Wie erkennt man den mutmaßlichen Willen?

09.02.2008 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Euthanasie

Der Vormundschaftsrichter im Zwiespalt - Zwei Fälle aus der Praxis (Amtsgericht Siegen und Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg)

F.A.Z., 09.02.2008, Nr. 34 / Seite 35: Die Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg hat gegen einen Vormundschaftsrichter wegen versuchter Körperverletzung ermittelt, das Amtsgericht Siegen hat vorgeführt, wie der mutmaßliche Wille eines Patienten sorgfältig ermittelt werden sollte.

In der Debatte über Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten steht der Arzt im Fokus der kritischen Beobachtung. Als Lichtgestalten erscheinen in überraschender Gemeinsamkeit Rechtsanwälte und Richter, wahrgenommen als diejenigen, die dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten mit Vehemenz zur Durchsetzung zu verhelfen suchen. Welches Ungemach in der Praxis von richterlicher Seite drohen kann, ist jetzt in einem Einstellungsbeschluss der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg nachzulesen, die auf eine Anzeige hin ein Verfahren wegen versuchter Körperverletzung im Amt gegen einen Vormundschaftsrichter eröffnet hatte.

Er hatte eine umfassende Berufsbetreuung für eine schwer hirngeschädigte alte Frau eingerichtet. Ziel sollte eine rechtswirksame Einwilligung in die geplante Amputation eines Fußes sein: Die schwerkranke Frau litt unter einem Gangrän, das ohne Entfernung der Gliedmaße den baldigen Tod hervorgerufen hätte. Allerdings hatte die nunmehr unter Betreuung gestellte Patientin wenige Wochen zuvor ihrem Enkel eine,wenn auch nur formularmäßige, Vorsorgevollmacht erteilt: Demnach konnte der Enkel sie in Entscheidungen über alle Gesundheitsangelegenheiten vertreten. Für den Fall, dass dennoch eine Betreuerbestellung notwendig werden sollte, hatte sie überdies den Wunsch geäußert, dass der Enkel auch als Betreuer eingesetzt werden sollte.

Warum der Vormundschaftsrichter überhaupt eine Betreuung einrichten wollte, bleibt im Dunkeln. Zutage liegt, warum er den Enkel nicht als Betreuer einsetzen wollte: Der lehnte es ab, in die lebenserhaltende Operation einzuwilligen. Dafür hatte der Bevollmächtigte gute Gründe. Seine Großmutter hatte in den Monaten zuvor, als sie noch selbst entscheidungsfähig war, schon zweimal eine Amputation abgelehnt. Sie hatte ihrem Enkel gegenüber deutlich gemacht, dass sie auch in Zukunft lieber sterben, als dieser Operation unterzogen werden wollte. Ausweislich des Attestes eines Arztes litt sie auch nicht unter nicht behandelbaren Schmerzen.

Der Vormundschaftsrichter legte einen anderen Maßstab an: Der Enkel handele den Interessen der Patientin zuwider. Für den Generalstaatsanwalt bot diese Entscheidung Anlass zu "grundsätzlichen Ausführungen", die sich allerdings in dem Hinweis erschöpfen, dass nicht die Interessen eines verständigen Patienten der Maßstab für das Handeln eines Betreuers oder Bevollmächtigten zu sein haben, sondern der "mutmaßliche Wille" des einwilligungsunfähigen Patienten, wobei der Generalstaatsanwalt, um dem Gesetz Rechnung zu tragen, das Spannungsfeld zwischen mutmaßlichem Willen und Wohl zumindest hätte erwähnen müssen. Ein Richter, der dem "mutmaßlichen Willen" zuwider handelt und dafür Sorge trägt, dass in eine Operation, die der Patient wohl nicht gewollt haben würde, eingewilligt wird, macht sich demnach unter Umständen einer Körperverletzung im Amt schuldig.

