. (dessen früherer Richter Otto Tempel für das erste Frankfurter Behindertenurteil verantwortlich zeichnete, das die Anwesenheit einer Behindertengruppe am Ferienort zum Reisemangel für Nichtbehindert erklärte) in seiner tabubrechenden Entscheidung vom Herbst 1998 entschieden, eine "planwidrige Regelungslücke" geschlossen: Die Lücke haben die Nazis gelassen - selbst diese allerdings nicht planwidrig, sondern weil sie ein "Euthanasie"-Gesetz nicht für opportung hielten. Auch den Frankfurter Richtern ist die bedenkliche Nähe in die sie sich mit ihrem Richterspruch[7] begeben haben aufgefallen - sie haben deswegen dem Vormundschaftsgericht Hanau, das in der Vorinstanz zu Recht festgestellt hatte, die deutsche Rechtsordnung sehe einen "Richter über Leben und Tod" nicht vor scharf entgegnet : "Hinter der Ansicht ist der Gedanke an das Euthanasieprogramm der Nazis verborgen, das mit dem Ziel der Vernichtung >lebensunwerten< Lebens keine Parallele zum vom wenigstens mutmaßlichen Willen des Betroffenen getragenen Behandlungsabbruch sein kannn. auch weil die richterliche Genehmigung gerade und zusätzlich einem Mißbrauch entgegenwirken soll." Daß die Gerichte in der Bundesrepublik, die engagierter als jede andre Instanz die Freigabe von "Euthanasie" betreiben und die auch schon Nazi-"Euthanasie"-Ärzte feeigesprochen hat, weil sie "aus echtem Mitelid" gehandelt hätten, nicht gerade zur Kontrollinstanz prädestiniert sind, steht auf einem anderen Blatt. Hier ist festzuhalten, daß die Anwendung des § 1904 BGB für "Euthanasie"-Fälle das Strafrecht aus diesem Berich von Patienten-Tötungen aus Mitleid weitgehend und dann auch endgültig verdrängen würde. Das Leben von Betreuten würde damit zur Disposition von sozialstaatlichen Institutionen gestellt.

Die Deutung des § 1904 BGB, wie sie das Oberlandesgericht Frankfurt a.M. vorgenommen hat ist allerdings noch nicht durchgesetzt. Zustimmung und Kritik halten sich, auch in der juristischen Kontroverse noch ungefähr die Waage. Ist allerdings in der Rechtsprechung der § 1904 BGB als Norm einmal durchgesetzt, die erlaubt Tötung "aussichtloser Fälle" zu erlauben, ist damit eine Grenze überschritten: Dann ist nicht mehr nur der Wirkungsbereich des Strafrechts, das wenigstens symbolischen Schutz verheißt, erheblich eingegrenzt, dann wird der Beschluß Verhungern zu lassen schnell zur vormundschaftrichterlichen Routine, die nicht nur auf Patienten im apallischen Syndrom begrenzt bleiben wird.

Die neuen ärztlichen Richtlinien zur Sterbegleitung dürften, und hier zeigt sich, wie Recht und Praxiszusammenwirken, denn deren Formulierung wurde wiederum durch das BGH-Urteil im Kemptener Fall motiviert, die Position des OLG Frankfurt a.M. stärken. Wenn Ärzte nämlich künftig bei nicht-sterbenden Patienten mit einer lebensbedrohenden Krankheit "das Therapieziel ändern" wollen, wie die Neusprech-Umschreibung für Herbeiführung des Todes heißt, fragt sich, wie diese Entscheidung rechtlich abgesichert werden kann und muß: Die Entscheidung des Vormundschaftsgerichts scheint dann gegenüber der individuellen Entscheidung des Arztes am Krankenbett vorzugswürdig. Übersehen wird bei dieser Argumentation allerdings, daß die Ärztlichen Richtlinien berufsständischer Natur sind und deswegen kein Recht setzen können. Das in solchen Fällen angerufenen Vormundschaftsgericht müßte also, einmal angerufen, immer ablehnend entscheiden, weil § 1904 BGB keine Rechtsgrundlage für die Herbeiführung des Todes durch Nahrungsabbruch gibt. Daß dieser grundsätzliche Einwand auf Dauer die pragmatische Praxis bremsen kann, darf allerdings bezweifelt werden.

