Wir sind hier nicht in Seattle, Ryan

08.09.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Medizinethik allgemein

Der etwas andere Laborversuch: Studenten aus dreizehn Ländern testen ihre bioethische Urteilskraft

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2004, Nr. 209 / Seite 36: Eindrücke von der 3. Summer Academy for Bioethics im Heinrich Pesch Haus in Ludwigshafen.

An Stellwänden vor den Seminarräumen hängen Karikaturen, wie sie sonst in den biomedizinischen Labors zu sehen sind. Sie entführen den Vorübergehenden in eine bizarre Welt der Künstlichkeit. Gott ist auf diesen Blättern nur noch ein bemühter und verzweifelter Handwerker, die Menschen haben ihre skurrilen Gesichter und tierähnlichen Extremitäten von Gary Larson, dem Zeichner der "Far Side"; Chimären werden von monströsen Chirurgen wie Ersatzteilsammellager ausgenommen. Hier im Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen, einer Bildungseinrichtung der Jesuiten, wird aber nicht mit geklonten Zellen experimentiert. In den Seminarräumen, hinter den für ein paar Tage so charakteristisch dekorierten Stellwänden, diskutieren dreißig junge Leute aus dreizehn Ländern kontrovers über Bioethik. Es ist schon die dritte Sommerakademie zu diesem Thema hier in der Nachbarschaft der BASF-Werke, kurz vor Oggersheim. Gefördert wird das anspruchsvolle Unternehmen durch das Sokrates-Programm der Europäischen Kommission. Vierzehn Tage intensiver Diskussionen mit Naturwissenschaftlern, Ethikern und Juristen, Besuche in Labors und im Europaparlament verschaffen den Teilnehmern, die Medizin, Rechtswissenschaften, Biologie oder Theologie studieren, einen Überblick über die politische und philosophische Debatte sowie die Entwicklung in der Forschung.

Knapp ein Drittel der Studentinnen und Studenten diskutiert an diesem Nachmittag mit Friedmar Kreuz von der Universität Dresden und Kris Dierickx vom Zentrum für Biomedizinische Ethik der Katholischen Universität Leuven Fallkonstellationen, wie sie die Beratungsarbeit prägen. Kreuz, der über neurodegenerative Erkrankungen forscht, unterrichtet an der Medizinischen Fakultät in Dresden nach der an der Harvard Medical School erprobten Methode des problemorientierten Lernens: Statt, wie im Medizinstudium Brauch, Begriffe und Krankheitsbilder zu pauken, sollen die Studierenden, wie sonst eher in den Sozialwissenschaften üblich, in kleinen Gruppen Fälle aus der Praxis diskutieren und analysieren.

