Ende des Kollektivs

12.01.1994 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | RAF

Veröffentlicht in: Konkret 01 / 94, S. 28: Die Celler RAF-Gefangenen sind mit einem Versuch gescheitert, über den Anwalt Christian Ströbele und Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter Druck für ihre Freilassung zu machen. In dem erbittert geführten Streit zwischen verschiedenen Gruppen der Gefangenen und der RAF um diese Initiative treten die nicht ausgetragenen Differenzen über die Geschichte der RAF, die Strategie des Kampfes für die Freilassung und die Möglichkeiten linker Politik in der BRD zutage

Jahrelang gab es wohl keine politische Gruppe in der Bundesrepublik, die sorgsamer auf eine einheitliche Linie und kollektive Strukturen bedacht war als die Gefangenen aus der RAF bzw. die RAF selber. Das hatte seinen Grund in der politischen Geschichte der Gefangenen und der Militanten draußen: Wer sich in den bewaffneten Kampf begibt, weiß, daß es kaum einen Weg zurück geben wird, weiß auch, daß unbedingtes Vertrauen und ein besonders hohes Maß an Übereinstimmung Voraussetzung für erfolgreiche Aktionen sind. Ein weiterer Grund liegt in den äußerst restriktiven Haftbedingungen, in der rücksichtslos durchgesetzten Isolation: Die Vereinzelung mußte, wo es nur vorstellbar erschien, durchbrochen werden - wenn schon nicht tatsächlich, dann wenigstens politisch, wollte man sich und die eigenen Ziele nicht preisgeben.

Für die Weiterentwicklung der eigenen Positionen, vor allem aber für die politische Auseinandersetzung mit linksradikalen Gruppen und einzelnen Leuten, war dieser unbedingte Kollektiv-Anspruch fatal: Er verstärkte die Abschottung, die durch die materiellen Voraussetzungen ohnedies gegeben war. Dieses Oszillieren von Gefangenen und RAF zwischen Selbsterhalt und Avantgarde-Anspruch machte vielen Gruppen draußen die Distanzierung, an der sie teilweise auch aus ganz anderen Gründen Interesse hatten, leicht; anderen erschwerte es die Solidarisierung (vor allem mit dem Kampf gegen die Haftbedingungen). Eine produktive politische Auseinandersetzung zwischen drinnen und draußen entwickelte sich so nicht (sie war wahrscheinlich auch nur von wenigen gewollt). Aber auch der Staatsapparat erreichte sein Ziel nicht: die Selbstaufgabe der Gefangenen und die Zerstörung der RAF. Diese und die Gefangenengruppe mußten allerdings ebenfalls Niederlagen einstecken: Eine nennenswerte Zahl von Aktiven hat die militante Gruppe vor allem Anfang der achtziger Jahre verlassen, etliche Gefangene sind aus dem Kollektiv ausgeschert, haben mühsam einen anderen linksradikalen Weg gesucht, weitere haben ausgesagt und abgeschworen.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die öffentliche Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gefangenen und der RAF an Bedeutung. Es geht in ihr zwar auch, aber nicht "nur" um den Spaltungsprozeß einer weiteren linksradikalen Gruppe. Es geht um eine Phase von Politik und Praxis der gesamten revolutionären und ehemals revolutionären Linken, eine Phase, die von 1977 bis Bad Kleinen reicht.

Die von den Celler Gefangenen initiierten Gespräche zwischen Rechtsanwalt Christian Ströbele und Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter sind zwar Anlaß, aber nicht Ursache des offenen Bruchs. Daß Ströbele zur Vorbereitung seines Treffens mit Reuter auf eigene Faust auch mit dem für "Aussteiger"-Programme verantwortlichen Verfassungsschutzbeamten (Tarnname "Benz", s. KONKRET 3/93) gesprochen hat, um von ihm zu erfahren, wie seine Behörde den Anschlag auf Weiterstadt beurteilt, hat die Situation zusätzlich zugespitzt. Die Widersprüche, die sich an der Idee und der Umsetzung dieser Initiative entzündet haben, geben jedenfalls Aufschluß über die gesamte angespannte Situation.

