Geschichten aus 1001 RAF

12.07.1991 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | RAF

Veröffentlicht in: Konkret 07 / 91, S. 18: Ist ein Zeitungsartikel ein Kassiber? Und welche Infos machen aus einem Briefwechsel ein System? Der Generalbundesanwalt bereitet mit Hilfe der Medien die alten Lügen von "Zellensteuerung" und "Anwälten als Boten zur Kommandoebene" neu auf, um die Isolierung der Gefangenen aus der RAF vorantreiben zu können. Die Zusammenlegung wird als gescheitert bezeichnet, noch bevor sie überhaupt stattgefunden hat

Die Schlagzeilen lesen sich wie aus einer anderen Zeit - nur daß heute die "taz" und die "Welt" gleichermaßen titeln: "RAF-Rechtsanwälte unter Verdacht" - als seien die politischen Gefangenen die RAF, die Anwältinnen und Anwälte mit ihnen eine politische Einheit und die gezielte Desinformation der Bundesanwaltschaft eine gesicherte Wahrheit.

"Debatte über RAF-Zellensteuerung", "Inhaftierte Terroristen mit Kontakt nach draußen", "Vor den nächsten Morden" - seit Wochen streuen die Produzentinnen und Produzenten der öffentlichen Meinung Zitatfetzen aus "vertraulichen Briefen", "geheimen Unterlagen", aus "Kassibern" und "Zellenfunden" unters Volk und machen sich darauf genau den Reim, den ihre ungenannten jeweiligen Quellen gemacht sehen wollen.

Zum Glück für die Medien sind die Staatsschutzorgane ähnlich pluralistisch organisiert wie die öffentliche Meinung. Es gibt also Differenzen darüber, wie das gemeinsame Ziel, die endgültige Zerschlagung der RAF, zu erreichen wäre, und deshalb fällt die faktische Selbstgleichschaltung nicht so auf: Die alternative "taz" kann sich, informationell unterstützt vom Hamburger Verfassungsschutz-Chef Lochte, deutlich von der etablierten "Welt" abgrenzen, die aus dem Fundus des Generalbundesanwalts von Stahl schöpft.

Die aktuelle Kampagne hat ihren Ausgangspunkt, behaupten die Karlsruher Bundesanwälte, und die Medien haben es ohne zu zögern übernommen, in einem "Zufallsfund": "Im März 1990 bei einer normalen Zellenverlegung findet man bei Manuela Happe unter der Schmutzwäsche 50-60 dichtbeschriebene, zusammengerollte Zettel - erste Hinweise auf ein `illegales Informationssystem", berichtet "Panorama" am 14. Mai 1991. Erhärtet habe sich der Verdacht bei den unmittelbar daran anschließend vorgenommenen Razzien in acht Haftanstalten. Während damals in Presseberichten übereinstimmend von einem "illegalen Infosystem der Gefangenen untereinander" geschrieben wird, behauptet z.B. die "taz" heute: "Spätestens seit März 1990 wissen die Sicherheitsbehörden auch, daß es Kontakte zwischen den Gefangenen und der aktiven RAF gibt."

Wirkt die Geschichte vom "Zufallsfund" in Manuela Happes Zelle schon beim ersten Lesen wenig überzeugend, wird sie, überlegt man sichs genauer, vollends unglaubwürdig: Bei den meisten der Gefangenen finden routinemäßig einmal wöchentlich Zellendurchsuchungen statt, am 1. Dezember 1989, wenige Wochen vor dem "Zufallsfund" also, waren außerdem bei 26 der RAF zugerechneten Gefangenen zusätzliche, umfassende Razzien durchgeführt worden, in deren Verlauf Arbeitsmaterialien, Notizen, Briefe und Zeitungsartikel beschlagnahmt worden waren. Die "50-60 Blatt Papier" wären also entweder in dem wenig originellen Versteck "unter der schmutzigen Wäsche" übersehen oder innerhalb weniger Wochen geschrieben worden.

Den Vorwand für die Razzia im Dezember 1989 hatte übrigens ein Brief von Helmut Pohl vom Oktober 1989 geliefert, der seinerseits schon, immer wieder als "Kassiber" bezeichnet und in Zitatfragmente zerstückelt veröffentlicht, als "Beweis" für die "Zellensteuerung" diente. Eine Behauptung, die schnell "vergessen" wurde, nachdem der Brief im Zusammenhang nachzulesen war und außerdem feststand, daß die Planung des Herrhausen-Anschlags lange vor Oktober 1989 begonnen haben mußte.