Heute nachmittag steht die Auseinandersetzung mit prädiktiven Gentests auf der Tagesordnung. Welche Probleme ergeben sich, wenn gesunde Menschen auf künftig möglicherweise ausbrechende Krankheiten untersucht werden? Wie die Genetiker in den Beratungsstellen erfahren auch die Akademieteilnehmer in dem Arbeitspapier nicht alle Fakten auf einmal, sondern werden zuerst mit einem schmalen ersten Ausschnitt konfrontiert. Erst zwei Stunden später, als schon wichtige Entscheidungen getroffen sind, entfaltet sich ihnen das ganze Panorama der Probleme - und erst jetzt ist wirklich zuverlässig zu beurteilen, ob die Beratung anfangs die richtigen Schwerpunkte gesetzt hat. Es geht um zwei Brüder, Michael und Paul, deren Vater vor einigen Jahren an Morbus Huntington verstorben ist. Wenn ein Elternteil Träger des Gens für die schwere neurodegenerative Erkrankung ist, besteht bei jedem seiner Kinder ein fünfzigprozentiges Risiko, daß es auch die Krankheit hat, die meist im vierten oder fünften Lebensjahrzehnt ausbricht. Wer das Gen selbst nicht hat, vererbt die Krankheit auch nicht. Einer der Brüder, Michael, wird von seiner Frau Mandy gedrängt, einen Gentest machen zu lassen. Mandy will vor allem wissen, ob ihre kleine Tochter Susanne auch eine Risikoperson ist oder ob sie sicher sein kann, daß sie nie an Morbus Huntington erkranken wird. Paul, der mit seiner Freundin zusammenlebt, erklärt, er wolle den Test nur machen, um seinen kleinen Bruder Michael zu unterstützen. Der Berater weigert sich aber, die beiden gemeinsam zu testen. Troels Yndigegn leuchtet das in der ersten Diskussionsrunde ein. Der Medizinstudent aus Dänemark kann sich vorstellen, daß die Brüder in schwere Bedrängnis geraten, wenn sie durch den Test beispielsweise gleichzeitig erfahren würden, daß der eine an Morbus Huntington erkranken und sterben wird, der andere aber nicht. Dagegen unterstreicht Joanna Rozynska die Bedeutung der persönlichen Autonomie. Die Brüder kennen die Gefahr und haben sich dennoch für den gemeinsamen Test entschieden, hebt die junge polnische Rechtsanwältin hervor, die sich anders als die meisten anderen hier schon recht intensiv mit Problemen der Bioethik befaßt hat. Daß diese Entscheidung unvernünftig erscheinen mag, erlaube Beratern noch nicht, das Beschreiten des vernünftigen Weges zu erzwingen. Juris Meshcherjakovs aus Riga, der mit flammendrotem Haar, Piercing im Gesicht und schwarzer, vielfach kunstvoll geflickter Kleidung eher wie ein existentialistischer Künstler auftritt als wie ein Medizinstudent, schlägt sich auf Rozynskas Seite.

Der Dozent Kreuz gibt der Runde zusätzlichen Diskussionsstoff, als er auf die Probleme der Humangenetiker in Deutschland hinweist. Da es kein Gentest- und kein Beratungsgesetz gibt, kann jeder Arzt genetische Beratung anbieten. Wenn ein Humangenetiker den Wünschen der Ratsuchenden nicht nachkomme, laufe er Gefahr, daß diese zu einem anderen abwanderten, der ethischen Bedenken und einer differenzierten Beratung weniger Raum gebe. In Belgien, wirft der Kodozent Dierickx ein, sei das nicht möglich, weil humangenetische Beratung ausschließlich in acht universitären Zentren durchgeführt werden dürfe - ein Umstand, der Ryan Ahern aus Seattle höchst bedenklich erscheint. Da die Universitäten in Europa doch vom Staat finanziert würden, drohe damit schließlich dessen Zugriff auf die Testergebnisse. Auch wenn Dierickx dem vehement widerspricht, kann er weder Ahern noch die osteuropäischen Diskussionsteilnehmer überzeugen. Eine gesetzliche Regulierung, die öffentlich-rechtliche Einrichtungen, wie sie Universitäten meist sind, mit starken Rechten ausstattet, erscheint den Diskutanten, zumindest wenn es um sensible Informationen geht, gefährlich. Allein der junge dänische Mediziner Yndigegn ist deutlich weniger mißtrauisch und von den Vorzügen einer Genberatung, die die Kräfte des Gesundheitsmarktes in Bahnen lenken will, daher schnell überzeugt.