Die Celler Gefangenen haben angesichts des Stillstands in den Bemühungen um die Freilassung der politischen Gefangenen versucht, selbst eine Entwicklung anzustoßen, von der sie eigentlich gehofft hatten, daß sie von Gruppen und Leuten draußen aus eigenem Antrieb auf den Weg gebracht werden würde. Sie haben Christian Ströbele, der seit vielen Jahren als Anwalt für verschiedene Gefangene tätig ist und der als Grünen-Politiker einen Namen hat, gebeten, sowohl Kontakt mit Ignatz Bubis aufzunehmen, um weitere gesellschaftliche Kreise in die Bemühungen um die Freilassung der politischen Gefangenen einzubeziehen, als auch - und dies ist wohl bedeutsamer, auf jeden Fall aber folgenreicher gewesen - Gespräche mit Edzard Reuter, dem Konzernchef von Daimler-Benz, zu führen, damit dieser auf die Bundesregierung einwirke, die Gefangenen freizulassen und damit eine erneute Eskalation des bewaffneten Kampfes zu verhindern. Es sei darum gegangen, schreibt Karlheinz Dellwo, "Druck (zu) machen in den Reihen der Gegenseite". Der Konzernchef sollte die Bundesregierung bewegen, Schritte in Richtung auf Freilassung zu unternehmen. Das Druckmittel der RAF war wohl, auch wenn das niemand offen ausspricht, die Drohung mit neuerlichen Attentaten gegen Personen. Der Anschlag auf den Hochsicherheitsknast Weiterstadt dürfte unterstrichen haben, daß die RAF dazu weiterhin in der Lage ist. Karlheinz Dellwo betont in seinem Brief an Brigitte Mohnhaupt zwar, daß er Ströbele klargemacht habe, "daß er nicht in unserem Namen reden kann, daß er nicht verhandelt, keine Zusagen macht oder sonst etwas" - tatsächlich hatte der Grünen-Politiker aber aufgrund der Vorgeschichte dieses Treffens einen anderen Status, so, als wäre er tatsächlich von sich aus, lediglich als "jemand, der die ganze Geschichte von Anfang an kennt", zu Reuter gegangen.

Die erbitterten Reaktionen auf diesen, wie sich gezeigt hat, erfolglosen Vorstoß resultieren vor allem daraus, daß die Celler Gefangenen, was sie mittlerweile selbst für einen Fehler halten, ganz bewußt keine Rücksprache mit anderen Gefangenen gehalten haben - offensichtlich nicht einmal mit den in Lübeck gefangenen Frauen, die ihnen, auch aufgrund der gemeinsamen Geschichte (Hanna Krabbe war, wie Dellwo und Taufer, an der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt), politisch näher stehen als z.B. Brigitte Mohnhaupt oder Christian Klar. Sie wollten so verhindern, daß die Initiative bereits im Vorfeld abgelehnt würde. In einer Situation, in der sich Einschätzungen und Perspektiven ohnedies auseinanderentwickelten, mußte das als Affront erscheinen und nicht nur als Formfehler. Zumal die Initiative nicht von irgendwem kam, sondern von den wenigstens in einer Kleingruppe zusammengelegten Celler Gefangenen, die im Vergleich zu den meisten anderen Gefangenen aus der RAF entspanntere Haftbedingungen und vor allem im Gegensatz zur restlichen Gefangenengruppe (mit Ausnahme der Lübecker Frauen) seit etwa anderthalb Jahren die Möglichkeit haben, mit Journalisten zu reden und Interviews zu geben. Durch dieses Privileg konnten sie die politische Außenwirkung des Kollektivs massiv beeinflussen, was angesichts der existierenden Widersprüche bei ihren Genossinnen und Genossen schon seit einiger Zeit zu Mißtrauen und gereizten Briefwechseln geführt hat. Entsprechend scharf fiel deren Reaktion aus: Der Gesprächsversuch, der nach dem Anschlag von Weiterstadt gestartet worden war und der spätestens mit Bad Kleinen restlos gescheitert ist, wurde von Brigitte Mohnhaupt im Namen der anderen Gefangenen als "Deal" bezeichnet, der beinhalte, "daß unser Leben und unser Kampf hinter unserem Rücken abgewickelt werden sollen". Zusammen mit der berechtigten politischen Kritik brach über die Celler Gefangenen ein Gewitter aus Zurechtweisungen, Unterstellungen und polemischen Anmerkungen herein. Birgit Hogefeld und die RAF draußen, die an der Reuter-Initiative nicht beteiligt waren (die RAF hat allerdings im nachhinein erklärt, die Versuche hätten "nicht im Widerspruch zu unseren Vorstellungen" gestanden), wurden dabei gleichermaßen unerbittlich angegangen: "Ihr wollt zurück ins System", attestiert beispielsweise Heidi Schulz in einem Brief an Birgit Hogefeld der RAF; "wir haben gesehen, wohin der Prozeß der politischen Selbstentwaffnung geführt hat", resümiert Eva Haule in einer Erklärung die Entwicklung der RAF - "ihre einzigen Signale sind Populismus und ›Vergeltung‹". Die RAF ihrerseits reagiert in ihrer Erklärung vom 2. November - der Jahrestag der Schüsse an der Startbahn kann nichts Erfreuliches bringen - ähnlich gereizt: "Wenn Ihr denkt, daß die Existenz der RAF Eurer Freiheit entgegensteht und Ihr mit der Erklärung vom 28.10. das Ziel habt, die RAF endgültig vom Hals zu haben - dann solltet Ihr das auch so offen sagen."