Charakteristisch für die Probleme, die sich ergeben werden sind allerdings Stellungnahmen von Vormundschaftsrichtern, die auf ein anderes Problem verweisen: Nicht nur der Abbruch der künstlichen Ernährung, auch deren Einleitung bedarf einer rechtlichen Legitimation: Das Legen einer PEG-Sonde stellt nämlich nach ganz herrschender Meinung auch eine Körperverletzung dar, die einer Einwilligung bedarf - allerdings ist diese Einwilligung leichter zu erhalten und zu legitmieren: Sie zielt auf den von der Rechtsordnung grundsätzlich erwünschten Lebenserhalt. Bei Bewußtlosen oder sonstwie Nicht-Einwilligungsfähigen wird die Einwilligung vom Betreuer kommen nüssen, der nach § 1901 III BGB dazu beitragen muß, daß die Folgen der Krankheit oder Behinderung des Betreuten gemildert werden müssen. Im übrigen muß er auch dessen wohl entsprechend handeln, das im Allgemeinen darin bestehen wird, nicht zu verhungern. Die Idee, die Magensonde gar nicht erst zu legen, um sich später die Entscheidung zu ersparen, trotz Magensonde nicht mehr zu ernähren,[8] erscheint angesichts deswegen wenig überzeugend. Die Entscheidung wäre gleichermaßen von Lebenswert-Überlegungen Dritter bestimmt und der "natürliche Kauf" wäre ebenso, wie beim Abbruch der Ernährung das keineswegs so natürliche Verhungern.

Für die Zukunft dürfte die gegenwärtige juristische Diskussion, die ja regelmäßig eine Praxis nach sich zieht, allerdings andere Schwerpunkt setzen: In dem Maß, wie Rationierungsversuche zunehmen, stellt sich die Frage, welche Anforderungen das Strafrecht an Sorgfalts- und Behandlungspflichten stellt. Ist der durch bewußt herbeigeführten Kapazitätsmangel auf der Intensivstation verursachte Tod ein Totschlag? Kann sich die Klinik oder die Krankenkasse weigern eine indzierte lebenserhaltende Therapie durchzuführen, weil die Kosten zu hoch sind? Und ab wann ist eine Therapie so anerkannt, daß sie als indiziert gelten kann?

Die Debatte um den Behandlungsabbruch bei bewußtlosen Menschen, die zur Zurückdrängung des Strafrechts geführt hat, wird auf diese Auseinandersetzung ausstrahlen - der ökonomische Sachzwang und das tödliche Mitleid geben ein explosives Gemisch ab.

Das gilt vor allem, wenn man sich die Kehrseite der juristischen Medaille betrachtet: Wie steht es um die Wahrung der Lebens-Interessen von Menschen mit Behinderungen? Während die Mitleidstötung hoch im Kurs steht und privilegiert behandelt wird, genießt das neue Grundrecht auf Gleichbhehandlung für Behinderte nämlich ein schlechtes Ansehen in der Juristenschaft. Es gilt als systemfremd, eine unerwünschte Form von sozialstaatlichem Dirigismus - was dazu führt, daß es in den Einzelfällen kleingekocht wird. Obwohl das Diskriminierungsverbot für Behinderte in Artikel 3 II GG nunmehr ausdrücklich enthalten ist, hat das Bundesverfassungsgericht einen Anspruch behinderter Schüler auf Regelbeschulung verneint, die Ausgrenzung in die Sonderschule stelle keine Diskriminierung dar. Auch die Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil, das Behinderten zu bestimmten Tageszeiten verbietet in den Garten zugehen, weil sich die Nachbarn durch ihre Kommunikations gestört fühlen, wurde abgewiesen. Behinderte haben vor gericht keinen Anspruch darauf erhalten, zu Hause ihre Pflege selbst organisieren zu können und nicht ins Heim zu müssen, ihre Pflegestandards wurden, geduldet von der Rechtsprechung, so nachhaltig begrenzt, daß ihnen eine Teilnahme am sozialen Leben oft kaum noch möglich ist. Das Diskriminierungsverbot hat auch die Sterilisation ohne Einwilligung nicht stoppen können. Mitleid, das wird beim Betrachten der Rechtsprechung deutlich, führt eben nicht zur Unterstützung der Benachteiligten, sondern stärkt das Interesse, das Leid zu beseitigen. Dieser Kontext unterscheidet die bundesdeutsche Auseinandersetzung um Sterbehilfe und Bioethik deutlich von der wie sie in anderen westlichen Industrienationen geführt wird, in denen Anti-Diskriminierungsregelungen vergleichsweise hoch im Kurs stehen und auch sonst ein weitaus höheres Maß an kultureller Verschiedenheit akzeptiert ist.

 

[1] BGHNStZ 1985, 119
[2] BGH NJW 1995, 214
[3] BGH NStZ 1992, 34 (m. Anm. Roxin)
[4] Jakobs, Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, Vortrag vor der Bayrischen Akademie
[5] Herzberg, NJW 1996, 3043
[6] Merkel, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, H.3,1995, 545 ff.
[7] OLG Frankfurt, NJW 1998, 2749
[8] Vgl Student, Dr.med Mabuse 115, S. 59

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