Versuchsmenschen

05.04.1998 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Versuche am Menschen

Veröffentlicht in: Konkret 04 / 98, S. 27

Noch eine Anhörung im Rechtsausschuß des Bundestags, dann wird auch die Bundesrepublik Deutschland das "Menschenrechtsabkommen zur Biomedizin" unterzeichnen. So plant es zumindest Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig. Und viel spricht dafür, daß er Erfolg haben wird

"Wer glaubt, Deutschland in den Abwehrkampf gegen ein eugenisches Europa führen zu müssen, wird dazu beitragen, daß Deutschland vom Vorreiter zum Außenseiter im Prozeß der Ausbildung eines europäischen Rechtsbewußtseins wird." Und weil die BRD als Vorreiter in Sachen "Ausbildung eines europäischen Rechtsbewußtseins" schon bei der Abschaffung des Asylrechts und der Schaffang der ohne gesetzliche Grundlagen operierenden Europol Herausragendes geleistet hat, müht sich nicht nur der SPD-Bundestagsabgeordnete Wolf-Michael Catenhusen, daß von deutschem Boden aus auch weiterhin nie ein Abwehrkampf gegen welche Eugenik auch immer geführt werden wird. Drohend bringt der Gentechnik-Experte und Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion seine Presseerklärung "Menschenrechtskonvention zur Biomedizin unterzeichnen" zuende: "Unsere gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Menschenwürde werden in Deutschland so lange Bestand haben, wie die große Mehrheit der Bevölkerung von ihrer Notwendigkeit überzeugt ist."

Unklar bleibt, ob Catenhusen in Ordnung findet, daß der Erhalt von Grundrechten nur bei 2/3-Mehrheit gesichert ist, oder ob er, nach dem Marsch durch die Enquete-Kommissionen weise geworden, das drohende Ende des gesetzlichen Schutzes der Menschenwürde lediglich resignierend als Faktum vermeldet. Seine politische Strategie jedenfalls entspricht den Traditionen seiner Partei: Catenhusen will den Schutz der Menschenwürde in Europa sichern, indem er erlaubt, sie ein bißchen abzuschaffen. "Auf Erkenntnis gerichtete Forschung an nichteinwilligungsfähigen Kranken könnte wichtig werden, auch wenn sie den Betroffenen nicht unmittelbar hilft." Die Möglichkeit, sogenannte "fremdnützige Forschung" an pflege- und betreuungsabhängigen Menschen, die sich dazu nicht mehr selber äußern können, durchzuführen, ist nach übereinstimmender Auffassung aller an der Kontroverse Beteiligten ein zentrales Anliegen des "Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin", für dessen Unterzeichnung durch die Bundesrepublik Wolf-Michael Catenhusen sich zusammen mit Abgeordneten von CDU/CSU und FDP in einer ganz großen Koalition stark macht.

Diese Regelung des im Europarat verhandelten Abkommens, das bereits von 22 Staaten unterzeichnet worden ist, markiert einen endgültigen Abschied vom Nürnberger Ärztekodex, der nach dem Prozeß gegen Mediziner, die Versuche an KZ-Häftlingen und Schwerbehinderten durchgeführt hatten, 1947 vom Internationalen Gerichtshof festgeschrieben worden war. Im Mittelpunkt des Kodexes steht die bedingungslose Forderung nach Freiwilligkeit jedes medizinischen Experiments: "Das heißt, daß der Betreffende die gesetzmäßige Fähigkeit haben muß, seine Einwilligung zu geben, in der Lage sein muß, eine freie Entscheidung zu treffen, unbeeinflußt durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Beeinflussung und genügend Kenntnis von und Einsicht in die Bestandteile des betreffenden Gebietes haben muß, um eine verständnisvolle und aufgeklärte Entscheidung treffen zu können."

Liest man die Texte von Gegnerinnen und Gegnern des "Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin", dann gewinnt man schnell den Eindruck, daß es eben genau diese gefährlichen und quälerischen Versuche der 40er Jahre sind, die nach Unterzeichnung des Abkommens wieder drohen. "Von Interesse ist zum Beispiel, ob der Proband eine Miene verzieht, wenn ihm Schmerz zugefügt wird, etwa an Nase oder Fingernägeln. Zum Programm gehört auch die >Blitzstimulation der Augen<. Dabei wird gemessen, ob bei Einsatz von Flackerlicht eine verstärkte Hirndurchblutung auftritt. Gibt es keine Veränderung beim bewußtlosen Patienten, gehen die Wissenschaftler davon aus, daß seine Großhirnrinde zerstört ist." Beschreibt beispielsweise Klaus Peter Görlitzer in der "Taz" ein Forschungsprojekt des Berliner Neurologen Einhäupel mit Patienten im Wachkoma. Und fährt fort: ">Natürlich geht es hier nicht nur darum, komatösen Patienten Blut abzunehmen, so niedlich sehen wir die Dinge in der Tat nicht<, erklärte zum Beispiel der Neurologie-Professor Karl Max Einhäupel im vergangenen Jahr während einer Anhörung zur Biomedizin-Konvention im Berliner Abgeordnetenhaus. Der Mediziner berichtete von seiner >Apalliker-Studie<, die er am Klinikum Charité der Berliner Humboldt-Universität leitet."