Während der Tonfall und die gegenseitigen schweren Vorwürfe den Ein-druck erwecken, es gehe hier um den "Verrat" einer Gruppe an der anderen, steht tatsächlich die Frage nach dem Verhältnis von bewaffnetem Kampf und Freilassung der Gefangenen im Mittelpunkt des Streits. Die RAF selber argumentiert - wie auch die Celler Gefangenen und Birgit Hogefeld - überwiegend pragmatisch und taktisch: In einer Situation wie der augenblicklichen, in der es keine revolutionäre "Zentralperspektive" mehr gebe, sei der bewaffnete Kampf ein legitimes Mittel, auch bestimmte taktische Ziele, z.B. die Freilassung der Gefangenen, durchzusetzen. Im übrigen habe die RAF auch in früheren Phasen, vor allem 1977, versucht, "Druck gegen Staat und Kapital zu schaffen, wobei ein Aspekt nur gewesen sein kann, daß die Wirtschaft ihren Einfluß zugunsten Schleyers zur Geltung bringt" (Erklärung vom 2.11.).

Die Gefangenengruppe setzt dagegen: "Die Entscheidung darüber, ob die RAF bewaffnet angreift oder nicht, und noch weitergehend, ob sie als illegale bewaffnete Organisation weiterexistiert oder nicht, wird dem Staat in die Hände gelegt ... Unsere Geschichte, die Politik der RAF und unser Widerstand in den Gefängnissen werden zum Gegenstand eines Deals gemacht. Die bewaffnete Aktion ist dann auch nur noch ein Mittel dafür. Da springen wir raus ... Ein taktisches Verhältnis zu Menschenrechten ist für mich nicht akzeptabel! Das spricht aber daraus, wenn die Frage der Behandlung von politischen Gefangenen an die Existenz und Praxis linksradikaler Opposition draußen geknüpft wird. Unausgesprochen wird damit dem Staat das Recht eingeräumt, politische Gefangene als Geiseln in Isolationshaft endlos festzuhalten." (Eva Haule, Erklärung vom 23.10.)

Die Argumentation Eva Haules weist auf ein Dilemma hin, das von den Gefangenen auch früher schon öffentlich benannt worden ist: Die Verknüpfung zweier grundsätzlicher Probleme - die Situation der Gefangenen aus der RAF und die Frage, ob und wie militanter Widerstand hierzulande geleistet werden kann oder soll - ist falsch und gefährlich. Die aktuelle Situation ist anders als 1977, als es zwar ebenfalls um die Freilassung der Gefangenen ging - damit aber gleichzeitig, zumindest in den Augen der RAF, die Machtfrage gestellt worden war: Die radikale Linke befand sich damals, vor der vollendeten Integration weiter Teile in das System, vor der Restauration des Deutschen Reiches und vor dem Abschluß des Paradigmenwechsels der revolutionären Stimmung zur "5 vor 12"-Paranoia, an einem gänzlich anderen Punkt. Die RAF wollte in dieser Phase die Gefangenen befreien und dann den bewaffneten Kampf weiterführen (auch wenn die Freigelassenen nicht wieder in die Illegalität gegangen wären), die RAF heute will die Freilassung der Gefangenen erreichen, um dann eine neue Perspektive entwickeln zu können, in der es die RAF, wie es sie bis dahin gab, voraussichtlich nicht mehr geben würde.

