Unser Positivismusstreit ist noch jung

22.11.2011 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Der Papst und die Rechtslehre: Es gibt eine demokratische Kritik an Hans Kelsen

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.11.2011 Seite 33

Der Papst hat mit seiner Rede im Deutschen Bundestag die Debatte über Hans Kelsen, den Rechtspositivismus und eine auf Naturrecht basierende Ethik neu eröffnet. Die bundesdeutsche Medien-Öffentlichkeit erinnerte sich immer nur an Carl Schmitt. Dabei ist Gustav Radbruch ein mindestens so interessanter Gegner reiner Rechtslehren.

Am 12. September 1945 veröffentlichte Gustav Radbruch, den die Nationalsozialisten im Mai 1933 aus seinem Professorenamt entlassen hatten, in der „Rhein-Neckar-Zeitung“ einen kurzen Text: „Fünf Minuten Rechtsphilosophie“. Radbruch, der 1921/22 sowie 1923 als Mitglied der SPD Reichsjustizminister gewesen war und sich für die Abschaffung der Todesstrafe und des Abtreibungsverbots stark gemacht hatte, ging in seinem Schnellkurs für Zeitungsleser von der Feststellung aus, dass „vor hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben“ seien. Seitdem habe niemand mehr Ausnahmen von dem Grundsatz zugeben wollen, dass das Gesetz gelte, weil es Gesetz sei: „Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung, (wir nennen sie die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, so grausame, noch so verbrecherische Gesetze.“

Die „Fünfte Minute“ widmete der Autor „Rechtsgrundsätzen, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so dass ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist“. Radbruch endete mit dem Hinweis auf zwei Bibelworte, die er durch den gleichen Gedanken geprägt sah. Berühmt wurde Radbruchs 1946 in einer Fachzeitung veröffentlichter Aufsatz über „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“: Es gebe Fälle, in denen das Gesetz als „unrichtiges Recht“ der Gerechtigkeit zu weichen habe, und es gebe Gesetze, die Gerechtigkeit nicht einmal erstrebten, daher jeder Rechtsnatur entbehrten. Radbruch revidierte auch seine eigene „Rechtsphilosophie“, in der er 1932 noch entschieden darauf beharrt hatte, dass es „für den Richter Berufspflicht“ sei, „ den Geltungswillen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was Rechtens ist, und niemals, ob es auch gerecht sei“.

Auch wenn man heute mit guten Gründen die Auffassung Radbruchs zurückweist, dass der Rechtspositivismus, wie ihn namentlich Hans Kelsen vertreten hat, die Deutschen und ihre Juristen gegen den Nationalsozialismus wehrlos gemacht hätten, ist doch bedeutsam, dass unmittelbar nach der Befreiung Deutschlands ein entschiedener Hitlergegner, dessen Denken wie das von Kelsen im Neukantianismus wurzelte, die Kritik an Grundsätzen und Konsequenzen der „Reinen Rechtslehre“ wieder aufnahm – und nicht etwa ein gestandener Gegner demokratischer Rechtsstaatlichkeit.

Papst Benedikt XVI. hat am 22. September in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag Hans Kelsens Rechtspositivismus kritisiert und damit Kritik hervorgerufen. Die Kritiker des Papstes erwähnen als Antipoden Kelsens stets Carl Schmitt – so auch Raphael Gross am 14. Oktober in diesem Feuilleton. Das ist zwar angesichts des Methodenstreits in der Weimarer Staatsrechtslehre nicht abwegig, überdeckt aber andere, möglicherweise schwieriger zu bewertende Konfliktlinien. Die zwischen Kelsen und Radbruch leider nie ausgetragene Kontroverse über die rechtliche Begründung, warum nationalsozialistische Verbrechen bestraft werden können, gehört hierzu. Während Radbruch den nationalsozialistischen Gesetzen, soweit sie verbrecherisches Handeln legalisierten, die Rechtsnatur absprach, plädierte Kelsen, der das War Crimes Office der Vereinigten Staaten beriet, in einem 1945 veröffentlichten Aufsatz dafür, das Rückwirkungsverbot an diesem Punkt aufzugeben: „Eine Rückwirkung ist gesetzlich möglich, auch wenn sie moralisch oder politisch nicht wünschenswert sein mag.“

In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist, dass auch die Nationalsozialisten offensichtlich Grenzen dessen sahen, was als Gesetz verabschiedet werden kann. Es existierte zwar ein Gesetzentwurf, der den als „Euthanasie“ propagierten Massenmord an behinderten Menschen legalisieren sollte, beschlossen wurde dieses Gesetz aber nicht – auch wenn taktische und nicht rechtsphilosophische Erwägungen diesem Nichthandeln des Gesetzgebers zugrunde lagen.

Papst Benedikt XVI. schlug in seiner Rede vor dem Bundestag den Bogen von der Bewältigung nationalsozialistischen Unrechts zur aktuellen Arbeit des Gesetzgebers im demokratischen Rechtsstaat, für den es schwer sei zu erkennen, wie die Gesetzgebung der Gerechtigkeit dienen könne. Er kritisierte ein reduziertes, funktionales Verständnis von Natur und warnte vor einer Entwicklung, in der die „positivistische Vernunft sich allein als die genügende Kultur ansieht“. Wo sie „alle anderen kulturellen Realitäten in den Status der Subkultur verbannt, da verkleinert sie den Menschen, ja sie bedroht seine Menschlichkeit“. Das war wesentlich mit Blick auf die Debatte um die Bioethik gesprochen, zu deren Schrittmachern neben utilitaristisch geprägten Autoren die Vertreter rechtspositivistischer Positionen wie Horst Dreier gehören, die mit Kelsen von einer Trennung von Gesetz und Moral ausgehen

Nimmt man mit Dreier allerdings an, dass die Trennung von Recht und Moral den Blick für „schlechtes“, „unsittliches“ oder „ungerechtes“ Recht nicht trüben, sondern schärfen soll, tut sich hier zumindest kein Gegensatz auf, der erträgliche Ergebnisse ausschließt. Kelsen hat sich trotz seines Wertrelativismus der Auseinandersetzung über die Frage, was „Gerechtigkeit“ sei, nicht verschlossen. Hier liegt ein wichtiger Ansatzpunkt für die bioethischen Diskussionen. Dass die wertrelativistischen und positivistisch geprägten angelsächsischen Rechtskulturen auch die Praxis eines Rechts sehr weit entwickelt haben, das die Diskriminierung von Minderheiten unterbindet, gibt zu denken

 

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