Diese "Apalliker-Studie" allerdings ist, anders als Görlitzer suggeriert, gerade nicht dadurch charakterisiert, daß sie die Patienten physisch belastet: Die von ihm erwähnte Zufügung von (leichten) Schmerzen gehört zum Standardrepertoire neurologischer Untersuchungen, ohne die gar nicht festgestellt werden kann, welche Reize ein Patient empfindet. Würde Einhäupel sie unterlassen, müßte man ihm vorwerfen, daß er nicht sorgfältig diagnostiziere. Auch die "Blitzstimulation der Augen" ist neurologische Diagnose-Routine. Und das Eingeständnis Einhäupels, es gehe um Schlimmeres als darum, den Patienten Blut abzunehmen? Im Zusammenhang klingt es noch dramatischer, Einhäupel fährt fort: "Es geht darum, mit komatösen Patienten klinische Studien durchzuführen, die theoretisch auch geeignet sind, das Leben eines komatösen Patienten zu verkürzen und ihm Schaden zuzufügen." Nur geht es in diesem Passus, wie schnell erkennbar wird, eben keineswegs um die Apalliker-Studie Einhäupels und auch nicht um "fremdnützige Forschung", sondern um Heilversuche, die an Patienten durchgeführt werden, für die es sonst keine oder nur völlig unzureichende therapeutischen Möglichkeiten gibt. Konkret verweist der Berliner Neurologe auf eine Studie zur Behandlung von Menschen, die aufgrund einer Hirnvenenthrombose im Koma lagen, bei denen nach vielen Vorversuchen und schließlich mit bemerkenswertem Erfolg versucht wurde, durch Verdünnung des Blutes die Thrombose zu lösen. Auch Heilversuche an Nicht-Einwilligungsfähigen, die vom Nürnberger Ärztekodex nicht erfaßt werden, können im Einzelfall ethisch bedenklich sein. Die Problematik ist aber eine ganz andere als beim Experiment, das gerade dadurch charakterisiert ist, daß es keinerlei Nutzen für den Versuchsmenschen hat.

Lebensverkürzende und erheblich belastende fremdnützige Forschung, Experimente also, die in der unmittelbaren Tradition der KZ-Medizin, aber auch z. B. der radioaktiven Verstrahlungs-Versuche der USA der 50er Jahre stehen, werden auch durch das "Menschenrechtsabkommen zur Biomedizin" nicht erlaubt. Wer diese Unterschiede in der Auseinandersetzung ignoriert oder verwischt, riskiert nicht nur den Vorwurf der Übertreibung, sondern auch die Kritik, er ignoriere die tatsächlichen Probleme in der Debatte um medizinische Versuche oder gewichte sie jedenfalls falsch. Einhäupels Forschung liefert dafür ein gutes Beispiel. Es ist kein Zufall, daß schon die Bezeichnung seiner Patienten umstritten ist.

Die Feststellung, daß sie an einem "apallischen Syndrom" (das Pallium ist der Hirnmantel) leiden, im "Wach-Koma" liegen oder, so der englische Terminus, sich in einem "persistent vegetative state" befinden, sagt viel über die Perspektive des Betrachters, nicht aber über den Zustand der Kranken aus: Selbst die US-amerikanische "Multi Society Task Force" mußte zugestehen, daß zentrale Fragen darüber, was den "persistent vegetative state" ausmacht, unbeantwortet sind, bzw. daß darüber nur Vermutungen angestellt werden können. Grundsätzlich ist also die Durchführung von Untersuchungen, die die Diagnose sichern und Erkenntnisse über die Prognose des Syndroms liefern sollen, nicht zu kritisieren: Eine solche könnte sowohl für die unmittelbar Betroffenen wie für die Gruppe der oberflächlich als "Apalliker" diagnostizierten Menschen sogar Vorteile bringen, weil so Fehldiagnosen verhindert bzw. korrigiert werden können und sich damit bessere Ansatzpunkte für Therapien ergeben.