Dieser Unterschied ist evident - trotzdem ist es etwas überraschend, wenn Eva Haule in ihrer Prozeßerklärung vom 4. November der RAF, die auch aktuell ein klares und wünschenswertes Ziel verfolgt, vorhält, sie betreibe mit dem Anschlag auf Weiterstadt und ihrer Drohung gegen Repräsentanten des Systems einen "von jeder politischen Bestimmung entleerten Aktionismus". Hier bestimmt eine aggressive Schärfe den Ton der Kritik, die völlig unangemessen ist, solange es nicht zu einer Aufarbeitung der Geschichte der RAF kommt, die in die heutige Situation geführt hat. Den schärferen Bruch mit jeder emanzipatorischen revolutionären Position stellen die auch von der RAF verantwortete Entführung einer Urlaubermaschine nach Mogadischu und die Ermordung des US-Soldaten Pimental dar. Ähnlich fragwürdig ist auch Brigitte Mohnhaupts These, Gefangene und RAF hätten jetzt "den Endpunkt der Entwicklung in die politische Agonie erreicht, die 1992 damit anfing, daß die Grundlagen in unserer Politik weggekippt wurden", die in ihrer für die meisten Gefangenen verfaßten Erklärung von Ende Oktober nachzulesen ist. Das klingt nicht nur eigenartig verschwörungstheoretisch, da schwingt auch eine Heroisierung und Mystifizierung der RAF-Politik bis zu jenem Zeitpunkt mit, die ahistorisch und moralisch nicht zu halten ist.

Ähnlich kurzschlüssig scheint es, den Versuch, die Guerilla-Politik so, wie sie bisher stattfand, mit einer Freilassung der Gefangenen zu beenden, umstandslos als "Abwicklung" zu diffamieren. Zwar erscheint dieser Versuch unrealistisch, es gibt aber Beispiele, die zeigen, daß eine Legalisierung der Guerilla nicht notwendigerweise eine opportunistische Anpassung ans System zur Folge haben muß. Der RAF heute ist auf jeden Fall hoch anzurechnen, daß sie damit begonnen hat, die eigenen Erfahrungen und Perspektiven zu thematisieren und kritisch aufzuarbeiten - mögen die Analysen auch unzureichend sein und die Ergebnisse nicht allen gefallen. An die Stelle empörter Vorwürfe müßte dringend die politische Analyse und Kritik, eine eigene Auseinandersetzung mit der Praxis und Geschichte der RAF, treten.

Die aktuelle Entrüstung der Gefangenengruppe wirkt auch deswegen irritierend, weil sie selber genau diese Verknüpfung von "Zäsur im bewaffneten Kampf" mit dem Ziel der "Freilassung" offensichtlich kurzzeitig für sinnvoll gehalten hat. Das ist sowohl Irmgard Möllers Text vom 15. April 1992 zu entnehmen, der den Schritt der RAF im Namen aller Gefangenen begrüßt, als auch Helmut Pohls Text vom August 1993, in dem es heißt: "Wir wußten, daß wir dafür (gemeint ist die Zäsur und eine Neuzusammensetzung der Linken, O.T.) nur einen engen Zeitraum des Übergangs im Umbruch haben, weil dann die Auswirkungen des Umbruchs voll herausgekommen sein werden und daß dann gesellschaftlich und politisch soviel an neuem Überlebenskampf... aufbricht, daß davon die politische Möglichkeit dafür erdrückt wird und es damit auch für eine Lösung unseres Gefangenenproblems zu spät ist."

