Der Schoß ist fruchtbar noch

12.03.1987 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Revolutionäre Zellen

Veröffentlicht in: Konkret 03 / 87, S. 54: Als die Frauen der "Roten Zora" im vergangenen August dem Münsteraner Institut für Humangenetik einen heißen Besuch abstatteten, fielen ihnen auch ein paar Aktenordner in die Hände. Was sie jetzt daraus veröffentlichten, zeigt eines: die Erbforscher sind um ein freundliches Image bemüht. Die Leute sollen freiwillig zur genetischen Erfassung antreten

Das Eingangsschild des Humangenetischen Instituts Münster ist leicht zu übersehen: Lorbeersträucher verdecken die Metallplatte. Den Wissenschaftlern dort mag das gelegen kommen. Nicht wegen des Ruhmes. Das stolze Vorzeigen des eigenen Namens ist für die Genetiker mittlerweile riskant geworden. Selbst die Enquête-Kommission des Bundestags "Chancen und Risiken der Gentechnologie" hat von ihrem Haus in der Bonner Winston-Churchill-Straße 11 das Türschild entfernen lassen, nachdem im Sommer letzten Jahres die "Rote Zora" einen Brandanschlag auf das Münsteraner Institut verübt hatte - den dritten auf eine Gentechnische Einrichtung. Daß es dabei nicht nur um Zerstörungen geht, hatten bereits 1983 Hamburger Attentäter deutlich gemacht, die in die Beratungsstelle der Hamburger Humangenetikerin Stockenius eingebrochen waren: das umfangreiche, dort "ausgelagerte" Beratungsmaterial dokumentierte die Nähe von Frau Stockenius zu rassehygienischen Vorstellungen, die im deutschen Faschismus der Ausmerzepolitik zugrunde gelegen hatten.

Vergleichbares fanden die "Rote Zora"-Frauen in Münster nicht. Jetzt, sechs Monate nach dem Anschlag und rechtzeitig zur Vorlage des Abschlußberichts der Enquête-Kommission, haben sie Teile der entwendeten Materialien zusammen mit einem Positionspapier veröffentlicht: "Bei der Durchsicht der Akten haben wir keine spektakulären Schweinereien aufgedeckt. Das heißt allerdings nicht, daß hier solche nicht passieren, da unsere Auswahl nicht repräsentativ ist. Wichtig für uns ist, von der Fixierung auf Skandale wegzukommen. Sie gehören zwar zu diesem System und sind als solche zu denunzieren. (.. .) Es ist vielmehr die alltägliche Normalität - das Erfassen und Aufarbeiten der Daten, das Einpflanzen des Selektionsgedankens in die Köpfe der Menschen - die die Gefährlichkeit dieser Institute ausmachen."

Während sich manche Kritikerinnen und Kritiker noch darauf konzentrieren, die Kontinuität von faschistischer Rassenhygiene und BRD-üblicher Humangenetik nachzuweisen, distanzieren sich die vorsichtigen Vertreter der derart angegriffenen Zunft bereits von solchen Kollegen wie Dr. Marianne Stockenius. Auf Veranstaltungen gegen humangenetische Beratung melden sich inzwischen auch "linke", im Genetikbereich arbeitende Wissenschaftler zu Wort, sprechen sich für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen aus, verteidigen aber auch die eigene Arbeit. Die Mainzer humangenetische Beratungsstelle lädt gar Ernst Klee ein, der die Praktiken der Vernichtungsmedizin im Dritten Reich untersucht und dokumentiert hat, um ihm vorzuführen, wie wenig behindertenfeindlich die Beratungstätigkeit verlaufe. Und in den Protokollen von Genetikertagungen muß man schon sehr genau lesen, um ausdrückliche Argumente für Auslese und Ausmerze zu finden.

Also falscher Alarm? Die Humangenetik doch harmloser als gedacht? Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Die Selektions- und Erfassungsgedanken bilden nach wie vor die konzeptionelle Grundlage der humangenetischen Beratung, sie prägen allerdings die Beratungspraxis derzeit weniger, als ursprünglich vermutet. Die Humangenetiker bewegen sich auf anderen Wegen, weichen den Angriffen auf ihre Arbeit geschickt aus und sind dabei, das zu gewinnen, was sie für ihre Arbeit derzeit am meisten brauchen: Vertrauen. Die "Forderung, daß alle Paare mit begründbarem Bedarf an Beratung tatsächlich einer Beratung zugeführt werden sollten," erscheint dem Münsteraner Humangenetiker Prof. Widukind Lenz deshalb, wie er in einer Broschüre ausführt, "mindestens zum gegenwärtigen Zeitpunkt unrealistisch und unklug."