Einhäupels Hypothese, daß bei einer richtigen Diagnose seiner Patienten keine Chance für eine Besserung besteht, erscheint schon fragwürdiger. Allerdings sind die Einwände zunächst methodischer und nicht ethischer Natur: Es besteht die Gefahr, daß, wer von einer so festgelegten Hypothese ausgeht, seine Forschung zu sehr einengt, Untersuchungen oder Beobachtungen, die sich mit dem angenommenen Ergebnis nicht in Übereinstimmung bringen lassen, nicht durchführt oder ihre Ergebnisse ausblendet. Da aber angesichts des insgesamt eher geringen Kenntnisstandes über das "Wachkoma" nicht auszuschließen ist, daß sich Einhäupels Vermutung bestätigt, kommt es entscheidend auf etwas ganz anderes an: Was passiert mit Menschen, bei denen sich zuverlässig diagnostizieren ließe, daß ihr Zustand tatsächlich "permanent" ist, sie also eine schwerste Form von Behinderung haben? Das ist aber keine Frage der Forschung mehr, es geht dabei nicht länger um die Instrumentalisierung von Menschen für welche Zwecke auch immer. Vielmehr befinden wir uns damit im Zentrum der "Euthanasie"-Debatte.

Einhäupel läßt keinen Zweifel daran, daß er in solchen Fällen die Patienten möglichst schnell sterben lassen will, andere treten sogar dafür ein, sie zu töten: durch Unterlassen von Ernährung und Flüssigkeitszufuhr oder durch Verabreichung tödlich wirkender Spritzen. Damit wird die auf keinen Fall akzeptable Entscheidung gefällt, daß eine bestimmte Form von Leben nicht "lebenswert" ist - diese Konsequenz ergibt sich aber weder zwangsläufig aus dem Forschungsvorhaben noch aus dessen eventuellen Ergebnissen.

Anders sieht es in der Forschung an Alzheimer-Patienten aus: Hier hat sich bei manchen Psychiatern und vielen Juristen die Auffassung durchgesetzt, daß angesichts der "Bedrohung (der Gesellschaft) durch Demenzerkrankungen" die Erkrankten ein Sonderopfer im Interesse des Gemeinwohls zu leisten hätten. In einer Denkschrift der in diesem Bereich maßgeblichen Wissenschaftler ("Dürfen Ärzte mit Demenzkranken forschen?") heißt es: "Auch leisten gerade im Falle von Demenzkranken die Mitglieder jüngerer Jahrgänge aufopfernde und ausdauernde Hilfe für jetzt alte Kranke. Aufgrund dieser Solidarität besteht bei vielen Demenzkranken erfahrungsgemäß eine Bereitschaft, durch Teilnahme an medizinischer Forschung zu besserer Gesundheit oder besseren Behandlungsmöglichkeiten von Kranken der nächsten Generation beizutragen. Ein solches Verpflichtungsgefühl kann auch bei vielen einwilligungsunfähigen Demenzkranken vorausgesetzt werden." Hier wird der Übergang von Freiwilligkeit zur Zwangsmaßnahme fließend, die Teilnahme an Forschungsprojekten ohne jeden Nutzen wird als selbstverständlich angesehen - damit wird auch das Maß dessen, was man glaubt, Menschen zumuten zu können, die selbst keine Entscheidungen mehr treffen können, erhöht: Geht man von einem Verpflichtungsgefühl aus, erscheint logisch, daß das Ausmaß der Verpflichtung dem Ausmaß der "Gefahr" entspricht, die von der "Welle dementer Menschen, die auf uns zukommt", ausgeht.

Nun ist aber, was die fremdnützige Forschung an Alzheimer-Kranken betrifft, in absehbarer Zeit das Problem nicht die hohe physische Intensität von fremdnützigen Eingriffen. Weder versuchsweise Hirnoperationen noch die Injektion hochgefährlicher Substanzen in den Blutkreislauf stehen auf dem Programm der Forscher. Zu befürchten ist vielmehr der immer extensivere Zugriff auf den Alltag von Patienten: tagelange psychodiagnostische Testbatterien, wochenlange Kontrollen im Schlaflabor, Experimente mit Substanzen, die zwar nicht gefährliche, aber doch unangenehme Nebenwirkungen haben, Entnahme von Nervenwasser und Blut, regelmäßige Computertomografien des Gehirns führen, wenngleich jeweils für sich wenig problematisch, dazu, daß der letzte Lebensabschnitt der Kranken durch medizinische Zugriffe strukturiert und diktiert wird, die Betroffenen auch nicht mehr als Subjekte, sondern nur noch als Objekte der Wissenschaft begriffen werden. Diese Zwangsverpflichtungen, die, wenn das "Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin" unterzeichnet wird, Routine zu werden drohen, werden auf Dauer auch den Blick der Gesellschaft auf solche Kranke insgesamt verändern. Das Tabu, daß Menschen nicht zum Mittel gemacht werden dürfen, wäre damit folgenreich gebrochen.

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