Triage oder inklusive Intensivmedizin?
13.04.2020 | AutorIn: Oliver Tolmein | tolmein.de, Bioethik, Recht
Während in den vergangenen Tagen sich insbesondere die Exekutive auf Landes- und Bundesebene nach anfänglichem Zögern in vielerlei Fragen als zupackend und entscheidungsfreudig gezeigt hat und auch der Gesetzgeber einige weitreichende gesetzliche Regelungen im Eiltempo verabschiedet hat, insbesondere zur Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes, aber auch um Mieter zu schützen oder Schadensausgleichszahlungen an die Wirtschaft zu ermöglichen, ist es seitens der Politik mit Blick auf die Fragen der Zuteilung medizinischer Ressourcen auffallend, aber nicht überraschenderweise still geblieben: der Gesetzgeber hat beispielsweise auch im Transplantationsgesetz die Erarbeitung von Zuteilungskriterien für die knappe Ressource „Organe“ der Ärzteschaft überlassen – trotz scharfer Kritik von fast allen mit der Materie vertrauten Juristen. Im Gesetz selbst findet sich lediglich die Formulierung, die Organe seien „insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit“ (§ 12 Absatz 3 TPG) an Patienten zu vermitteln: dabei bezeichnet gerade dieses Begriffspaar recht unterschiedliche Konzepte. Oft ist nämlich die besonders dringlich erscheinende Transplantation die mit den deutlich geringeren Erfolgsaussichten.
Angesichts der drängenden Fragen und des aktuell beredten Schweigens des Gesetzgebers, haben sich private Verbände und der, zwar durch Gesetz begründete, Deutsche Ethikrat, der aber über keinerlei eigene Entscheidungskompetenzen verfügt, nach vorne gewagt. Zwei grundlegende, vor wenigen Tagen veröffentlichte Empfehlungen setzen sich in Deutschland mit dem Thema auseinander – und kommen dabei teilweise zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Die „Klinisch-ethischen Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfall-Medizin (DIVI), die mit Datum 25. März von fünf weiteren medizinischen Fachgesellschaften verabschiedet worden sind, gehen davon aus, dass in Deutschland “in kurzer Zeit“ nicht mehr ausreichend intensivmedizinische Ressourcen für alle Patienten zur Verfügung stehen werden. Sie wollen deswegen Entscheidern medizinisch und ethisch begründete Unterstützung anbieten.
Maßgebliches Kriterium soll dafür nach Auffassung der „Empfehlungen“ die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung sein. Vorrangig sollen die Patienten behandelt werden, die eine „höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf) haben.“ Verzichten möchten die Intensivmediziner auf die Therapie von Patienten, bei denen die Behandlung die nicht indiziert ist oder allenfalls sehr geringe Erfolgsaussichten hat vorsichtig formuliert: Sterbende sollen nicht mehr intensivmedizinisch behandelt werden, Menschen, die Intensivtherapie ablehnen auch nicht mehr, dagegen sollen „allein das kalendarische Alter“, ebenso wenig wie nicht näher beschriebene „soziale Kriterien“, zu keinen nachteiligen Entscheidungen führen.
Unter Punkt 3.2. „Kriterien für die Priorisierungs-Entscheidungen“ wird es dann konkreter: hier wird erläutert, welche Kriterien „in der Regel mit einer schlechten Erfolgsaussicht“ verbunden sind. Neben z.B. krankheitsbezogenen Anhaltspunkten wie multiplem Organversagen und Komorbiditäten wie „weit fortgeschrittenen neuromuskulären Erkrankungen“ oder irreversibler Immunschwäche, wird auch der allgemeine Gesundheitsstatus, insbesondere die „Gebrechlichkeit“ angeführt, die nach der Clinical Frailty Scale bemessen wird, ein Instrument, das auch bei Auswahl-Entscheidungen in der Transplantationsmedizin eine Rolle spielt und das 9 Stadien unterscheidet: von 1 (sehr fit) bis 9 (sterbend). Stadium 4 ist „vulnerabel“: keine täglich Hilfe durch andere nötig, aber „verlangsamt“ oder „müde während des Tages“, Stadium 7 ist „sehr gebrechlich“: wegen einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung vollständig abhängig von persönlicher Unterstützung, aber stabil und nicht gefährdet während der nächsten 6 Monate zu sterben. Zwar wird in wissenschaftlichen Anmerkungen zur Clinical Frailty Scale festgehalten, dass diese nur bei älteren Personen (?65 Jahren) umfangreich validiert sei, nicht dagegen bei "Personen mit stabilen dauerhaften Behinderungen, wie z.B. frühkindlichen Hirnschädigungen, validiert, da deren Prognose stark von derer älterer Menschen mit progredienten Behinderungen differieren könnte." In den DIVI-Empfehlungen findet sich diese Einschränkung aber nicht. Hier wird vielmehr festgehalten, dass der "Allgemeine Gesundheitsstatus" der Patienten bei Priorisierungsentscheidungen zu berücksichtigen sei. Erwähnt wird dabei konkretisierend lediglich: "Gebrechlichkeit (z.B. mit der Clinical Frailty Scale)".