Die RAF-Papiere und Aktionen geben im übrigen auch eine etwas andere als die von Eva Haule und anderen vorgegebene Interpretation her. Die RAF hat im Frühjahr 1993 mit ihren Aktionen und Erklärungen versucht, den Staat dazu zu zwingen, die Gefangenen rauszulassen. Die neuerliche militante Aktion, nicht als Anschlag auf Menschen, sondern auf einen Knast, erschien der Gruppe offensichtlich als vorletzte Chance zur Verbesserung der Situation. Auf das letzte Mittel, ein Attentat, hat sie verzichtet. So gesehen zielte die RAF nicht darauf, einen "Deal" zu machen, sondern darauf, ein ansonsten als problematisch erkanntes Mittel noch einmal für ein eng begrenztes Ziel einzusetzen. Die bittere Ironie ist, daß der Anschlag auf Weiterstadt RAF und Gefangene der Freilassung kein Stück näher brachte, dafür aber erreichte, daß seit langem erstmals wieder auch in Nicht-Sympathisanten-Kreisen eine gar nicht so klammheimliche Freude aufkommen konnte.

Zu kritisieren wäre jedenfalls nicht der "Deal" oder gar, sehr pathetisch, der Verrat an Geschichte und Politik der RAF, die nicht stattgefunden haben, sondern die Grundlage, auf der sie ihre Politik draußen in den letzten Monaten entwickelt hat. Ein schwerer Fehler der RAF war es, die eigene Zäsur im bewaffneten Kampf durch die Wahl des Zeitpunkts und eine wenig präzise Erklärung mit der Kinkel-Initiative zu verknüpfen. Statt Druck zu machen, wurde damit die Situation für den Staatsapparat entspannt, Kinkels Nullösung erfuhr die erhoffte Aufwertung und bestimmte von Stund an die Diskussion. Der grundlegende Schritt der RAF erschien nur noch als taktische Reaktion auf die Vorgabe des Bundesjustizministers. Die außerparlamentarische Mobilisierung wurde damit erheblich erschwert, die richtige Einschätzung der RAF, die eigenen Ziele müßten auch künftig gegen die Herrschenden erkämpft werden, wurde von dem Eindruck verdeckt, die wichtigen Weichen seien bereits gestellt, alles weitere geschehe fast von selbst. Die in der Kinkel-Initiative enthaltene propagandistische Unterstellung, der Staat sei versöhnlich gestimmt und nicht auf Vernichtung aus, dominierte die Debatte und ließ der Forderung von RAF und Gefangenen - "Alle 40 müssen raus!" - keine Chance. Die öffentliche Fixierung auf die Kinkel-Initiative, die es trotz anderslautender Beteuerungen bei der RAF und bei den Gefangenen gegeben hat, liegt außerdem, anders als es in der momentanen Kontroverse erscheint, in der traditionellen Logik der Politik der RAF: Schon zu Gründungszeiten war der Kampf gegen den Staatsapparat und "das Kapital" prägendes Element, der Blick war ziemlich starr auf dessen Repräsentanten gerichtet. Die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und der legal kämpfenden Linken spielte dagegen eine immer geringere Rolle.

An diesem Punkt müßte eine grundsätzliche, die historischen Erfahrungen einbeziehende Kontroverse ansetzen. Schließlich ist nicht nur die RAF mit ihrer militärischen Avantgardepolitik gescheitert. Auch Kommunistinnen und Kommunisten, die bei den Grünen und in Alternativen Listen systemoppositionelle Politik machen wollten, oder Autonome, die in sozialen und weniger sozialen Bewegungen breite und schmalere Bündnisse gesucht haben, haben keine Erfolgsbilanz aufzuweisen. So wenig wie die Frauenbewegung, die zeitweilig wohl die größten Erfolge hatte, sich derzeit auf dem Weg zu einem erreichbaren Ziel befindet.