In den Workshops erscheinen die Zuordnungen zu Positionen selten zufällig, sie verlaufen aber nicht immer entlang von Ländergrenzen. Oftmals sortieren sich die Geister nach Professionen. Im Workshop für Gentherapie geht es gerade um klinische Versuche, bei denen auch Risiken für die Probanden bestehen. Immerhin sind schon Menschen, die sich versuchsweise einem gentherapeutischen Verfahren unterzogen, gestorben. Die Mediziner halten es dennoch stärker als die Philosophen für gerechtfertigt, klinische Versuche ins Werk zu setzen. Selbstverständlich müssen die Patienten über die Gefahr von Schädigungen aufgeklärt sein, und die Risiken müssen durch Sicherheitsstandards minimiert werden, erklärt ein Student aus Riga, der kurz vor dem Examen steht. Aber angesichts der schweren Krankheiten, die behandelt würden, sei es wichtig, auch am Menschen forschen zu können, sonst sei kein Fortschritt möglich. Eine rumänische Politologin hält dagegen und befürchtet, daß die Wissenschaft so verzweifelte Patienten instrumentalisieren könnte. Für Joanna Rozynska (die Anfang des Jahres vor einem Amtsgericht zusammen mit Kolleginnen das erste Mal in Polen in einem "wrongful birth"-Verfahren Schadensersatz wegen der Geburt eines Kindes mit Behinderungen erstritten hat) ist neben der Möglichkeit zur intensiven Auseinandersetzung mit den anderen Teilnehmern hier das Besondere an diesem Workshop, die Möglichkeit mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen zu debattieren: "Auf den Tagungen zur Bioethik, die ich in den letzten zwei Jahren besuchte, haben sonst immer entweder Mediziner oder Juristen allein den Ton angegeben." Für sie ist außerdem wichtig, daß die Kontroversen über ethische Fragen hier offen ausgetragen werden. "Bei uns in Polen ist Bioethik bis heute fast ausschließlich eine Sache der Kirche." Eine kritische Einschätzung der Verhältnisse im eigenen Land, die auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Litauen und Rumänien in dieser stark osteuropäisch geprägten Sommerakademie teilen. Der Akademieleiter Ulrich Dreismickenbecker kann diese Erfahrung nachvollziehen und resümiert: "Die Kirche erschwert eine offene Diskussion gerade in den stark katholisch geprägten Ländern." Der Theologe bemüht sich deswegen im Heinrich-Pesch-Haus, über dessen kirchlichen Hintergrund die Teilnehmer bei ihrer Anmeldung oft noch gar nichts wissen, vielfältigen Positionen Gehör zu verschaffen. Daß mehrere seiner Referenten an katholischen Hochschulen oder Fakultäten lehren, ist für ihn kein Widerspruch dazu: "Christlich begründete Positionen sollen durchaus offensiv vertreten werden und müssen sich nicht durch eine unspezifische Weltlichkeit unkenntlich machen." Es zeige sich ja auch, daß katholische Wissenschaftler ganz unterschiedliche Positionen verträten.

Unterdessen geht die Fallbesprechung im Workshop zur Humangenetischen Beratung ihrem Ende zu. Der eine der Brüder, dessen Beratung anfangs im Mittelpunkt stand, hat sich mittlerweile entschieden, den Gentest nicht durchzuführen. Der andere, Paul, dagegen hat sein Testergebnis bekommen und weiß nun, daß bei ihm voraussichtlich in den nächsten zehn Jahren erste Krankheitssymptome auftreten werden. Trotzdem ist seine Freundin Peggy schwanger geworden. Bei der pränatalen Diagnose hat sich herausgestellt, daß auch das Baby dieses Paares das Huntington-Gen hat. Entgegen ihren ursprünglichen Plänen haben sich Paul und Peggy entschieden, keine Abtreibung vornehmen zu lassen - ein Entschluß, den ihre Eltern unverantwortlich finden: Sie dürften ihrem Kind kein Leben zumuten, das absehbar durch eine schwere Behinderung beendet werde. Andere weisen darauf hin, daß das Kind drei bis vier Jahrzehnte eines Lebens ohne jede Symptome vor sich habe - und niemand von dem Vater erwarten könne, daß er ein Leben nur wegen des Huntington-Gens, das er auch noch selbst habe, als lebensunwert behandele. Eine junge Medizinerin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat - eine der wenigen Teilnehmerinnen aus Deutschland -, ist nach den Diskussionen des Nachmittags etwas erschöpft. Die Sommerakademie, so ihre positive Bilanz, habe ihr viel gebracht, vor allem auch die Einsicht, wie anders Philosophen oder Juristen Probleme diskutierten, die im medizinischen Alltag häufig vorkämen. Eine Hoffnung der jungen Ärztin hat sich allerdings nicht erfüllt: "Ich hätte gerne eine Checkliste bekommen, die mir sagt, wie ich in kritischen Situationen in der Klinik entscheiden soll."

 

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