Ein Staat sieht rot

12.08.1993 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | RAF

"Die wollen einen anderen Staat"

Veröffentlicht in: Konkret 08 / 93, S. 10: Ein Einzeltäter kommt selten allein, und so hat sich in Bad Kleinen eine ganze Gruppe daran gemacht, die Szene der "Durchgeknallten", "Überforderten" und "Ausgerasteten" in Deutschland zu beleben, und - darum geht es schließlich mittlerweile bei den meisten Morden hierzulande - für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das Ergebnis dieses "wichtigen Erfolges im Kampf gegen den Terrorismus" (Ex-Bundesinnenminister Seiters) kann die Verfechter der "wehrhaften Demokratie" halbwegs zufriedenstellen: ein toter "Terrorist" und allerorten der Ruf nach dem starken Staat, der, was Wunder, auch prompt erhört wird. Oliver Tolmein über den Mord an Wolfgang Grams und seine Folgen; Rolf Gössner über die Staatsterroristen der GSG 9

Keineswegs wie der Repräsentant eines krisengeschüttelten Gemeinwesens tritt der designierte Bundesinnenminister Manfred Kanther am 5. Juli vor die Fernsehkameras, sondern sichtlich gut gelaunt und mit starken Worten, die nur scheinbar wenig mit dem Anlaß seiner Ernennung zu tun haben: Ausländische Schwerverbrecher, verkündet der aus Dreggers Schatten ins Rampenlicht getretene hessische Politiker, der seinem Ziehvater auch physiognomisch nacheifert, sollen künftig auch ohne Urteil abgeschoben werden können; das neue Asylrecht will er zügig durchsetzen, "dem Verbrechen", dem der "Spiegel" flugs eine Titelgeschichte widmet, sagt er entschlossen den Kampf an; er ist für schärfere Gesetze und gegen "jede Form von Terror". Achja, Bad Kleinen, da will Kanther "prüfen", aber er verspricht, schon ganz eins mit seinem Thema, "keine Schnellschüsse". "Saustall! Räumen Sie auf, Manfred Kanther", titelt "Bild" tags darauf. Der "Süddeutschen Zeitung" gefällt die populistische Schlagzeile so gut, daß sie bald darauf mit einer entsprechenden Karikatur nachzieht: Deutschland wird darin als braves Dorf gezeigt, durch das wie wild die Schweine ("Affäre Bad Kleinen", "Krauses Affären" etc.) toben. "Kanther - ein Mann, der als geradlinig und unbestechlich gilt. Eigenschaften, die (er) nun bei der Aufklärung des tatsächlichen Geschehens schnellstmöglich unter Beweis stellen muß", kommentiert "Die Woche" und beklagt die bislang angesichts der Vorgänge in und um Bad Kleinen "nicht wahrgenommene staatliche Autorität".

Ein Vorwurf, der sich in den nächsten Tagen zunehmend gegen den Generalbundesanwalt und die angeblich zu lasche Organisation des Staatsschutz-Apparates richtet. Als von Stahl entlassen und über seinen Nachfolger diskutiert wird, läßt der innenpolitisch sonst eher liberale Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" seinem Zorn über die Parteien freien Lauf: "Der Posten des Generalbundesanwaltes ist keine Pfründe für Parteipolitiker... Solches Geschacher beleidigt das Andenken an den ermordeten Generalbundesanwalt Buback; es verhöhnt die Verdienste von Kurt Rebmann. Beide waren nicht unumstritten: Ihre Qualifikation aber war über alle Zweifel erhaben." - "Ihn wie uns alle schreckte die Erinnerung an die sinnlose Grausamkeit Hitlers, die es uns heute schwer macht, die Härte aufzubringen, die Verteidigung und Wahrung des inneren Friedens notwendig und unvermeidlich macht", schickte Ex-Generalbundesanwalt Max Güde in der "Zeit" 1976 seinem von der RAF getöteten Nachfolger als Nachruf hinterher. Und Buback, einer der Mitverantwortlichen für die Vollstreckung der Todesstrafe nach kurzem Prozeß auf der Straße in den ersten Jahren der RAF-Fahndungen war tatsächlich ein Profi in der Anwendung sinnstiftender Grausamkeit. Sein Gesinnungskamerad Kurt Rebmann, der im Krisenstab 1977 für die Erschießung von Gefangenen aus der RAF als Reaktion auf die Entführung Hanns Martin Schleyers plädierte, hat sich bei der planvollen Vertuschung der Todesfälle in Stuttgart-Stammheim in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 nachhaltig qualifiziert: Denn im Gegensatz zu 1993 hatte die Staatsversion 1977 allen Widersprüchen und offensichtlichen Lügen zum Trotz Bestand - was seinen Grund nicht in sorgfältigerer Ermittlungsarbeit hatte, sondern vor allem darin, daß das Feindbild damals schärfer umrissen war und der Krisenstab die bundesdeutschen Medien frühzeitig in die Pflicht nehmen und zu Komplizen des mobilmachenden Staatsapparats machen konnte: Die planvollen Schlampereien und Versäumnisse wurden damals gelassen hingenommen und führten erst Jahre später zu vereinzelten, zögerlichen Enthüllungen.

