Wächter und Wachkoma

11.04.2005 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Von der Einsamkeit eines Richtermenschen: Juristische Konsequenzen aus dem Fall Schiavo

F.A.Z., 11.04.2005, Nr. 83 / Seite 34: Das Verfahren Terri Schiavo hatte Vorläufer. Und in den Verhandlungen ging es nicht nur um die einzelne Patientin, sondern auch um das Verhältnis von Recht und Wirklichkeit.

Die Frage nach den Wünschen eines nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten treibt Familienmitglieder in einen erbitterten Streit um Leben und Tod: Die gerichtlichen Auseinandersetzungen um das Leben von Terri Schiavo waren nicht der erste Fall dieser Art in den Vereinigten Staaten. Anfang der neunziger Jahre mußten sich die Gerichte des Bundesstaates Michigan mit dem Schicksal von Michael Martin befassen. Martin hatte bei einem Autounfall einen schweren Hirnschaden erlitten und wurde in einer Rehabilitationsklinik behandelt. Seine Frau und Betreuerin stellte, unterstützt vom Ethikkomitee der Klinik, den Antrag, seine künstliche Ernährung abzubrechen. Die Mutter und zwei Schwestern Michael Martins opponierten heftig.

Auch im Fall von Edna F., einer einundsiebzigjährigen Frau mit Alzheimer in einem späten Stadium, stand am Anfang des Wegs durch die Gerichtsinstanzen des Bundesstaates Wisconsin Mitte der neunziger Jahre ein Streit in der Familie: Während die Schwester der Patientin die künstliche Ernährung abbrechen lassen wollte, widersetzte sich ihre Nichte und leistete die erforderliche Unterschrift nicht. Anfang des Jahrtausends hatten kalifornische Richter dann über das Leben Robert Wendlands zu entscheiden (F.A.Z. vom 22. August 2001), der nach einem schweren Lkw-Unglück zwar aus dem Koma erwacht war, aber erhebliche Hirnschädigungen erlitten hatte. Seine Frau willigte, unterstützt von ihrer Tochter und dem Bruder Wendlands, nicht in die Neuverlegung einer Magensonde ein, die Schwester und die Mutter des schwerbehinderten Mannes wollten sein Leben dagegen retten.

In allen drei Verfahren hatten erstinstanzliche Gerichte es aufgrund des Vortrags der Antragsteller als bewiesen angesehen, daß es den Wünschen beziehungsweise dem besten Interesse der Patienten entspreche, wenn die künstliche Ernährung abgebrochen würde. Deswegen hatten sie den Anträgen der Betreuer jeweils stattgegeben. Ebenso einmütig entschieden die Obersten Gerichte des jeweiligen Bundesstaates schließlich anders. Aus Rechtsgründen, so ihre Argumentation, müßten Ernährung und Versorgung mit Flüssigkeit fortgeführt werden. Von entscheidender Bedeutung für diese Beschlüsse war, daß sich keiner der drei Patienten zum Zeitpunkt der Entscheidungen im sogenannten "persistent vegetative state" befand, dem medizinisch schwer zu fassenden, in Deutschland als "Wachkoma" bezeichneten Zustand. Außerdem hatten weder Wendland noch Edna F. oder Martin eine schriftliche Patientenverfügung hinterlassen. Nur bei Patienten im Wachkoma dürfe aber, so befanden die Obersten Gerichte, auch die Ernährung und Flüssigkeitsversorgung beendet werden, wenn sie keine ausdrückliche Patientenverfügung hinterlassen hätten.

Während Robert Wendland noch vor Abschluß des Verfahrens nach einer Infektion starb, reichte die Schwester von Edna F. ein knappes Jahr nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von Wisconsin erneut Klage beim erstinstanzlichen Bezirksgericht ein. Diesmal befand der Bezirksrichter, daß Edna F. sich im Wachkoma befinde, und sah sich nun nicht mehr durch die Rechtsauffassung des Obersten Gerichtshofes von Wisconsin daran gehindert, das Ende der künstlichen Ernährung zu verfügen. Zehn Tage später war Edna F. tot.

