Wrongful life

04.01.2002 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in: Konkret 01 / 2002

Frankreichs oberstes Gericht gewährt Kind Schadenersatz für seine eigene Geburt

Das Nationale Bioethik-Komitee Frankreichs hat, wenige Monate ist es her klare und nicht besonders erfreute Aussagen über die Lage von Menschen mit schweren Behinderungen im eigenen Land formuliert: Es gebe zu wenige und zu wenig auf die Ansprüche Behinderter ausgerichtete Versorgungseinrichtungen; die knapp 2000 DM staatliche Unterstützung, die Familien erhalten, die schwer behinderte Angehörige zu Hause pflegen, seien völlig unzureichend. Die Stellungnahme des Ethik-Komitees erfolgte als Reaktion auf eine Ende 2000 zuvor gefällte Entscheidung des Obersten französischen Gerichtshofes (Cour de Cassation), der erstmals in Europa nicht nur den Eltern eines Kind Schadenersatz dafür zugesprochen hatte, dass es aufgrund einer als unzureichend bezeichneten ärztlichen Beratung mit einer Behinderung geboren worden war. Hätte der Gynäkologe die Röteln der Mutter diagnostiziert hätte sie ihren Fetus voraussichtlich abgetrieben und dann wäre auch Nicholas Perruche, so die Auffassung der Richter, das Leben mit einer schweren geistigen Behinderung erspart geblieben.

Der französische Ethikrat ließ, wie auch etliche Behindertenverbände und politische Organisationen, keinen Zweifel daran, dass er es nicht für akzeptabel hielt, das Leben eines Kindes als Schaden für dieses Kind selbst zu bezeichnen: Eine bessere Regelung der materiellen Versorgung, so die Hoffnung, die der Stellungnahme zu Grunde lag, könnte auch Rechtsstreitigkeiten über Schadensersatz-Zahlungen unnötig machen.

Mit ihrer neuesten Entscheidung zum Thema Arzthaftung demonstrieren die Obersten französischen Richter allerdings, dass sie sich von der engagierten Kritik an ihrem ersten Urteil zur "wrongful life"-Problematik gänzlich unbeeindruckt zeigen. Es ging um das Leben des 6jährigen Lionel, bei dem die Ärzte eine Trisomie 21 (Down-Syndrom) diagnostiziert haben. Der Gynäkologe hatte bei den vorgeburtlichen Untersuchungen Hinweise auf diese geistige Behinderung beim Fetus übersehen, die werdende Mutter deswegen auch nicht auf die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs hingewiesen. Vor Gericht argumentierte die junge Frau, sie hätte die Schwangerschaft auf jeden Fall abgebrochen. Auch der Rechtsvertreter von Lionel argumentierte, das Kind hätte einen Anspruch darauf ohne Behinderung zur Welt gebracht zu werden - selbst wenn das heiße, daß es dann gar nicht geboren werden würde. Beide Ansprüche haben die Richter in vollem Umfang, und nicht wie die Vorinstanz begrenzt auf 650 000 Francs, gelten lassen.

Für die Mutter, die wie die Eltern in diesen Schadenersatzverfahren mittlerweile üblich, damit argumentieren, das Geld dringend zu benötigen, ist damit ein Erfolg auf der ganzen Linie errungen. Lionel selbst ist in der seltsamen Lage, ein Leben zu leben, das als Schaden für ihns elbst qualifiziert worden ist. Selbst wenn er glücklich sein sollte, kann er diese, stellvertretend für ich geltenden gemachte Beurteilung, nicht mehr rückgängig machen. Da Behindertenverbände, die schon frühzeitig erbittert gegen diesen Richterspruch angegangen sind, in einem Verfahren um höchstpersönliche Rechtsgüter keine Klagebefugnis haben, werden sie auch rechtlich nichts dagegen unternehmen können, dass diese Entscheidung Präzedenzcharakter hat.

