Sind’s so gewohnt

29.04.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Kultur

Die richtigen Fragen fehlen: „Ein Junge namens Nina"

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.04.2004 Seite 40: Die Reportage über Lyle und Nina, zwei transsexuelle Jugendliche, ist informativ - aber wenig mehr.

Lyle steht allein auf dem Schulhof. Lyle geht alleine über die Gänge. Der tätowierte junge Mann, der vor 18 Jahren als Barbara geboren wurde, hat keine Freunde in Füssen. "Das burschikose Mädchen", kommentieren die Filmemacher Ulf Eberle und Kathrina Gugel in ihrer Reportage über transsexuelle Jugendliche," wurde noch akzeptiert, der sensible Junge nicht mehr". "Guten Morgen, Barbara", begrüßt der Schulleiter den 18jährigen, der die Realschule ohne Mittlere Reife verläßt, zum Abschlußgespräch, entschuldigend fügt er hinzu "Ich bin`s halt so gewohnt, Barbara. Und am letzten Tag kann ich mich nun auch nicht mehr umstellen." Das Gespräch von Schulleiter und Vertrauenslehrer mit Lyle ist eine der eindringlichsten Szenen in der halbstündigen Reportage. Die Lehrer, die mit jedem Satz und jeder Geste zeigen, dass sie Lyle gerade nicht so akzeptieren, wie er ist, wollen gleichwohl versichert bekommen, dass an ihrer Schule ein aufgeklärtes, vorurteilsfreies Klima existiere. Der ausgegrenzte Schüler, dem alles erträglicher erscheint, als noch ein Jahr an dieser Schule zu verbringen, soll seinen Peinigern am Ende noch ein gutes Zeugnis ausstellen. Dass Lyle sich gegen diese Anmaßung nicht wehren kann und versucht den Anforderungen auch hier gerecht zu werden, erzählt mehr über seinen verzweifelten Kampf um Anerkennung als die vielen erklärenden Worte der Autoren in diesem Film.

Als Kontrast zur Geschichte Lyles berichten Gugel und Eberle von der vierzehnjährigen Niederländerin Nina, die bis vor drei Jahren Guido hieß. Es ist eine Erfolgsgeschichte: Nina ist in ihrer Klasse und in ihrer Nachbarschaft als Mädchen anerkannt, sie hat noch nie schlechte Erfahrungen gemacht, wird von einer verständnisvollen Mutter unterstützt. Die Ärzte behandeln die transsexuelle Jugendliche erfolgreich mit einer neuartigen Hormontherapie, die die Pubertät hinauszögert und so Bartwuchs und Stimmbruch verhindert. Dass die Medikamente das Wachstum deutlich verlangsamen, die Nebenwirkungen dieser experimentellen Behandlung nicht bekannt sind, ist dem Film nur wenige Sätze wert. Auch sonst kratzt diese 37 Grad-Reportage leider meist an der Oberfläche. Kameramann Klaus Grittner hat für diese extremen Biografien nur illustrierende Bilder gefunden. Slow Motion-Sequenzen reitender Mädchen signalisieren Glück und Zufriedenheit, der schnelle Gang des schwergewichtigen Lyle über den Füssener Markplatz bietet Gelegenheit von dessen sozialer Isolation zu reden. Auch den Autoren ist es nicht gelungen, ihre jungen Protagonisten, deren Eltern oder die Therapeutinnen wirklich zum Erzählen zu bringen. Stattdessen geben sie Statements ab und berichten von erfreulichen und weniger erfreulichen einzelnen Erfahrungen. Wenn die niederländische Ärztin, die Nina als eines der ersten Kinder Europas mit starken Hormonen behandelt, erklärt, die 14jährige lebe "im falschen Körper" ist das für Eberle und Gugel nicht ein Anlass aufzuhorchen und nun mit Fragen zu beginnen, es ist ihnen schon Erklärung genug. Der Film vermittelt den Eindruck, als hätten seine Autoren zu Beginn der Dreharbeiten schon gewusst, was sie erzählen wollen und sich in den Interviews die Bestätigung gesucht. Als Lyles Mutter die in Zeitungspapier eingewickelten, in einem Nachttisch versteckten Zöpfe ihrer einstigen Tochter auspackt, nehmen sie das nicht als Ausgangspunkt für eine Geschichte, die sich mit dem Körper, seiner Wahrnehmung und den Symbolen für Geschlecht auseinandersetzt, sie bringen an diesem Punkt auch nicht Lyle und seine Mutter zusammen, sondern erledigen das Ereignis mit der Frage: "Was bedeuten die Zöpfe für Sie"? So bleibt die wirklich verstörende Geschichte von einer Identitätsfindung, die alle Konventionen sprengt und dabei den Geschlechtsstereotypen unserer Gesellschaft, die Zöpfen als Indikatoren für Geschlecht entscheidende Bedeutung zuweisen, in "Ein Junge namens Nina" unerzählt

Die 37 Grad - Reportage des ZDF wird am 6. Mai 2004 um 18 Uhr auf 3sat wiederholt. Auf Bioethik/Recht finden Sie einen Artikel, der sich mit einem australischen Urteil befasst, das Jugendlichen starke Hormontherapien zur Geschlechtsumwandlung erlaubt.

 

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