Wissen ohne Macht

03.10.2001 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Gen-Medizin

Veröffentlicht in: Gen-ethischer Informationsdienst 143, 200 / 2001

Der Zugang zu genetischen Informationen wirft Fragen nach der Selbstbestimmung und der Entscheidungs-Freiheit auf. Wie gehen Menschen mit den Möglichkeiten um, Informationen über ihren genetischen "Zustand" zu erhalten? Und was ist, wenn sie etwas erfahren, was sie nicht wissen wollen?

Wissen ist Macht, lautet eine Erkenntnis nicht nur der Linken. Sie stammt aus den Zeiten, als Wissen noch eng verknüpft war mit Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten: Wer wusste war nicht mehr festgelegt, sondern konnte eigene Ideen entwickeln. Wissen war auch damals nicht nur bloss die Kenntnis nützlicher Details. Es blieb - selbst wenn es um die Konstellation und Bewegung der Gestirne ging - den sozialen Konflikten eng verhaftet. In einer Zeit, in der Erkenntnisse verhindert, unterdrückt und unter Verschluss gehalten wurden, eröffnete Wissen den Weg in die Unabhängigkeit. Bertolt Brecht lässt Galileo Galilei sagen: "Wissenschaft handelt mit Wissen, gewonnen durch Zweifel. Wissen verschaffend über alles für alle, trachtet sie Zweifler zu machen aus allen."

Dieses Wissen von einst ist ein anderes als das Wissen von heute. Das Wissen, das Menschen derzeit mit Hilfe der Humangenetik anhäufen können, ist gerade keines mehr, das den Menschen, denen es zuteil wird, Macht verheisst. Schon der Begriff des "Wissens" führt in die Irre, denn gewusst wird tatsächlich wenig. Weder das Human Genome Projekt noch dessen privatwirtschaftliche Konkurrenz ist in der Lage zu erklären, wie das menschliche Genom im Detail funktioniert, ob es Regeln unterliegt und wie diese beschaffen sein könnten. Im Vordergrund steht statt des Wissens die begründete Annahme und statt der Erkenntnis dient diese Annahme der Identifikation und Zuordnung: Proteinsequenzen werden ausfindig und für Krankheiten verantwortlich gemacht, Genetiker treffen dann Aussagen darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass diese Besonderheiten übertragen werden oder zum Ausbruch bestimmter Krankheiten führen.

Der Mensch als Feind

Das genetische Wissen führt nicht zu selbstbestimmten Entscheidungen, sondern regelmässig zum Ausschluss der betroffenen Merkmalsträger aus dem jeweils relevanten sozialen Zusammenhang: Feten, die als Träger entsprechender biologischer Merkmale identifiziert werden, werden nicht zur Welt gebracht, Menschen, die sich versichern wollen, wird der Vertrag verweigert oder sie müssen höhere Beiträge zahlen, Für die Menschen, denen eine "riskante" Konstellation zugeschrieben wird, und für die, denen die Ärzte dieses Wissen vermittelt, ergibt sich aus der Kenntnis ihrer als biologisches Risiko qualifizierten genetischen Besonderheit keine erweiterte Handlungsperspektive. Die Humangenetiker wirken wie einstmals die Hohepriesters des Orakels: Sie sagen ein Schicksal weis, enthüllen aber nicht, wie man sich darauf einstellen oder ob man ihm entgehen kann. Die Katastrophen, die in Delphi vorausgesagt wurden, waren vor allem das Ergebnis wie auch immer gescheiterter sozialer Beziehungen. Die humangenetischen Orakel von heute verlegen den Grund für die angekündigten Gefahren in den Menschen selbst und versagen ihm damit die Möglichkeit, Zuflucht zu nehmen. Der Mensch, so wie ihn die prädiktive Medizin behandelt, wird sich in letzter Konsequenz selbst zum Feind: Gerettet werden kann er allenfalls, indem er gegen seinen eigenen Körper vorgeht. Das prägnanteste Beispiel dafür ist die Empfehlung mancher Mediziner, dass sich Frauen mit einer bestimmten genetischen Disposition für Brustkrebs "vorsorglich" die Brust amputieren sollten. Im Fall anderer Erkrankungen, denen eine genetische Komponente zugeschrieben wird, müssen die Präventionsmaßnahmen noch drastischer ausfallen: Wer die Möglichkeiten eines Gen-Tests für eine spätere Alzheimer-Erkrankung im Zusammenhang mit der bioethischen Debatte über Vorausverfügungen zur Sterbehilfe betrachtet, bekommt einen Eindruck davon, wohin die weitere Etablierung der prädiktiven Medizin führen wird. Es könnte soweit kommen, dass wer heute einen Gen-Test auf Alzheimer macht und erfährt, dass er eventuell später im Leben diese Krankheit haben wird, dann die Verfügung für eine spätere Sterbehilfe "vorsorglich" mit unterschreibt.