Das Vorgehen war nicht neu. Auch in einem der berühmtesten amerikanischen Verfahren um den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bei einer hirngeschädigten Patientin, im Verfahren Nancy Cruzan, hatten die Angehörigen erneut Klage beim erstinstanzlichen Gericht eingereicht, nachdem sie vom Obersten Gerichtshof von Missouri aus Rechtsgründen mit ihrem Anliegen, die Ernährung beenden zu lassen, abgewiesen worden waren. Und auch im Cruzan-Verfahren, das sich zu dem Zeitpunkt seit mehreren Jahren dahinzog, stellte der Bezirksrichter neue Tatsachen fest, die den vom Obersten Gerichtshof verlangten "klaren und überzeugenden Beweis" erbrachten, daß es Nancy Cruzans eigener Wille war, durch Abbruch der künstlichen Ernährung zu sterben. Damit lief die den Schutz des Lebens in den Vordergrund rückende, restriktive Rechtsprechung der obersten Richter Missouris ins Leere. Auch bei Nancy Cruzan wurde wenig später die künstliche Ernährung abgebrochen, und sie starb.

Die Auseinandersetzungen um Michael Martin, Edna F. oder Robert Wendland lenken wie die gerichtlichen Auseinandersetzungen um das Leben von Terri Schiavo den Blick auf ein grundlegendes Problem dieser Verfahren: Das Gericht, das die Fakten des Falls erhebt, stellt damit die Weichen für den Fortgang des Prozesses. In den höheren Instanzen werden überwiegend nur noch Rechtsprobleme erörtert. Im Fall Schiavo beispielsweise kam es vor allem darauf an, ob sich die Patientin im persistent vegetative state befand - andernfalls hätte nach Kapitel 765.305 des Gesetzbuches von Florida, da keine Patientenverfügung existierte und sie nicht im Sterben lag, die künstliche Ernährung bei ihr nicht abgebrochen werden dürfen. Die Entscheidung traf der Bezirksrichter George Greer, dem fünf einander widersprechende Sachverständigengutachten vorlagen, allein. In den Revisionsinstanzen hätten die mit bis zu sieben Richtern besetzten Kammern und Senate Greers Entscheidung nur aufheben können, wenn sie zu dem Schluß gekommen wären, daß er sein richterliches Ermessen offensichtlich völlig falsch gebraucht habe.

Während gewöhnlich bei Verfahren, in denen es um höchst komplizierte Sachverhalte und Rechtsgüter von zentraler Bedeutung geht, wie hier um das Leben einer Patientin, von vornherein Kollegialgerichte entscheiden, werden in betreuungsrechtlichen Angelegenheiten die Weichen des Prozesses von Einzelrichtern gestellt, die, selbst wenn sie sich bemühen, ihre persönlichen Ansichten zurückzunehmen, unter demselben emotionalen Druck stehen wie alle Prozeßbeteiligten. In Verfahren wie dem um Terri Schiavos oder Nancy Cruzans Leben meldet sich der Verdacht, daß rechtliche Entscheidungen maßgeblich von der Persönlichkeit eines Richters geprägt sein können. In rechtssoziologischer Betrachtung des Gerichtsalltags werden allerdings auch weniger kontroverse Verfahren durch die unbewußten Voraussetzungen der Richter geprägt.

Da es sich hierbei um kein besonderes Phänomen der amerikanischen Rechtsprechung handelt, sollte auch in der bundesdeutschen Diskussion der Blick stärker darauf gelenkt werden, wie Richter, die im Betreuungsrecht künftig verstärkt über Leben und Tod zu entscheiden haben werden, auf diese Aufgaben vorbereitet werden können und wie sicherzustellen ist, daß hier angesichts existentieller Entscheidungen die bedeutsame erste Tatsacheninstanz ähnlich gründlich vorgeht wie bei einem Zivilrechtsfall, dessen Streitwert über 5000 Euro liegt. Die Tendenz der aktuellen Rechtspolitik, die Verfahren der Justiz dem Beschleunigungsgrundsatz zu unterwerfen, stimmt da nicht besonders optimistisch.

 

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