Was im März 1990 wie eine der üblichen Schikanen und routinemäßigen Kampagnen der Bundesanwaltschaft gegen die Gefangenen wirkte, entfaltete im Sommer und Herbst des Jahres ungeahnte Wirkungen: In der DDR waren innerhalb kurzer Zeit mehrere ehemalige RAF-Mitglieder festgenommen worden, die meisten von ihnen zeigten sich bereit, mit den westdeutschen Justizbehörden zusammenzuarbeiten, um in den Genuß der Kronzeugenregelung zu kommen. Mit aussagewilligen Aussteigerinnen und Aussteigern, der propagandistisch wirkungsvollen Lancierung der Stasi-RAF-Connection und einer gezielten Propaganda gegen die Gefangenen aus der RAF als Drahtzieher der Anschläge, so mag der neue Generalbundesanwalt von Stahl kalkuliert haben, könnte das Kapitel bewaffneter Widerstand zugeschlagen werden.

Tatsächlich hatten die Aussagen vor allem von Susanne Albrecht und Werner Lotze zur Folge, daß gegen mehrere bereits inhaftierte Ex-RAF-Mitglieder wie Ingrid Jacobsmeyer und Sieglinde Hoffmann, deren Haftentlassung 1993 bzw. 1995 ansteht, neue Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Folgenreicher dürfte allerdings noch die aufgrund der Aussagen über die angebliche innere Struktur der RAF bewirkte weitere Distanzierung von bürgerlich-demokratischen Leuten sein, die bislang die Haftbedingungen als unmenschlich kritisiert hatten - die sich jetzt aber Gedanken machen, ob sie sich mit der Unterstützung der Forderung nach Zusammenlegung nicht vielleicht doch in den Dienst der RAF stellen lassen. In einem Bericht über das Urteil gegen Susanne Albrecht faßt die "Spiegel"-Reporterin Friederichsen diese Haltung in Worte: "Jetzt weiß man von der brutalen Hierarchie und gefährlichen Wirkung ideologischen Kalküls auf bestimmte labile, fanatisierbare junge Menschen... Sogar in der Haft gelingt es den Führungsleuten wie Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar, Adelheid Schulz und anderen noch, `unerwünschte Resozialisierungstendenzen zu unterbinden. Sie üben immer noch übermächtigen Zwang aus. (Susanne Albrecht) hat ausführlich darüber ausgesagt, wie sie in die Irre geleitet worden ist. Breucker (der Richter) hat ergänzt, `unter der geschickten Steuerung engagierter Rechtsanwälte."

Im August 1990 behauptete Generalbundesanwalt von Stahl in einem Gespräch mit der "Welt", daß "mit großer Wahrscheinlichkeit" die Operationen der RAF aus den Gefängnissen gesteuert würden. "Wer leistet die Botendienste? Die Verwandten, die Anwälte? Kein vielversprechender Ansatz für die Fahndung? Der Generalbundesanwalt muß schweigen", kommentierte die "Welt" verständnisvoll. Im Mai 1991 schweigt von Stahl zwar immer noch, seine Behörde und der nordrhein-westfälische Justizminister Krumsiek streuen mittlerweile aber Informationen über angebliche Koordinierungstätigkeiten des Düsseldorfer Rechtsanwalts Johannes Pausch und mindestens dreier weiterer Anwälte: eine Unterstellung, der die Verdächtigten nicht einmal etwas Konkretes entgegnen können, weil sie nur über die Medien davon erfahren haben. [1]

Seit 1990 wurden auch die Haftbedingungen in etlichen Knästen verschärft. Brigitte Mohnhaupt konnte beispielsweise nach dem Hungerstreik fünfmal wöchentlich jeweils eine Stunde täglich zusammen mit Claudia Wannersdorfer und Manuela Happe verbringen. Im Februar 1990 wurden diese Stunden gestrichen. Im Sommer wurde Brigitte Mohnhaupt einige Monate aus Aichach nach Stammheim verlegt, wo die Haftbedingungen schärfer waren. Mittlerweile ist sie zwar wieder in Aichach, darf sich aber nicht mehr am Anstaltssport beteiligen. Anfang 1991 wurde ein Pfändungsbeschluß für die Gelder auf ihrem Konto erlassen: Sie soll einen Teil der 109.000 Mark Gerichtskosten bereits während ihrer Haftzeit bezahlen. Die Konsequenz dieser einzigartigen Schikane ist, daß sie weder Batterien für ihr Radio, noch Waschpulver, Briefmarken oder Schreibwaren mehr kaufen kann. Sämtliche Briefe, die ihr ihre Mutter geschrieben hat, sind außerdem, weil sie angeblich Bestandteil des "Infosystems" sein sollen, beschlagnahmt worden.