Der selbstherrliche Alleingang von BKA und Bundesanwaltschaft 1993, das aggressive und offensichtlich taktisch schlecht geplante Vorgehen gegen den längst seines Mythos entkleideten Feind RAF hat die Medien dagegen in eine tiefe Identitätskrise gestürzt. Unvorbereitet und von den Ereignissen überrollt fühlen sie sich in die Position des Anklägers gerückt. Hin- und hergerissen zwischen professionellem Ehrgeiz, der die Enthüllung immer neuer Informationen verlangt, die allerdings nach Lage der Dinge nur belastend wirken können, und langgeübter Kollaborations-Praxis in der Rolle der vierten Staatsgewalt suchen die Medien einen Ausweg, der ihnen ermöglicht, loyal zu bleiben. Gleichzeitig mühen sie sich, die eigene Unabhängigkeit herauszustreichen - die pure Legende ist, wie die ersten Tage der Berichterstattung gezeigt haben, als z.B. Gerd Rosenkranz in der "taz" nichts besseres zu tun hatte, als der RAF vorzuwerfen, "jeden Festnahmeversuch mit einer wilden und oft tödlichen Ballerei zu beantworten", und auch in "FR", "FAZ" und "SZ" als Tatsache die Lüge wiedergegeben wurde, Birgit Hogefeld habe das Feuer in Bad Kleinen eröffnet. Aufklärung gab es in der entscheidenden ersten Phase vor allem von den Anwälten von Hogefeld und Grams - das Verdienst der Medien war, diese Versionen nicht unterschlagen zu haben.

"Die drei Gewalten haben nach (!) Bad Kleinen versagt. Die vierte Gewalt - die unabhängigen Medien - sollten ihren Triumph nicht auskosten", unterbreitete Christian Semler in der "taz" den Autoritäten vornehm zurückhaltend ein Angebot, das bei Hans Schüler ("Zeit") schon etwas deutlicher klang: "Sollte wahr sein, daß ein Beamter der GSG 9 den mutmaßlichen RAF-Terroristen Grams erschossen hätte, als der schon wehrlos auf dem Bahngleis von Bad Kleinen lag - wir müßten es wohl ertragen ... Eine solche Hinrichtung wäre eine Tragödie. Doch sie würde zum Skandalon nur, wenn die Aufklärung allein dem Zeugnis eines nicht in staatlicher Verantwortung stehenden Publikationsorgans wie dem ›Spiegel‹ überlassen bliebe..." Die übrigen Medien zogen brav mit: "Nicht so sehr die Tatsache, daß Beamte des Bundeskriminalamtes, eine besonders ausgebildete Polizeitruppe und wer weiß noch, am Ort des Geschehens versagt haben, muß zu ernstesten Sorgen Anlaß geben", resümierte Jürgen Busche in der "SZ". "Es ist kaum zu fassen, wie Politiker und Behörden durch Verzögerungen, durch Mangel an Klarheit (und Wahrheit?) der RAF die Argumente liefern", klagte die "FR". Die "FAZ" gab dem Lamento ihrer liberalen Konkurrenz das staatsphilosophische Fundament: "Die Stärke eines Staates ergibt sich aus seiner Wahrhaftigkeit. Nicht die Tat einzelner, nicht das Versagen einer Behörde ... stürzen den Staat in eine Krise, sondern zuvörderst die Ungewißheit, ob die Wahrheit an den Tag kommt."

