Die Herbstzeitlosen

12.09.1997 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | RAF

Veröffentlicht in: Konkret 09 / 97, S. 12: 1977 war das Gründungsdatum der Zivilgesellschaft made in Germany. Ihr Grundgesetz lautet: Wer sich nicht wehrt, wird nicht eingesperrt

An der deutschen Ostgrenze steht die Bundeswehr im Kampf gegen das freie Fluten der Oder. In Paris radelt das Team der deutschen Telekom im Triumph über die Champs-Élysées. Und in deutschen Wohnzimmern passieren Ereignisse aus einer Zeit multimedial Revue, als die Nation schon einmal zwischen Tragödie und Triumph herausgefordert war und den Feind bezwingen konnte. Ganze Kohorten der vierten Nationalen haben sich aufgemacht, der zweiten und dritten Staatsgewalt die Aufwartung zu machen: Die "Taz" spricht mit Schmidt-Jortzig, die "Zeit" hat ihren Herausgeber Schmidt aufgesucht, der "Stern" feiert nochmal die GSG 9, und im "Spiegel" erinnert sich der Chefredakteur an sich selbst. Staatsräson, unnachgiebige Härte, aber mit Gefühl ... Die freien Mitarbeiter des Hörfunks arbeiten an Specials, Redakteure konzipieren Dossiers und Sondersendungen - nach Breloer, mit Breloer und um Breloer herum. Und wieso, weshalb, warum das ganze?

Glaubt man denen, die sich und uns erzählen, was und wie es damals zugegangen ist - es gäbe eigentlich nicht viel zu erinnern: ein seit vielen Jahren aufgeklärter Gruppenselbstmord, eine noch viel länger völlig isolierte terroristische Organisation, deren Köpfe schon vor mehr als zehn Jahren in mustergültig rechtsstaatlichen Verfahren wegen ihrer Straftaten zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, andere, die sich vor aller Augen zum Guten bekehrt haben, eine Organisation, die sich wohl selbst aufgelöst und jedenfalls seit vier Jahren keinen Anschlag mehr verübt hat, letzte Sympathisanten, die von der Fahne gegangen sind, und eine angebliche Nachfolgeorganisation AIZ, die Antiimperialistische Zelle, die als ein stark islamistisch inspiriertes Zwei-Mann-Unternehmen aufgeflogen ist. Was also, möchte man angesichts dieser Bilanz fragen, gäbe es anderes zu tun, als zu trauern über die Toten - von denen es, zählt man die beider Seiten zusammen, erfreulicherweise nicht mehr gegeben hat als bei einer durchschnittlichen Flugschau-Katastrophe?

"Law and order is a labor issue", ist dieser Tage auf Hunderten von Plakaten in Hamburg zu lesen, dort, wo der ehemalige Wehrmachtsleutnant Helmut Schmidt 1962 als Innensenator der Hansestadt die Bundeswehr zur Bekämpfung des Hochwassers herangezogen hat. Im benachbarten Bundesland Niedersachsen , bis vor kurzem noch rot-grün regiert, schlägt der SPD-Ministerpräsident Gerhard Schröder in der Debatte um "Ausländerkriminalität" und Innere Sicherheit Töne an, die selbst CSU-Rechtsaußen erröten lassen. Auf der Meinungsseite der "Taz", wo zuvor schon die Redakteurin für Film und Geisteswissenschaften ein flammendes Bekenntnis zum Staatsmann Helmut Schmidt abgelegt hat, fährt ein Inlandsredakteur den liberalen Kritikern in die Parade: "Ist das Thema Innere Sicherheit schon deshalb ein rechtes, weil dazu der Polizeiapparat gehört? Ist es schon nationalistisch, die Osterweiterung der EU deshalb für ein Problem zu halten, weil Arbeitskräfte aus Polen die Tarife im deutschen Baugewerbe versauen?" Auch Bündnis 90/Die Grünen sind nur kurzzeitig verstört und ziehen wenige Tage später nach - mit einem eigenen Programm: "Bürgerrechte erhalten - Kriminalität verhüten - öffentliche Sicherheit stärken!" Der erste Satz: "Es ist zentrale Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates, die persönliche Sicherheit der Menschen, die sich auf seinem Territorium aufhalten, zu gewährleisten." Im Entwurf hatte es noch geheißen: "Zu den zentralen Aufgaben des demokratischen Rechtsstaates gehört es ..."