Im Zusammenspiel mit den anderen Faktoren ergibt sich klar, dass neben alten Menschen auch Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen wegen ihrer Beeinträchtigungen (die als "Gebrechlichkeit" oder "Komorbiditäten" gefasst werden können) im Zweifelsfall in die Gruppe der nicht zu behandelnden Patienten eingestuft werden können.
Dabei wird kann es konkret möglicherweise nicht nur um die Entscheidung gehen, ob, wie landläufig das Dilemma einer Triage illustriert wird, der 79 jährige mit einer mittelgradigen Ausprägung von Demenz behandelt wird oder die 44jährige Mutter von drei Kindern. Der Algorithmus der „Empfehlungen“ bevorzugt im Ergebnis auch den 51jährigen Familienvater ohne Beeinträchtigungen vor dem 49jährigen Familienvater, der an Multipler Sklerose erkrankt ist und einen hohen Assistenzbedarf hat und vor der 17jährigen jungen Frau mit Down-Syndrom und einem leichten Herzfehler.
Dafür muss niemand eine Empfehlung formulieren, dass Menschen mit Behinderungen keine Behandlung erhalten sollen – die Benachteiligung hier ergibt sich mittelbar aus den normierten Kriterien.
Die Weltgesundheitsorganisation warnt angesichts dieser derzeit in einigen Ländern sich abzeichnenden Entwicklung vor einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen bei der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie: Menschen mit Behinderungen befinden sich in doppeltem Maße in Lebensgefahr – einerseits werden sie als Angehörige Risikogruppe, die in hohem Maße durch das Virus selbst gefährdet, gleichzeitig droht ihnen, dass sie durch triage-ähnliche Entscheidungen einmal infiziert nicht ausreichend behandelt werden. Dabei fordert die UN-Behindertenrechtskonvention in Artikel 25 ausdrücklich eine diskriminierungsfreie gesundheitliche Versorgung und verlangt in Artikel 11 gerade in humanitären Notlagen und Gefahrensituationen den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten.
Bemerkenswert an den „Empfehlungen“ der Fachgesellschaften ist, dass sie sich sowohl auf die Entscheidung beziehen, bei welchen Patienten intensivmedizinische Behandlungen begonnen werden, als auch bei welchen Patienten bereits eingeleitete intensivmedizinischen Maßnahmen beendet werden. Damit besteht die Möglichkeit, dass die Belegung eines Intensivbettes mehrfach wechselt bis schließlich der Patient mit der mutmaßlich besten Gesamtprognose dort zu Ende behandelt wird.
In den am 27. März veröffentlichten Ad-Hoc-Empfehlungen des Ethikrates, die das weite Themenfeld „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ behandeln, wird dagegen klar unterschieden zwischen der „Triage bei Ex-ante-Konkurrenz“, bei denen eine zu geringe Zahl von Intensivbetten unter einer zu großen Zahl von Patienten verteilt wird, und der „Triage bei Ex-post-Konkurrenz“ in dem eine bereits begonnene, aussichtsreiche lebenserhaltende Behandlung abgebrochen wird, um den Behandlungsplatz einem anderen Patienten zur Verfügung zu stellen. Während der Ethikrat die Ex-ante-Verteilung normativ für weniger problematisch hält, Patienten, denen die Behandlung vorenthalten wird, von den medizinischen Entscheidern nicht durch Unterlassen „getötet“ werden würden, „sondern aus Gründen einer tragischen Unmöglichkeit für dem krankheitsbedingten Sterben nicht gerettet werden“ würden, sei die Entscheidung eine Behandlung bei fortbestehender Indikation abzubrechen weitaus problematischer.
Der Ethikrat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Fragen der medizinischen Behandlung und gegebenenfalls auch des Unterlassens einer solchen dem Strafrecht zugeordnet sind. Allerdings will der Ethikrat denjenigen, die in einer solchen Lage eine Gewissensentscheidung träfen, zu billigen, dass sie im Fall einer möglichen strafrechtlichen Aufarbeitung des Geschehens „mit einer entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung rechnen (können)“ – vorausgesetzt sie hielten sich an die transparenten Kriterien, die etwa eine Fachgesellschaft aufgestellt hätte.