Deswegen betonen Berater wie Lenz auch immer wieder die Freiwilligkeit aller Maßnahmen, ohne allerdings auf den bevölkerungspolitischen Rahmen ganz verzichten zu wollen: "Würde die genetische Beratung sich der 'Volksgesundheit' unterordnen, so würde sie rasch an Vertrauen und Ansehen verlieren. Andererseits erscheint es durchaus legitim, daß Ratsuchende sich auch Gedanken über ihre Verantwortung gegenüber weiteren Generationen machen (...) dann ist eine strikte Priorität des eigenen Interesses vor dem Allgemeininteresse schwer vertretbar". Das schlechte Image muß weg, da sind sich die Wissenschaftler einig. Die Leute müssen freiwillig kommen - und sich davon etwas versprechen. Die Umstände dafür sind günstig: die Angst, ein behindertes Kind zu bekommen, wächst angesichts der konventionellen und atomaren Umweltverseuchung. Die konservative Sozialpolitik, die auf der Suche nach effektiven Billigpflegemodellen ist, die im Rehabilitationsbereich Mittel kürzt und die die Spaltung in der Gesellschaft insgesamt vorantreibt, übt zusätzlichen Druck auf Eltern aus, behinderte Kinder als kaum vertretbare Last erscheinen zu lassen.

Von der Unsicherheit und Angst hatte bereits 1956 der Direktor des Münsteraner Instituts für Humangenetik, Otmar von Verschuer, der Vorgänger von Professor Lenz, dessen Archiv der Anschlag der "Roten Zora" gegolten hat, profitiert. Verschuer, im Dritten Reich ein renommierter Rassehygieniker, der unter anderem Josef Mengele zu seinen Schülern zählte, hat 1956 im Atomministerium (damals amtierenden Minister: Franz Josef Strauß) mit Verweis auf die allgemeine Angst vor Erbschädigungen durch den radioaktiven Fallout nach Hiroshima, Nagasaki und nach den Atombombentests, Mittel für ein großangelegtes humangenetisches Projekt beantragt und bewilligt bekommen: die Erfassung sämtlicher Neumutationen im Regierungsbezirk Münster, um etwaige Veränderungen konstatieren und hochrechnen zu können. Das von Verschuer konzipierte Register, und das führt zu den von der "Roten Zora" entwendeten Materialien zurück, wurde von Professor Wilhelm Tünte weitergeführt - mit anderer Zielrichtung. Tünte interessierte sich nicht für Neumutationen durch radioaktiven Fallout, er benutzte die Daten als empirische Basis für die Entwicklung der noch neuen Fachdisziplin "Sozialgenetik". Den jetzt zugänglich gemachten Dokumenten zufolge, ist das Ziel dieser 1971 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Arbeit, "die soziale Dimension genetischer Erkrankung sichtbar und meßbar zu machen, um ein umfassendes Konzept zur Intensivierung der genetischen Beratung zu entwickeln, in dem neben den genetischen Fragen auch die sozialen und psychischen Aspekte Berücksichtigung finden". Themen sozialgenetischer Untersuchungen, wie sie auch in Göttingen und Hamburg betrieben werden, sind "die Beziehungen zwischen Intelligenz, Schichtzugehörigkeit und Kinderzahl, die Abhängigkeit des Mongolismus vom Alter der Mutter, genetische Konsequenzen des Geburtenrückgangs". Ausgangspunkt der sozialgenetischen Forschung von Tünte ist das Eingeständnis, daß es "keine normalen oder krankhaften Merkmale (gibt), die zu hundert Prozent erblich oder nichterblich sind. Immer sind Erbeinflüsse und Umweltfaktoren an der Entstehung eines Merkmals beteiligt".