Die "Taz" und die "Grünen" - sie sind die legitimen Kinder des Deutschen Herbsts, Herbstzeitlose, die es ohne Schleyer-Entführung, Nachrichtensperre, Krisenstab und den ungeheuren Distanzierungsdruck auf die gesamte Linke nicht gegeben hätte: "Die Grüne Liste ist wie ein Hund, der sich im Zickzack sein Loch buddelt", krähte damals ein munterer Vogel im Frankfurter Sponti-Hausblatt "Pflasterstrand" - immer ein bißchen auf der Flucht, zwischen Notdurft und dem Bemühen, den Knochen zu verstecken, den man ergattern konnte. Die Ausweichbewegungen haben das Selbstverständnis geprägt. Und die Grünen boten all denen einen neuen Kurs, die sich nicht ganz aufgeben, der Revolution aber dennoch für immer "Nein danke! " sagen wollten.

Nicht anders die "Taz", deren Nullnummer 2 damals mit der Forderung nach "Amnestie" für die politischen Gefangenen aufmacht: und dafür verlangte, daß die Guerilla ihr Scheitern eingestehe. Bis zum Deutschen Herbst hatte das "Projekt Gegenöffentlichkeit" in der Szene vor sich hin gedümpelt, jetzt gab ihm die freiwillige Selbstzensur der deutschen Medien den entscheidenden Schub. Am Anfang stand ein Schlußstrich. Die Grünen und die "Taz" wollten aus dem Deutschen Herbst die Lehre ziehen und, damit sich die traumatische Erfahrung nicht wiederhole, alles anders machen. Getragen wurden sie, mal begeistert, mal verbittert, von dem Milieu, das zuvor als "Sympathisantensumpf" ("Bild") das eigentliche Ziel der öffentlichen Empörung und der staatlichen Drohgebärde war.

Die ganz andere Partei und die ganz andere Zeitung - unter diesen Labels erreichten sie knapp das zehnjährige Jubiläum. Dann, 1989, war wieder die Entscheidung gefragt: mitmachen oder widerstehen? Diesmal ging es nicht um die Entführung eines ehemaligen SS-Mannes, sondern um die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, das zentrale Projekt der deutschen Rechten: die Wiedervereinigung. Die grünen Abgeordneten im Deutschen Bundestag zögerten, manche waren einfach nicht da, andere bewegten nur die Lippen - aber schließlich erhoben sie sich mit den anderen Deutschen, die den Fall der Mauer mit der Nationalhymne feierten. Der Bann des Deutschen Herbstes war gebrochen.

Heute, zum Zwanzigsten, können sie sich, stellvertretend für ihr Volk und ihre Leser und Leserinnen, entspannt zurücklehnen und mitfeiern. Ganz anders sind nämlich schon die Verhältnisse. Daß noch einmal losbricht, was 1977 lange Wochen hindurch den Alltag prägte, ist schwer vorstellbar. Die Spielpläne der Theater sind vor dem Zugriff der Ministerpräsidenten sicherer, die Sondereinsatzkommandos der Polizei machen um die Wohnungen von Dichtem und ihren Kindern heute einen Bogen, es werden nicht mehr 2.700 Hochhauswohnungen auf einen Schlag mit vervielfältigten Durchsuchungsbefehlen gestürmt.

Der Ausnahmezustand ist vorüber - und der offene Exzeß der Macht hat dazu beigetragen, daß die Normalität, die ihm endlich und dauerhaft folgte, sich allgemeiner Wertschätzung erfreut: Die Gesellschaft hat Routinen entwickelt, die alles, von der Abschiebung bis zur Zwangssterilisation, in ein rechtsstaatliches Gewand hüllen. Niemand stellt etwas grundsätzlich, gar praktisch in Frage - und so sind der Staat und die ihn tragenden Formationen der Gesellschaft dem Zwang enthoben, unter vollem Einsatz des Gewaltmonopols durchsetzen zu müssen, was ihnen nötig erscheint.

"Der Einfluß des Terrorismus auf die Gesellschaft war enorm, jedoch anders als geplant: nicht >systemsprengend<, wie man früher sagte, sondern systemerhaltend", wirft Friedrich Christian Delius dieser Tage in der "Zeit" der RAF vor. Daran stimmt immerhin eines: Den "Herrschenden", wie man vor Luhmann sagte, geht es prächtig. Bei der RAF muß sich dafür allerdings keiner bedanken. "Liberalität, Reformbereitschaft, politisches Engagement, soziales Handeln und Denken" hatten nicht, wie Delius meint, deshalb hierzulande keine Chance, weil die RAF bekämpft werden mußte. Daß und wie sie bekämpft werden konnte, daß ihre Kader so schnell und endgültig in die Hochsicherheitstrakte wanderten und der Rest der Gruppe politisch isoliert wurde, hatte seinen Grund darin, daß all die rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien in dem Moment, als sie eine Bedeutung hätten erlangen können, sofort und von fast allen preisgegeben worden waren.