Das Interesse an der "Wahrheit" ist bei alldem knapp zehn Tage nach der Verhaftung Birgit Hogefelds und der Erschießung Wolfgang Grams nur noch eine folgenlose Floskel. Weder die Öffentlichkeit, die, nach ihrer Meinung gefragt, den Rücktritt von Innenminister Seiters für unnötig hält, noch die Medien sind willens, in der Hinrichtung einen Akt von Staatsterrorismus zu sehen; schlimmstenfalls gilt er als peinliche Panne. Wie schon bei den Morden an Flüchtlingen und Immigranten wird auch anläßlich des Skandals von Bad Kleinen bis zum Erbrechen wiederholt, daß man sich Sorgen um Deutschland mache, um das Ansehen des Staates. So liefert in letzter Konsequenz selbst das Debakel des Staatsschutzes noch die Argumente für den Ausbau des Polizeistaates. Die Diskussion über eine Demontage des Zeugnisverweigerungsrechts für die Presse wird von den Medien selber angesichts des aus dem Sicherheitsapparat stammenden Informanten des "Spiegel", der seine Kollegen schwer belastet, aber bei der Staatsanwaltschaft keine Aussage machen will, eröffnet: "Im seltenen Einzelfall - und das Fiasko von Bad Kleinen ist ein solcher Fall - muß sich freilich die Presse überlegen, ob sie auf den Informantenschutz verzichtet. Man mag dies als eine Art von freiwilliger Selbstkontrolle betrachten" ("SZ", 9.7.93). Erste Äußerungen von Sicherheitspolitikern der SPD und der CDU/CSU, die darauf zielen, den Staatsschutzapparat straffer und hierarchischer zu organisieren, werden mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen.

Insbesondere die Zusammenarbeit von Opposition und Medien, repräsentiert im Duo von Innenausschußvorsitzendem Bernrath und "Spiegel" bzw. "Spiegel TV", erweist sich als eindrucksvolles Mittel zur Beförderung der Illusion, es gebe letzten Endes doch eine unnachgiebige Kontrolle der "Auswüchse" im Fahndungsapparat. In mühseliger Kleinarbeit werden vermißte Patronenhülsen gezählt, Anwaltsstatements über Aussagen der gerichtsmedizinischen Gutachten zusammengetragen und vermißte Videobänder zutage gefördert - um dann als schlimmsten Vorwurf zu formulieren, das Bundeskriminalamt betätige sich als "Propagandakompanie der RAF" (Aust).

Dabei spricht mittlerweile immer mehr dafür, daß es sich bei den Todesschüssen in Bad Kleinen keineswegs um eine Tat im Affekt oder um das Durchdrehen eines einzelnen Beamten gehandelt hat, sondern um eine von der Einsatzleitung mindestens billigend in Kauf genommene, wenn nicht sogar erwünschte Ermordung eines linken Staatsfeindes. Die GSG 9 ist auch keineswegs, wie ihre Sympathisanten in den Innenpolitik-Redaktionen es behaupten, eine besonders friedliebende Sondereinsatzgruppe: Bei ihrem dieser Tage hochgelobten Einsatz in Mogadischu wurden drei der vier Mitglieder des Kommandos Martyr Halimeh sofort erschossen, die vierte Geiselnehmerin überlebte schwerverletzt nur durch die Intervention des Verhandlungsführers der Bundesregierung (Wischnewski), der die GSG 9-Leute davon abhielt, die Frau nach der Befreiungsaktion zu erschießen. Auch die Zusammenarbeit der GSG 9 mit den türkischen Terrorsonderkommandos "Schwarze Käfer" verweist nicht gerade auf ein substantielles Demokratiebewußtsein.

Als politisches Motiv für die gezielten Todesschüsse kommt vor allem das Interesse an der erneuten Eskalation der Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat in Frage, das sich auch in der Behandlung und weiteren Inhaftierung der Gefangenen aus der RAF und in den gnadenlos und auf brüchiger Beweisgrundlage geführten Kronzeugenverfahren niederschlägt. Der Herausgeber der "Welt am Sonntag", Ernst Cramer, dem man unterstellen kann, daß er die autoritären Positionen des Staatsschutzes authentisch wiedergibt, hat unter der Überschrift "Mehr Härte" erklärt, wie Bad Kleinen und die Folgen der Stärkung des Rechtsstaates dienen können: "Wegen der nicht abreißenden Freveltaten im nationalistischen Umfeld wurde über die viel besser organisierte gewaltbereite linke Szene fast nicht mehr gesprochen ... Für diese aggressiven linken Feinde der Demokratie gilt heute wie vordem das Wort des früheren Finanz- und Wirtschaftsministers Karl Schiller: ›Die wollen einen anderen Staat.‹ Dadurch unterscheiden sie sich von den Brandstiftern aus dem rechten Spektrum."