Professor Widukind Lenz, bis 1984 Ordinarius des Instituts für Humangenetik in Münster, seitdem emeritiert, hat diesen Ansatz in seiner Abschiedsvorlesung in prägnante Worte gefaßt: "Humangenetik ist die Wissenschaft von den erbbedingten Unterschieden des Menschen. Da nicht von vornherein feststeht, welche Unterschiede genetisch bedingt sind und welche durch die Umwelt, bilden alle Unterschiede zwischen Individuen oder Gruppen, deren rein exogene Entstehung nicht ohne weiteres klar ist, den Gegenstand der Humangenetik." Der Anspruch der Humangenetik ist, das ist die logische Konsequenz, nahezu total: Verhaltensauffälligkeiten sind ebenso ihr Forschungsgegenstand wie Intelligenz oder körperliche Fehlbildungen. "Daraus erwächst die Möglichkeit, nicht normgerechtes Verhalten als Krankheit zu definieren und möglichst breit zu erfassen," schlußfolgert die "Rote Zora". Kritischer für die aktuelle Diskussion ist aber ein anderes Moment: durch die Aufwertung des Umweltfaktors gegenüber den rassehygienischen Theorien wird die Sozialgenetik auch für ein bestimmtes Spektrum der Umweltschutzbewegung attraktiv. So wie Teile der Anti-AKW-Bewegung sich lange Zeit für Krebsregister eingesetzt haben, weil durch deren Auswertung der Zusammenhang von Krebshäufigkeit und radioaktiver Belastung hergestellt werden kann, haben nach Tschernobyl viele in der Ökobewegung auch die pränatale Diagnostik und die humangenetische Beratung für sinnvoll gehalten.

Aber auch so eingesetzt, bliebe die Humangenetische Beratung ein Instrument der Herrschenden, jeweils einsetzbar für das, was sie dauerhaft gegenwärtig nicht leisten kann: zu verhindern, daß die Zahl von geschädigt Geborenen ansteigt. Ein pränatales Massenscreening nach einer Chemie- oder Atomkatastrophe oder auch nach einem Arzneimittelskandal à la Contergan, für das nach dem Stand des Bewußtseins der Bevölkerung noch nicht einmal Zwangsmaßnahmen ergriffen werden müßten, würde - im Interesse der Industrie und des Sozialstaats - helfen, die Folgen zu verhindern: liest man im Nachhinein die Artikel zum Conterganskandal, so ahnt man, daß, hätten entsprechende Diagnosemöglichkeiten zur Verfügung gestanden, von den 5000 geschädigt Geborenen, die meisten nicht das Licht der Welt erblickt hätten. Der Firma Grünenthal hätte das einen Strafprozeß und 100 Millionen Mark Entschädigungszahlungen erspart.

Das zeigt zwar Wirkungsmöglichkeiten der humangenetischen Beratung, wird aber dem Konzept von Wissenschaftlern wie Widukind Lenz kaum gerecht, und bringt die politische Kontroverse um die humangenetische Beratung nicht viel weiter: schließlich bereiten sich die Humangenetiker heute nicht auf Sondermaßnahmen im Ausnahmezustand vor, sie versuchen präventiv auf den Alltag einzuwirken. Ihre Bündnispartner, denen sie sich verpflichtet fühlen, sind dabei die pharmazeutische Industrie, die Politiker und gebärwillige, aber besorgte Eltern. Über die allmähliche "Verschlechterung des Genpools" macht sich ein Mann wie Professor Lenz zwar auch Sorgen, für die aktuelle Arbeit sei das aber ein "Scheinproblem". Lenz, der damals wesentlich an der Erforschung des Zusammenhangs von Conterganeinnahme und Fehlbildungen, beteiligt war, sieht diese markanteste Arzneimittelkatastrophe im Nachhinein nämlich in einem anderen Licht: am verheerendsten findet er, daß durch sie die Rolle der Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft bei späteren Fehlbildungen erheblich überschätzt wird. Umwelt, wie er und viele seiner Kollegen sie verstehen, ist in erster Linie die Lebensweise der Eltern: "Die Hauptursache vorgeburtlicher Schäden ist momentan Alkoholismus der Mutter" heißt es in einem Schreiben von Lenz. Umweltgifte wie Dioxin, hohe radioaktive Belastung oder teratogene (fruchtschädigende) Medikamente spielen demgegenüber kaum eine Rolle.