Dass das Strafverfahren eingestellt wurde, hat mit der Qualität des richterlichen Handeln nichts zu tun: Die Patientin verstarb, bevor die Operation eingeleitet werden konnte, so dass die Staatsanwaltshaft davon ausging, dass zu einem "Versuch der Körperverletzung" noch nicht unmittelbar angesetzt worden war - diese Sichtweise ist aus Sicht des Strafrechts keineswegs zwingend, immerhin hat der Vormundschaftsrichter bereits alles getan, was er tun konnte, um die Operation schnell Wirklichkeit werden zu lassen. Die Entscheidung zur Einstellung spiegelt vielleicht auch die Überzeugung der Generalstaatsanwaltschaft, dass Fälle dieser Art durch Einsatz des Strafrechts nicht zu einem sinnvollen Ergebnis zu bringen sind.

Weitaus gründlicher ist die vor kurzem veröffentlichte Entscheidung des Siegener Amtsgerichts in einer Betreuungssache (Beschluss vom 28. September 2007, 33 XVII B 710). Der Vormundschaftrichter hat in diesem Verfahren um die Legung einer PEG-Sonde bei einer erheblich dementen Frau geradezu beispielhaft gezeigt, wo in einem konkreten Fall bei einer vorliegenden, wenig gelungenen Vorsorgevollmacht und einer durch Zeugenaussagen und Gutachten sorgfältig ermittelten Tatsachenbasis, die Probleme eines rechtsförmigen Verfahrens typischerweise liegen werden. In der Entscheidung werden die Streitfragen, die das gegenwärtige Gesetzgebungsverfahren bestimmen, sorgfältig, aber eher am Rande abgehandelt - Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht werden dabei prinzipiell als bindender Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts anerkannt, und das nicht nur bei begonnenem Sterbeprozess. Im Zentrum der Entscheidung steht die Ermittlung der Tatsachenbasis für den Beschluss über Behandeln und Nicht-Behandeln.

Während oft selbst Obergerichte und Bundesgerichtshof pauschale, klischeehafte Formulierungen ohne weitere Würdigung als unmissverständliche Anweisungen für einen Behandlungsabbruch nehmen, macht sich das Amtsgericht die Mühe, die spärlichen Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen der nunmehr dementen, aber noch artikulationsfähigen Patienten auszulegen und konsequent zu unterscheiden zwischen Mutmaßungen Dritter über den mutmaßlichen Willen der Betroffenen und substanziellen Anhaltspunkten für den mutmaßlichen Willen selbst. Was heißt es für die Verlegung einer Sonde, wenn die Vierundneunzigjährige vor vielen Jahren gesagt hat, "Apparate oder sowas wolle sie nicht"? Welchen Wert hat eine Verfügung, mit der jemand "lebensverlängernde Maßnahmen" ablehnt, wenn ein "menschenwürdiges Weiterleben" nicht gesichert sei?

Die zudem vom Notar formulierte Willenserklärung sei, argumentiert das Gericht, durch "gleich zwei wertausfüllungsbedürftige, nicht konkret-handlungsanweisende Formulierungen" geprägt, die für die Bestimmung des Willens weite Auslegungsmöglichkeiten eröffneten - und damit ebenso wie beiläufige Äußerungen beim Fernsehen oder vage formuliertes Entsetzen angesichts der in den letzten Kriegstagen auf der Flucht sich zu Tode quälenden Menschen nicht ausreichten, die Entscheidung der Betreuerin gegen das Legen einer Sonde zu genehmigen. Das Gericht akzentuiert, dass damit keine Entscheidung gegen das Selbstbestimmungsrecht gefällt werden sollte, sondern bei nicht sicher feststellbarem (mutmaßlichem) Willen der im Betreuungsrecht enthaltenen Pflicht zum Schutz des Lebens gefolgt werde. Auch dass das Gericht der Betreuerin auf den Weg gab, dass es der Würde der Patientin auch dienen könne, wenn für sie eine Einrichtung gesucht werde, die besser auf die Bedürfnisse hochgradig dementer Menschen eingehen könne, ist ein eher untypischer Hinweis: "Tod oder Qual müssen sich nicht alternativlos gegenüber stehen."

 

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