Indizien für diese Zielrichtung des Einsatzes gibt es haufenweise. Schon die generalstabsmäßige, auf ein hohes Maß an Gewalttätigkeit setzende Planung des Einsatzes steht in bemerkenswertem Kontrast zur Abkehr der RAF von einer auf Personenattentate zielenden Politik. Die Dokumentation des Einsatzes und die anschließende Spurensicherung sind auf eine Weise unzureichend, die an die nie befriedigend aufgeklärten Stammheimer Todesfälle erinnert: Gerade über die aufschlußreichen Zeitabschnitte des Einsatzes existieren anscheinend keine Videoaufnahmen (mehr?); die Patronenhülsen wurden nach der Schießerei nicht sichergestellt; Spuren an den Wänden des Bahnhofes kurz darauf übertüncht. Protokolle des ausgiebigen Funkverkehrs, sonst routinemäßig angefertigt, existieren angeblich nicht. Bis zur Vernehmung der GSG 9-Beamten durch die ermittelnde Staatsanwaltschaft verging mehr als eine Woche Zeit. Die Vernehmung selbst ist Zeitungsberichten zufolge unter Bedingungen durchgeführt worden, die die GSG 9 als eine Art Todesschwadron erscheinen lassen, deren Angehörige erst Tage nach ihrem Tod wieder zum bürgerlichen Individuum mit Namen werden: Die Identität der als "Zeugen" befragten Tatverdächtigen ist dem Staatsanwalt nicht bekannt gemacht worden, für ihn traten die Beamten des Elitekorps, die selbst zur Beerdigung ihres Truppenkameraden vermummt erschienen waren, nur als Nummern auf. Weniger Sorge machen sich die Ermittlungsbehörden um die Sicherheit und den Schutz der Kioskinhaberin, die die GSG 9 schwer belastet. Ihre Aussage wurde auf eigenes Betreiben zwar noch am Tattag aufgenommen, konnte dann aber offensichtlich unterschlagen werden, bis "Monitor" darüber berichtete: Zwei Tage später war der volle Name der Frau in der Presse nachzulesen. Auf den Persönlichkeitsschutz des erschossenen Wolfgang Grams hat man gleich vollständig verzichtet: Fotos des malträtierten Leichnams vom Obduktionstisch gerieten an "Stern" und "Bild" und wurden dort wie selbstverständlich veröffentlicht.

Auch heute ist noch nicht zweifelsfrei geklärt, wieviele und welche Waffen die eingesetzten Polizeibeamten benutzt haben. Die "Erklärung des Bundeskriminalamtes" stützt sich auf Schlußfolgerungen: "Nach bisherigem Erkenntnisstand ist davon auszugehen, daß bei dem Schußwechsel insgesamt 44 Patronen verfeuert wurden... unter der Annahme, daß die Waffen mit der maximal möglichen Schußzahl bestückt waren. Nach drei Hülsen wird noch gesucht." Eine Überprüfung der Pistolen und Maschinenpistolen direkt im Anschluß an den Schußwechsel, wie es die entsprechende Dienstvorschrift verlangt, ist offensichtlich ebenso unterblieben wie der Vergleich der ausgegebenen Munition mit der zurückgegebenen. Rätsel gibt in diesem Zusammenhang das gerichtsmedizinische Gutachten von Manfred Oehmichen (Universität Lübeck) auf, das feststellt, "daß keine der diskutierten Waffen in der Lage war, ein morphologisches Bild zu erzeugen, wie es am Kopf von Grams angetroffen wurde". Demnach müßte Grams mit einer ›dritten‹ Waffe erschossen worden sein - was nicht unwahrscheinlich ist, da GSG 9-Beamte älteren Medienberichten zufolge oftmals auch andere als die regulären Polizeiwaffen mit sich führen. Weitere Details, zum Beispiel das Verschwinden von angeblich vorhandenen Blutresten an Grams rechter Hand, das Fehlen von Blutflecken an dem Ort, an dem der GSG 9-Beamte angeblich erschossen worden sein soll, und dessen auffällig schnelle Beerdigung, vervollständigen den Eindruck einer systematischen Irreführung der Öffentlichkeit über einen bewußt durchgeführten Mord. Daß die Ermittlungen über den Tod von Wolfgang Grams nach Auffassung der zuständigen Staatsanwaltschaft "noch Wochen" dauern werden und Behördenchef Ernst Jäger verkündet: "Es ist überhaupt nicht abzusehen, wann wir damit fertig werden", legt den Verdacht nahe, daß es ein eindeutiges Ergebnis, geschweige denn eine Anklageerhebung gegen den Täter nie geben wird. Das ist allerdings kein Grund zur Empörung, sondern bei staatlichen Todesschüssen - 1990 wurden von der Polizei mindestens 13, 1991 mindestens 9 Menschen erschossen - die Regel.