Die "Rote Zora" hat einen aufschlußreichen Briefwechsel zwischen Lenz und Boehringer Ingelheim zusammengestellt. Am 9. Oktober 1984 bedankt sich die "Fachzeitung Medizin" von Boehringer für einen Besuch, den sie am 2.10. in Professor Lenz Institut machen durfte. Am 12.10.1984 bittet Lenz die Boehringer-Leute um Zusendung zweier Bücher: Jochen Bölsches "Das gelbe Gift", ein Buch über den sauren Regen, und Peter Krebs "Die Kinder von Vietnam". Die Bücher werden prompt geliefert und am 27.11.84 hat Dr. M.-J. Klingspohr von Boehringer eine Kurzexpertise auf dem Schreibtisch liegen, in der Lenz ihm Argumente gegen die für Dioxin in beiden Büchern behauptete teratogene Wirkung liefert: Die im Vietnam-Buch beschriebenen Spätschäden durch Entlaubungsmittel führt Lenz auf Erbdefekte zurück, "sofern nicht in diesem Fall eine besonders starke Exposition nachgewiesen wird". Die ebenfalls dort wiedergegebene Totgeburtenhäufigkeit für das chemisch verseuchte Tay Ninh (3,5 bis 5,9 Prozent) relativiert er als "durchaus im Bereich der Totgeburtenhäufigkeit in unterentwickelten Ländern".

Diese Zuarbeit für einen Konzern ist kein Einzelfall. In mehreren Briefen nimmt Lenz, von dem man nach seiner Contergan-Enthüllungsarbeit hätte anderes erwarten können, Medikamentenhersteller grundsätzlich in Schutz. Einem besorgten werdenden Vater, der sich an ihn gewandt hat, weil seine Frau in der Schwangerschaft ein Arzneimittel genommen hat, schreibt er am 8.3.77: "Hinweise von Firmen, daß Medikamente nicht in der Schwangerschaft genommen werden sollen, besagen nichts. Sie dienen lediglich dazu, daß etwaigen Klagen von vornherein der Boden entzogen werden soll. Da etwa I Prozent aller Neugeborenen schwere Mißbildungen. haben, also natürlich auch I Prozent aller Neugeborenen, deren Mütter irgendwelche harmlosen Mittel zu sich genommen haben, könnten sich die Firmen der Schadensersatzklagen überhaupt nicht mehr erwehren, wenn sie nicht vorsorglich derartige Warnungen anbringen würden (...). Also vergessen Sie möglichst schnell die unbegründete Sorge und freuen Sie sich auf Ihr Kind!"

Dieser Brief ist auch aus einem anderen Grund typisch: er dokumentiert den fürsorglichen Gestus, mit dem sich die Humangenetiker an die Ratsuchenden wenden. Verknüpft ist er mit dem Versuch, die Kontrollmöglichkeiten zu erweitern. Einen anderen Vater, der sich an Lenz gewandt hat, weil seine Frau und er Vetter und Cousine 2. Grades sind, und sie wissen wollen, wie hoch das Risiko ist, geschädigte Kinder zu bekommen, beruhigt Lenz, um dann zu bitten: "Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mich später einmal bei gegebener Gelegenheit - etwa bei der Geburt des ersten Kindes - von Ihrem Entschluß und seinen Folgen unterrichten würden".

Informationen über "Fälle" zu erhalten, beschäftigt die Humangenetiker auch sonst. Eine Meldepflicht für Fehlbildungen gibt es nicht, dafür aber ein hervorragendes internes Informationsnetz, das sogar bis in die DDR hinein reicht, wie ein Briefwechsel zwischen Professor Lenz und Professor Patzer von der Medizinischen Akademie Erfurt über Fälle von tuberkulöser Hirnsklerose zeigt. Die "Rote Zora" präsentiert einen Brief der humangenetischen Untersuchungsstelle in Hamburg Altona an Lenz, in dem er um Rat wegen einer bestimmten Mißbildung (Holoprosencephalie) gebeten wird. Aus dem Schreiben geht hervor, daß mehrere Ärzte ihre "Fälle", die in Beratungsdateien oder Patientenkarteien festgehalten sind, zusammengetragen haben - daß also die im persönlichen Gespräch erhobenen Befunde recht freizügig untereinander ausgetauscht werden. Nur Frau DL Stockenius hatte diesmal Probleme: Sie "hatte im Moment keine Übersicht über ihre Fälle, weil bei einem Einbruch etliche Unterlagen gestohlen worden waren".

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