Noch ist der Cour de Cassation allerdings das einzige Oberste Gericht eines westlichen Nationalstaates, das für Kinder mit Behinderungen einen Anspruch darauf begründet hat, nicht geboren zu werden. Die unmittelbare Konsequenz dieser Rechtsauffassung wird sein, dass Ärzte zunehmend intensiver nach genetischen Besonderheiten von Feten fahnden und im Fall von Auffälligkeiten auf den Abbruch der Schwangerschaften drängen werden. Mittelbar kann diese Entscheidung aber viel weiterreichende Folgen haben: Schon nach dem Perruche-Verfahren hielten auch deutsche Rechtswissenschaftler es für angebracht, die Debatte um die "wrongful life"-Fälle erneut zu eröffnen.. Ähnliche Entwicklungen wird es auch in anderen europäischen Staaten und in den USA geben - zumal die dort etablierte Rechtsprechung, dass zwar den Eltern ein Schadenersatz-Anspruch zusteht, nicht aber dem Kind, keineswegs behindertenfreundlicher ist. Zwar behaupten die Gerichte, die in Großbritannien, den USA oder in der Bundesrepublik so entschieden haben stets, nicht die Existenz des Kindes, sondern die Unterhaltszahlungen stellten den Schaden dar - überzeugend ist dieser Versuch die Rechtsprechung als nicht-diskriminierend gegenüber Behinderten zu legitimieren aber nicht: Denn in den als "wrongful birth" bezeichneten Schadenersatzprozessen der Eltern geht es stets um Konstellationen, in denen die Eltern ein Kind haben wollten, also auch bereit waren, Unterhaltszahlungen auf sich zu nehmen - aber eben nur für ein nichtbehindertes Kind. Der Bundsgerichtshof hat in einem der zentralen neueren Urteil, das durch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bestätigt wurde, denn auch klar formuliert: "Der Wunsch der Kläger, ein nicht behindertes Kind zur Welt zu bringen und zur Vermeidung einer befürchteten genetischen Schädigung die Zeugung vom Ergebnis einer entsprechenden Beratung abhängig zu machen, könnte nicht einmal moralischen Bedenken begegnen, sondern ist in hohem Maß von elterlicher Verantwortung geprägt."

Auch die Rechtsprechung, die ein selbstständiges Recht des Kindes auf Schadenersatz wegen seiner Geburt ablehnt, leistet also einem Denken Vorschub leisten, das allmählich Abschied von der Vorstellung einer Menschheit nimmt, die Sartre einmal prägnant umrissen hat: "Denn man muss schon wählen: wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muss dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ich sein."

Besonders eindrucksvoll demonstrierte die moralischen Dilemmata in die sich die Rechtsprechung begbt, wenn er überhaupt Schadenersatzanforderungen zulässt, der deutsche Bundesgerichtshof in einer Entscheidung, die fast gleichzeitig mit der der Cour de Cassation in Frankreich ergangen ist: Der VI. Zivilsenat musste über die Schadenersatzansprüche der Eltern eines Kindes entscheiden, das mit fehlgebildeten Armen und Beinen geboren worden war. Auch hier machten die Eltern geltend, der Arzt habe die sich in der Schwangerschaft abzeichnende Behinderung schuldhaft nicht erkannt, andernfalls hätte die Mutter das Kind nicht bis zur Entbindung ausgetragen. Allerdings handelte es sich in diesem Fall um eine Zwillingsschwangerschaft - der zweite Zwilling war aber nicht auffällig und erwies sich auch nach der Geburt nicht als behindert. Da im Fall einer Abtreibung das Fetus mit Behinderungen auch der nicht-auffällige Fetus gestorben oder geschädigt worden wäre, galt es nun also abzuwägen, was größere Bedeutung hat: Der Schutz des Lebens eines nichtbehinderten Enmbryos oder das Recht der Eltern kein Kind mit Behinderungen zur Welt bringen zu müssen. Oder, anders formuliert, sieht das Recht die Belastung, die die Geburt eines Kindes mit Behinderung zur Folge hat als so groß an, dass es die ungewollte Tötung eines Embryos ohne Behinderung dafür in Kauf nimmt? Die Richter des BGH haben diese Entscheidung im Grundsatz offengelassen. Da das Kind eine körperliche, in den Augen der Richter also nicht ganz so schlimme Behinderung hat, argumentierten sie, dass im konkreten Fall die Beendigung der Zwillingsschwangerschaft wegen der Behinderung eines Zwillings nicht erlaubt gewesen wäre. Damit entfällt nach Auffassung der Richter auch die Schadenersatzpflicht des Arztes, weil auch wenn dieser die Klägerin über die Behinderung aufgeklärt hätte, die Geburt des Kindes nicht zu verhindern gewesen wäre.

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