Der Verzicht auf die Verteidigung der Bürgerrechte und der unbedingte Wille zur autoritären Lösung, die im September/Oktober 1977 deutlicher als je zuvor nach 1945 das gesellschaftliche Klima und die politische Diskussion bestimmten, haben diese Zeit zum "Deutschen Herbst" gemacht: Die Blätter waren gefallen, die braunen Stämme standen wieder nackt. Die Symbolfigur dieser Tage ist der Anwalt, dem die Justizwachtmeister auf Anordnung des Ministers den Besuch bei seinem Mandanten im Knast verwehren, obwohl er einen Gerichtsbeschluß in der Tasche hat, der ihm den Zutritt gestattet. Das Kontaktsperregesetz, das die totale Isolation der Gefangenen legalisiert, über deren Tötung in aller Öffentlichkeit diskutiert wird, dokumentiert, wie weit der Staat sein Gewaltmonopol ausdehnen will: Er beansprucht die totale Verfügungsgewalt über seine Feinde. Oder mit den Worten von Ernst Nolte: "Während der Entführungszeit Hanns Martin Schleyers war die Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal ein Staat im Vollsinn des Wortes."

Zwanzig Jahre später sind das alles Details, und sie sind kein Thema mehr. Die Ereignisse 1977 sind Geschichte - das ist die Botschaft der vielen erinnernden Essays und Berichte. Vorbei, vergangen, alle haben daraus gelernt. Wehe dem, der nicht, blitzt es gelegentlich auf. Deswegen will heute auch kaum mehr jemand wissen, was damals im einzelnen und wirklich geschehen ist: in Stammheim, auf den Straßen, in Mogadischu.

Breloers offiziöser Film zum Deutschen Herbst ist so begeistert aufgenommen worden, weil er dem Publikum gerade nichts vergegenwärtigt, sondern alles erspart, was über das Ungefähre hinausgeht. Er verzichtet auf die Zeitzeugen, die eine andere Perspektive einnehmen, blendet die politischen Auseinandersetzungen damals und die mühseligen Kontroversen danach einfach aus - und liefert gerade deswegen eine überwältigende, eine restlos stimmige, entschlossene Fiktion der Ereignisse. Wie sein Held Schmidt den Krisenstab dirigiert, nimmt Breloer die Geschichte in den Griff. Er konzentriert die Handlungen auf ihren dramatischen Kein, ein Dutzend Akteure, Personen, drei, vier Orte des Geschehens, eine auf die Entscheidung hindrängende Story. Auf die Zwangsläufigkeit der Ereignisse kommt es in der Nacherzählung an, ihr Ablauf wird nicht in Frage gestellt, so als hätte sich keine Möglichkeit zur Intervention geboten, als hätte niemand irgend etwas aufhalten können. Wir waren alle dabei - und sind alle frei von Schuld. Der Deutsche Herbst war eine Prüfung des Schicksals, und wir haben sie bestanden.

Wie ein Phönix steigt aus der Asche des Jahres 1977 die deutsche Zivilgesellschaft auf: Verzicht auf Sympathisantenjagd und offene polizeiliche Konfrontation, Absicherung rechtsstaatlicher Mindestgarantien und Öffentlichkeit - im Tausch gegen Friedensschluß mit den Verhältnissen und unbedingte Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Die einen wollen Effizienz, die anderen Sicherheit. Sicherheit für sich. Denn die Bereitschaft zur innerstaatlichen Kriegserklärung, zur Preisgabe von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Garantien ist nicht verschwunden. Es herrscht heute mehr Gewalt als vor zwanzig Jahren, aber der terroristische Ausnahmezustand, in dem Flüchtlinge, Immigranten und nicht deutschstämmige Inländer gehalten werden, geht restlos im deutschen Normalzustand auf, denn er richtet sich gegen Personen, die so anders sind, daß deutsche Zivilisten in ihrer Mißhandlung keinen Angriff auf Bürger- und Menschenrechte erkennen können.

"Die RAF war nützlich", schreibt Delius. "Leichter war es nie, alles was jung oder links war oder zum Aufklärerischen, Liberalen, Sozialen drängte, in die Nähe des Terrors zu rücken." Das ist das Deutsche in den Erinnerungen an den Herbst 1977: Das dringende Bedürfnis der Mitläufer sich selbst als Opfer zu inszenieren. Wer ohnmächtig ist, bleibt gut und verantwortet nichts.

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