Bemerkenswert ist immerhin, daß die Überlegungen der Gefangenen aus der RAF zwar einheitlich gegen die Celler, Birgit Hogefeld und die RAF draußen argumentieren, aber was das Verhältnis von revolutionärem Kampf und Gesellschaft angeht, Überlegungen enthalten, die in ganz unterschiedliche Richtungen weisen. Christian Klar z.B. fordert in einer Erklärung vom 16. Oktober: "Man müßte dagegen (gegen die ›Rückkehr in die Gesellschaft‹) die bewußte Entscheidung für das Konzept einer Politik der bewußten Minderheit und der Verankerung im Emanzipationsprozeß der Weltmassen erneuern." Damit vollzieht er einen bemerkenswerten Brückenschlag zwischen Positionen der "Radikalen Linken", die sich als "Kraft der Negation" versteht, und einer internationalistischen Fraktion der Autonomen, die auf die Marginalisierten als revolutionäres Subjekt setzen - ohne etwas über die dem zugrundeliegende Auswertung konkreter Erfahrungen und Analysen zu berichten. Eva Haule dagegen setzt auf eine Zusammenarbeit mit "antifaschistischen und fortschrittlichen Menschen hier, die außerhalb des traditionellen linken Spektrums arbeiten" - und es bleibt unklar, ob damit z.B. neue Konstellationen, wie sie zum Teil in der Anti-"Euthanasie"-Debatte entstehen, gemeint sind, oder ob daraus eher das traditionelle Bündnispolitik-Konzept spricht. Interessant zu wissen wäre auch, worin sie sich von den Celler Gefangenen unterscheidet, die mit dem Kontaktversuch zu Ignatz Bubis ähnliche Überlegungen verbunden haben dürften.

Gerade die jüngste Entwicklung sowie die Erfahrungen der Gefangenengruppe und der RAF bieten auch einigen Stoff für eine Diskussion über das Verhältnis von Individuum, Kollektiv und Klasse in der radikalen Linken: Daß Christian Klar sich zustimmend auf einen Autor wie Heiner Müller bezieht, ist ebenso überraschend wie das abfällige Urteil in einigen der aktuellen Erklärungen, die RAF und auch Birgit Hogefeld betrieben mit ihren öffentlichen Erklärungen und Briefen "Reintegrationsversuche in die Szene" (Rolf Heißler) oder gar die "Anpassung an die Beliebigkeit der Szenestrukturen". In diesen und anderen Debatten, die, wenngleich ein wenig versteckt, in den aktuellen Briefen und Erklärungen stecken, wird es ein Kollektiv "die Gefangenen aus der RAF" nicht mehr geben. Das mag für die Gruppe selber bitter sein, eine Katastrophe ist es nicht. Wichtig allerdings ist, daß auf die jahrelang offensichtlich nur unter schwersten Restriktionen - der Staatsschutz hört und liest mit - nichtöffentlich geführte Auseinandersetzung jetzt nicht eine Phase öffentlicher Wutausbrüche und Denunziationen folgt. Denn alle Gefangenen aus der RAF haben in den letzten Monaten dadurch, daß sie sich nicht von ihrer Geschichte distanziert und den provokativen Anforderungen an ein Entlassungsverfahren (psychiatrische Begutachtung) unterworfen haben, die Basis dafür gelegt, auch noch weitere Jahre keinen Platz "im Reich", "im System" oder sonstwo zu haben, sondern im Knast. Unter Bedingungen, die schlagartig - und zwar für alle - lebensbedrohlich werden können: Die Zwangsmaßnahmen, die am 11. November gegen Hanna Krabbe, Christine Kuby und Irmgard Möller in Lübeck ergriffen worden sind, weil, wie die "Koordinierungsgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus" (KGT) lancierte, die Gefangenen aus der RAF angeblich für diesen Tag einen "kollektiven Selbstmord" geplant hätten, sprechen eine deutliche, an 1977 erinnernde Sprache. Und auch die Totalisolation von Birgit Hogefeld, die in der JVA Bielefeld-Brackwede nicht einmal Einzel-Hofgang hat, solange sie nicht ein Papier unterschreibt, in dem sie erklärt, keine Kontaktversuche zu anderen Gefangenen aufnehmen zu wollen, dokumentiert unübersehbar, wie der Staat künftig zu verfahren gedenkt.

Eines jedenfalls macht die aktuelle Auseinandersetzung auch deutlich: Eine sinnvolle Kontroverse verlangt auf Dauer andere Haftbedingungen. Eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte von so unterschiedlichen Punkten aus muß zwar begonnen, sie kann aber ohne direkten Kontakt zueinander nicht zu Ende geführt werden. Die Verantwortung, hier Impulse zu geben und die Stagnation der letzten anderthalb Jahre zu beenden, liegt draußen - eine Parteinahme in der jetzt losgebrochenen, über weite Strecken intern anmutenden, mit vielen Verweisen auf draußen unbekannte Briefe und alte Querelen gespickten Debatte ist dagegen sicher von untergeordneter Bedeutung.

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