Diese Stellungnahme ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil die Autoren der Ad-hoc-empfehlung des Deutschen Ethikrates zuvor zwei Punkte sehr deutlich herausgearbeitet haben: die Verteilung knapper Ressourcen berührt zentrale Grundrechte der Betroffenen und wirft fundamentale Fragen der Verteilungsgerechtigkeit auf. Für den Staat, so der Deutsche Ethikrat zutreffend, gilt der unverbrüchliche „Grundsatz der Lebenswertindifferenz“: „Jede unmittelbare oder mittelbare staatliche Unterscheidung nach Wert oder Dauer des Lebens und jede damit verbundene staatliche Vorgabe zur ungleichen Zuteilung von Überlebenschancen und Sterbensrisiken in akuten Krisensituationen ist unzulässig.“ Dieses verfassungsrechtlich abgesicherte und von allgemein anerkannte Prinzip führt die Mitglieder des Deutschen Ethikrates zu der Konsequenz staatliche Regelungen für ungeeignet zu halten, weil sie aufgrund der starken Bindung an den Gleichbehandlungsgrundsatz keine „positive Orientierung für die konkrete Auswahlentscheidung in der Klinik“ bieten können. Daraus wollen die Mitglieder des Ethikrates aber nicht den Schluss ziehen, dass Auswahlentscheidungen in der Klinik überhaupt unmöglich seien. Im Gegenteil, einheitliche Handlungsmaximen halten sie für wünschenswert, die Fachgesellschaften könnten sie anders als der Staat begründen – und damit zwar kein neues Recht schaffen, aber eine für die unmittelbare Krisensituation gangbare Praxis. Rechtlich weicht diese Lösung vom allgemein anerkannten Prinzip deutlich ab, dass der Staat seiner Schutzpflicht für das Leben dadurch nachkommen muss, dass er wesentliche Fragen, wie beispielsweise die Zuweisung lebensentscheidender Krankenversorgungsleistungen, für die Menschen mit Behinderungen aufgrund gesetzliche Regelungen als Mitglieder der Krankenkasse genauso Beiträge zahlen wie alle anderen, durch formelle Gesetze regeln muss.
Immerhin könnte man der, im wahren Sinne des Wortes, Notlösung des Ethikrates zubilligen, dass er sie verhindern will, dass hier in einem einzigartigen Krisenfall eine dauerhafte Lösung geschaffen wird, die den Anschein von Normalität erweckt, statt den Blick dafür offen zu halten, dass sich angesichts zu knapper Ressourcen die Gesellschaft eingestehen muss, dass es umfassend gute und für alle hinnehmbare Auswege auch und gerade in existentiellen Fragen nicht gibt.
Bedenklich allerdings erscheint, dass der vom Ethikrat gewiesene Ausweg mit seiner Akzentuierung der „Erfolgsaussichten“ gegenüber dem Kriterium der Dringlichkeit im Ergebnis sehr wohl zu einer Bewertung menschlichen Lebens kommt, insbesondere wenn Auswahlkriterien wie „Gebrechlichkeit“ und Einschätzungen über eine „bessere Gesamtprognose (auch in weiteren Verlauf)“ eine lebensentscheidende Bedeutung erhalten. Dass damit die Gesellschaft die Solidarität gerade mit einer Gruppe aufzukündigen droht, die ohnehin in vielen Fragen an den Rand gedrängt wird, ist nicht hinzunehmen. Die Antwort auf COVID-19 müsse für Menschen mit Behinderungen inklusiv ausfallen, haben deswegen britische Gesundheitswissenschaftler in einem Beitrag für die renommierte Fachzeitschrift „Lancet“ gefordert und vorgeschlagen, dass Ärzte und Pflegekräfte Schulung über die besonderen Bedürfnisse und auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen erhalten sollten. COVID-19 wirft so auch die Frage auf, wie Ernst die Gesellschaft den neuen menschenrechtlichen Begriff von Behinderung nimmt und damit die Inklusion in einer ganz zentralen Frage des sozialen Miteinander.
In der FAZ ist am 7. April 2020 ein etwas knapperer Text zum Thema erschienen
In der jungle world habe ich am 12. März 2020 einen Text über "Die Pandemie und das Recht" veröffentlicht, der auch die Frage der Verteilung kapper Ressourcen streift.