Wesentlich schwieriger zu interpretieren sind dagegen die Erkenntnisse über den sogenannten dritten Mann. Schon das tagelange Schweigen der Bundesanwaltschaft ist nicht so recht erklärlich, wenn es sich bei dieser nicht verhafteten Person um einen V-Mann gehandelt haben sollte. Die Versionen, die nach Lancierung entsprechender Informationen in "Stern", "Bild" und "Welt am Sonntag" durch die Medien gehen, klingen ziemlich unwahrscheinlich. Der "Stern" behauptet, "Klaus", der ein RAF-Sympathisant wie aus dem Polizeilehrbuch gewesen sein soll, einer von denen, "die stets behilflich sind, mal ein Auto mieten, mal eine Wohnung besorgen", sei aus finanziellen Gründen V-Mann geworden, habe aber nur wenig ergiebige Informationen geliefert. Daß er Kontakt mit der "Kommandoebene" habe, wollten ihm seine Führungsoffiziere auch erst glauben, nachdem sie sein Telefon überwacht hatten und, wie es der Zufall so will, prompt "sich bei ihm eine Frau (meldete), die mit ihm über Weiterstadt redete. Die Stimmanalyse des BKA bestätigte: Es war Birgit Hogefeld." Seltsam daran ist schon, daß das BKA Daten hat, die ihm eine Analyse der Stimme Birgit Hogefelds erlauben sollen - aber vielleicht ist der Überwachungsstaat ja tatsächlich so weit fortgeschritten, wie seine phantasievollsten Kritiker behaupten.

Daß ein RAF-Mitglied mit angeblichen Unterstützern telefonisch Kontakt aufnimmt und am Telefon über Anschläge plaudert, wird an Unwahrscheinlichkeit nur von der zweiten und dritten Version übertroffen. Denen zufolge ist "Klaus" kein kleiner Angestellter mit Geldsorgen, sondern ein echter Aussteiger aus dem Zentrum der RAF, der durch den Verrat an zwei seiner Genossen seine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen wollte, bzw. ein V-Mann, der als Einsteiger bis in den inneren Zirkel vorgedrungen und an Anschlägen beteiligt gewesen sein soll. Dagegen spricht nicht nur, daß es einen solchen Aus- bzw. Einstieg bislang noch nie gab, sondern vor allem, daß die Verhaftung von nur zwei mutmaßlichen RAF-Mitgliedern als Ergebnis einer solchen Geheimdienstoperation ziemlich dürftig wäre. Auch die im Stil der siebziger Jahre durchgeführten Hausdurchsuchungen, Festnahmen und Straßensperrungen in Dortmund, Gelsenkirchen, Frankfurt a.M. und Wiesbaden, die zwar zerschlagenes Mobiliar, aber keine verwertbaren Ergebnisse brachten, deuten eher auf eine dürftige Informationslage der Ermittlungsbehörden hin.

Aufschluß könnte in dieser Angelegenheit, an deren Aufklärung die Staatsschutzbehörden aus nachvollziehbaren Gründen kein großes Interesse haben, die RAF selber geben. Sie sollte wissen, wer sich mit Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld, die sie als ihre GenossInnen bezeichnen, treffen wollte und wie eng dieser Kontakt war. Der Brief vom 9. Juli gibt darüber aber bedauerlicherweise keinen Aufschluß - was nicht so recht begreiflich ist, zumal die RAF in den letzten Jahren bereits häufiger Fakten gegen die Staatsschutzversionen ihrer Politik öffentlich gemacht hat. Erklärlich wäre das Schweigen über diese wichtige Angelegenheit nur, wenn die RAF selbst nichts wüßte - selbst das aber wäre mitteilenswert.

