Überlebenshilfe

01.03.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Ein Brite klagt vor Gericht sein Lebensrecht ein

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2004, Nr. 51 / Seite 40: Der britische General Medical Council rät Ärzten die künstliche Ernährung bei Patienten abzubrechen, für die die Belastung höher sein soll als der Nutzen. Ein Behinderter befürchtet, dass ihm so ein vorzeitiger Tod drohe könnte und klagt gegen diese Empfehlung.

Je größer der öffentliche Druck wird, Sterbehilfe und den zum sicheren Tod führenden Behandlungsabbruch zu legalisieren und zu legitimieren, desto mehr nimmt auch die Sorge von Menschen mit Behinderungen zu, nicht mehr ausreichend medizinisch versorgt zu werden. In Großbritannien hat letzte Woche eine vor dem High Court in London erhobene Klage des vierundvierzigjährigen Oliver Leslie Burke, der wegen einer schweren fortschreitenden Hirnerkrankung seit zwölf Jahren im Rollstuhl sitzt, die Öffentlichkeit bewegt. Burke will mit dem Prozeß verhindern, daß Ärzte in naher Zukunft, wenn er sich nicht mehr artikulieren können wird, entscheiden dürften, daß bei ihm die künstliche Ernährung gar nicht erst eingeleitet oder sogar abgebrochen wird. Auch in den Niederlanden haben angesichts der dortigen Euthanasie-Praxis immer mehr Menschen die Sorge, daß Ärzte eigenmächtig ihren Tod herbeiführen. Dort werden deswegen vielfach Patientenverfügungen verfaßt, die die Fortführung lebenserhaltender Behandlungen anordnen. Burke befürchtet allerdings, daß dies in England nicht ausreicht. Tatsächlich ist hier nicht der tatsächliche oder der mutmaßliche Wille der Patienten Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzungen um den Abbruch lebenserhaltender Behandlungen. Seit dem englischen "leading case", der 1993 den Abbruch der künstlichen Ernährung des Wachkomapatienten Tony Bland erlaubte, orientieren sich die Ärzte vielmehr am sogenannten "best interest" der Patienten, einer Kategorie, vergleichbar dem "Wohl". Aber was genau umfaßt dieses, und wie soll es jeweils erschlossen werden?

Nach Auffassung des obersten englischen Gerichts ist das Wohl eines Patienten vor allem aus medizinischer Sicht zu bestimmen - dabei sollen die Ärzte nicht nur berücksichtigen, ob ein Patient überhaupt weiterleben kann, sondern auch, welche Qualität sein Leben nach ihrer Auffassung haben wird. Die individuellen Vorstellungen der Patienten sollen in diese Entscheidung allerdings einbezogen werden. Auf der Basis dieser Rechtsprechung hat der General Medical Council, ein gesetzlich verankertes Gremium, das die Rechte der Patienten wahren soll, vor zwei Jahren Empfehlungen verabschiedet. Darin wird etwa dem Arzt ermöglicht, die künstliche Ernährung unabhängig vom tatsächlichen oder vermuteten Willen des Patienten abzubrechen, wenn sie prognostizieren, daß die künstliche Ernährung Leiden verursacht oder den Patienten mehr belastet, als daß sie ihm nützt. Nach Rücksprache mit Angehörigen und dem Behandlungsteam soll dann die Magensonde entfernt oder gar nicht erst gelegt werden - der sichere Tod in zwei bis drei Wochen ist die Folge. Mit seiner Klage will Burke, der früher als Postbeamter gearbeitet hat und der heute in einem Zentrum in Lancaster andere Behinderte berät, erreichen, daß die Behandlungsrichtlinien geändert werden. Seiner Meinung nach verstoßen sie gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Recht auf Leben und das Recht auf Achtung des Privatlebens. Damit ist auch der weitere Weg der Klage vorgezeichnet, der bis nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen könnte. Dort wäre sie dann das Gegenstück zu dem vor zwei Jahren verhandelten Fall der Dianne Pretty (F.A.Z. vom 23. März 2002). Während Pretty mit dem Anliegen scheiterte, daß ein Recht auf den selbstbestimmten Tod anerkannt wird, fordert Burke das Recht auf ein Weiterleben unabhängig von dessen ärztlich vermuteter Qualität ein.

Weiterführende Links

    Die Empfehlungen des General Medical Council zum Abbruch der künstlichen Ernährung | http://www.gmc-uk.org/standards/whwd.htm

 

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