Identifizieren, nicht heilen

Dagegen kann nicht eingewandt werden, dass die Diagnosen ein erster Schritt sind, dem weitere folgen werden, die zur Therapie führen. Bislang sind Therapien, die auf den humangenetischen Erkenntnissen basieren, auch langfristig nicht in Sicht. Und es ist durchaus zweifelhaft, ob das Modell, dem die genetisch orientierte Medizin anhängt, komplex genug ist, so dass sich auf seiner Basis überhaupt Therapien entwickeln lassen. Ungeachtet aller Misserfolge im kurativen Bereich weitet die prädiktive Medizin ihr Anwendungsgebiet aber in rasantem Tempo aus - und verändert damit den sozialen Kontext, in dem Medizin ausgeübt wird. Eine Medizin, die nicht heilen, sondern die nur identifizieren und prognostizieren kann, verändert, ob sie es will oder nicht, ihren Fokus: Sie sieht den Einzelnen immer weniger um seiner selbst willen, sondern in Vergleich zu anderen - und sie wirkt sich nicht nur auf das Individuum aus, sondern auch auf den sozialen Zusammenhang, in dem der Einzelne sich bewegt. Die gegenwärtige Debatte um die Präimplantationsdiagnose illustriert diese Entwicklung: Die Identifikation von Eltern als Träger "gefährlicher Merkmale" drängt diese zur überwachten Fortpflanzung, in deren Verlauf geeignete Embryonen selektiert und eingepflanzt werden. Was "gefährlich" ist, welche genetische Disposition einen Embryo zur Einsetzung qualifiziert, unterliegt dabei jeweils wechselnden Normsetzungen. Beispielsweise lassen sich auch Embryonen selektieren, die als Spender von Blut, Gewebe oder Organen geeignet sind. Jede Erweiterung der Möglichkeiten verändert das Umfeld, in dem sich zukünftige Patienten bewegen. Ärzte werden aufgrund einer restriktiven Haftungsrechtsprechung gezwungen sein, Patienten über die neuen Identifikations- und Selektionsmöglichkeiten zu informieren. Die Patienten ihrerseits werden dann über die neuen Möglichkeiten entscheiden müssen. Beispielsweise werden sich Eltern eines an Leukämie erkrankten Kindes, für das sich kein Knochenmark-Spender findet, nach dem erfolgreichen Beispiel der Familie Nash in den USA, künftig überlegen müssen, ob nicht auch sie sich für eine künstliche Reproduktion und Präimplantationsdiagnose entscheiden und damit für ihr krankes Kind einen geeigneten Spender zeugen, identifizieren und einsetzen lassen.

"Informed consent" ohne Handlungsmacht

In diesem Zusammenhang gewinnt der "informed consent", der so lange als großer Fortschritt für die Emanzipation der Patienten gefeiert wurde, neue Bedeutung: Der Begriff charakterisiert das Kommunikations- und Entscheidungsmodell, das die prädiktive Medizin in besonderem Maße prägt. Die Initiative geht vom Arzt aus, er steuert die Informationen. Sache des Patienten ist die Einwilligung. Mit Selbstbestimmung hat dieses Kommunikationsmodell allerdings nichts zu tun - es sei denn man reduziert Selbstbestimmung darauf, dass jemand "ja" oder "nein" sagen kann. Selbstbestimmung in einem weniger formalen Sinn erfordert dagegen, dass jemand über soziale Handlungsmacht verfügt. Die wird den Menschen durch die prädiktive Medizin, die sie und ihre Angehörigen auf ihre biologische Konstitution zurückwirft und festlegt, aber genommen. Da die gesellschaftliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen wieder zunimmt und ihre soziale Absicherung schlechter statt besser wird, ist es naheliegend, dass das Ergebnis einer pränatalen Diagnose, die eine Behinderung des Kindes voraussagt, die Abtreibung ist. Dass die Rahmenbedingungen dieser Entscheidung nicht thematisiert und schon gar nicht hinterfragt werden, die Verantwortung für den Schwangerschaftsabbruch aber der einzelnen Frau zugewiesen wird, die ja selbst bestimmt habe, ist ein weiteres Merkmal dieser Entwicklung. Statt ein Mehr an Selbstbestimmung zu bringen, zwingt sie zu immer mehr und immer weitreichenderen Entscheidungen. Und so nachhaltig und effizient der Konformitätsdruck ist, so sehr werden die Individuen mit den Ergebnissen des Wissens, das ihnen mehr aufgenötigt als angeboten wird, alleingelassen.

Recht auf Nicht-Wissen Dem Trend, immer mehr genetisches Wissen ohne Handlungsmacht zu erfahren, muß das "Recht auf Nicht-Wissen" entgegengesetzt werden. Wichtig ist es auch, Vorschriften zu erstellen, mit denen einmal erlangtes Wissen als private Daten gegenüber dem Zugriff anderer Organisationen oder Arbeitgebern geschützt werden kann. Ausreichend ist diese Forderung nicht. Denn schon die Entscheidung für ein Nicht-Wissen-Wollen erfordert eine Auseinandersetzung, die ein in diesen Fragen macht- und einflussloses Individuum schnell überfordert. Schon allein die Möglichkeit, sich auf die Gefahr von Alzheimer testen zu lassen, verändert einen Menschen. Denn er muß sich mit dem Test - aus welchem Grund auch immer - auseinandersetzen. Selbst wenn sie oder er sich gegen die Untersuchung entscheidet und so ein Recht auf Nicht-Wissen einfordert, bleibt die Angst vor der Krankheit und das Wissen darum, dass ein Test "Sicherheit" bringen könnte. Schon das Wissen-Können allein, vor allem wenn seine Konsequenzen Selektion, Stigmatisierung und Angst sind, nimmt dem Menschen ein gutes Stück seiner Freiheit. Oder, wie Brechts Galilei, feststellen mußte: "Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein."

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Weiterführende Links

    Allgemeine Informationen zu Nabelschnurblut-Transplantationen | http://www.cancer.umn.edu/page/research/trsplant/cord13.html

 

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