Auch ansonsten ist die RAF-Erklärung vom 9. Juli wenig hilfreich, zumal sie die Interpretationsmöglichkeit offen läßt, es könnte Vergeltungsanschläge geben, eine Entwicklung, die fatal wäre, wie ein Blick zurück ins Stammheim-Jahr 1977 zeigt, wo die Niederlage der RAF durch die Erschießung Hanns Martin Schleyers als Reaktion auf die vermutete Ermordung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe besiegelt worden war. Insofern bleibt etwas rätselhaft, wieso die Ausgangsbedingung für die Politik der RAF durch die Hinrichtung von Wolfgang Grams sich verändert haben soll. Der Staat trägt schließlich seit zwei Jahrzehnten Verantwortung für den Tod etlicher Angehöriger der RAF. Auch die politischen Konsequenzen, die sich aus der Erschießung ziehen ließen, bleiben vage. Irritierend und befremdlich nah an der bei liberalen Medien beliebten These vom "ausgerasteten" Sicherheitsorgan ist die Einschätzung der RAF, der staatsterroristische Akt in Bad Kleinen sei Ausdruck eines "um sich schlagenden" Deutschland, das "in der tiefsten Krise des zusammenbrechenden kapitalistischen Systems zur Weltmacht strebt".

Statt des Zusammenbruchs steht in der werdenden Weltmacht, das zeigt gerade der Verlauf dieses Polizeieinsatzes, als dessen Ergebnis möglicherweise ein weiterer Rechtsaußen, der CDU-Politiker Rupert Scholz, in der Rolle des Generalbundesanwalts wird erscheinen dürfen, zusehends die Restauration auf der Tagesordnung. Die Folgen wird ganz unmittelbar Birgit Hogefeld tragen, die in verschärfter Einzelhaft in der JVA Preungesheim einsitzt. Während die ursprüngliche Tathergangs-Version von Ermittlungsbehörden und Bundesregierung Stück für Stück demontiert worden ist, wird die Behauptung, mit Birgit Hogefeld habe man eine "Top-Terroristin" festgenommen, weiterhin unhinterfragt verbreitet. Dabei sind die Indizien vor allem für eine konkrete Beteiligung an Anschlägen der RAF derzeit äußerst dürftig. Dafür wird der Verteidigung der Einblick in Gutachten, Vernehmungsprotokolle und andere Teile der Akten entgegen den Vorschriften der Strafprozeßordnung verweigert.

Der aus dem Jahr 1988 stammende Haftbefehl, der Birgit Hogefeld und ihrer Verteidigung am 28. Juni eröffnet worden ist, hält wenig an Fakten bereit. Vorgeworfen wird der in Untersuchungshaft Genommenen Mitgliedschaft in der RAF und Mitwirkung im Kommando Kahled Aker, das am 20. September 1988 versuchte, den Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Hans Tietmeyer, zu erschießen. Die Aktion, im Umfeld der IWF-Tagung in Westberlin geplant, scheiterte kläglich - die Maschinenpistole klemmte, die Schüsse aus einer Schrotflinte konnten den Wagen des Staatssekretärs nicht stoppen. Birgit Hogefeld, so behauptet die Bundesanwaltschaft, soll fünf Tage vor dem Anschlag für das RAF-Kommando einen Ford Fiesta angemietet haben. Als Beweis dafür führen die Bundesanwälte und der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof allerdings lediglich ein Schriftgutachten an, welches die Unterschrift unter dem Mietvertrag mit "hoher Wahrscheinlichkeit" Hogefeld zuordnet, was eine feine Umschreibung ist für: "Eigentlich wissen wir nichts." Als Beleg einer bis heute fortdauernden Mitgliedschaft in der RAF reichen den Bundesbehörden und der Öffentlichkeit Hogefelds Waffe und, sie sagens, ohne rot zu werden: "die Umstände der Festnahme". Aber selbstsichere Schamlosigkeiten, etwa die Ankündigung Klaus Kinkels, an seiner "Initiative", die als vielbeachtetes, folgenloses Deeskalationsmanöver der staatlichen Eskalationspolitik die nötige Rückendeckung geliefert hat, festhalten zu wollen, werden uns in diesem Zusammenhang sicher noch einige geboten werden.

Oliver Tolmein schrieb in KONKRET 7/93 über die "Euthanasie"-Propaganda der "Zeit"

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