Verlegungen, Erschwernisse beim Einkauf, Zurückhalten von Post, Verbot von Umschluß, Kontaktsperre innerhalb des Knastes prägen seitdem auch die ohnedies schon schikanöse Haftsituation von nahezu allen anderen Gefangenen. Die vier im sogenannten Normalvollzug in Köln-Ossendorf zusammengelegten Sieglinde Hofmann, Adelheid Schulz, Ingrid Jakobsmeier und Christa Eckes müssen sich während der wöchentlichen Zellendurchsuchungen regelmässig nackt ausziehen, vereinbarte Telefonate mit ihren Angehörigen werden gestrichen. Bei Christian Klar, der nach dem Hungerstreik nach Bruchsal verlegt wurde, werden Briefe mit Rechtschreibfehlern wegen des Verdachts "verdeckter Nachrichtenübermittlung" beschlagnahmt, Briefe, die er schreibt, werden gelegentlich, ohne jede Konkretisierung, zurückgehalten: "Ich soll mal blind solange umformulieren, bis es dem Zensor gefällt." Protest gegen diese Form von Zensur hatte den Einsatz von Rollkommandos und eine Nacht, die er nackt in den Bunker gesperrt wurde, zur Folge.

ach dem Attentat auf den Treuhandchef Rohwedder eskaliert der Staatsschutz die Situation weiter: Die CDU in Nordrhein-Westfalen fordert die Auseinanderlegung der Kleinstgruppe in Ossendorf, der nordrhein-westfälische Justizminister Krumsiek (SPD) bedauert öffentlich, daß "es mit den gefangenen Frauen keine sinnvollen Gespräche" gegeben habe: "Sie haben sich nicht so verhalten, wie wir das erwartet haben." - "Sollte sich bestätigen, daß die Frauen Kontakte zu Sympathisanten (!) aufgebaut hätten, werde er in Abstimmung mit der Karlsruher Behörde sofort reagieren", faßt die Stuttgarter Zeitung ein Gespräch mit Krumsiek zusammen.

Generalbundesanwalt von Stahl hat, unterstützt von fast allen Generalstaatsanwälten der Länder, einen Vorschlag zur Änderung des Prozeßrechts gemacht, um die Verteidiger der Gefangenen disziplinieren zu können: Unbotmäßige Anwältinnen und Anwälte sollen demnach auch in Ordnungshaft genommen werden können, die durch Anwältinnen und Anwälte verursachten Kosten infolge von "Störungen", die eine Verhandlungsunterbrechung zur Folge haben, sollen von diesen auch bezahlt werden müssen. Verfassungsschützer aus dem Bundes- und den Landesämtern sowie die Arbeitsgruppe Kripo der Innenminister haben unterdessen ein Konzept entwickelt, das die rechtlichen Grundlagen für umfassende Maßnahmen gegen "besonders beobachtungswürdige Personen", für die Einschleusung von V-Leuten in Haftanstalten, für die Überwachung der Verteidigerpost und für die "geregelte, systematische und zeitnahe Auswertung" der Protokolle der Häftlingsüberwachung und der Post der Gefangenen zusätzlich zur bisher üblichen Zensur durch Richter und Knastleitung auch noch durch Polizei und Verfassungsschutz schaffen soll.

Die Vorbereitungen für neuerliche Gesetzesverschärfungen werden flankiert durch sorgsam geplante Öffentlichkeitsarbeit: Über die Erklärungen von Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, die als Zeugen im Verfahren gegen Susanne Albrecht vorgeladen worden waren, wurde in den Medien übereinstimmend berichtet, die beiden hätten "neue Gewaltaktionen" angekündigt. Eine Behauptung, die nicht einmal als Interpretation durchgehen kann, wie die Anwälte der beiden klarstellen mußten. Um zu begründen, wieso sie in diesem Strafverfahren nicht aussagen werde, hatte Brigitte Mohnhaupt erklärt: "So lange wie bei Boock gucken wir nicht mehr zu. Jetzt läuft der Film noch ein bißchen, und dann kommen wir." Und Christian Klar hatte ähnlich deutlich nicht eine neue Aktion, sondern eine gemeinsame öffentliche Erklärung der Gefangenen zu den Aussteigern angekündigt: "Die Gefangenen, die unserer Sache verbunden sind, werden danach sprechen, und zwar direkt zur Öffentlichkeit." Genau das wird derzeit allerdings, so gut es die Sicherheitsbehörden können, unterbunden: Bemühungen der "Frankfurter Rundschau", mit mehreren Gefangenen ein Interview zu führen, scheitern am Einspruch der Justizminister und Knastchefs.

Im März 1991 wurden weitere Zellenrazzien vorgenommen - der richterliche Durchsuchungsbeschluß dafür war allerdings schon am 3. Dezember 1990 erlassen worden, konnte damals aber, wie es heißt "aus im wesentlichen organisatorischen Gründen", nicht vollzogen werden. Wichtiger als schnelle Ermittlungen scheint den Bundesanwälten das richtige Timing zu sein: Der Erfolg gibt ihnen recht - die Kritik an den doch recht harten Strafen für die RAF-Aussteiger wurde schnell überlagert vom Zorn über die "Zellensteuerung" der gefangenen Hardliner. Über 7.000 Blatt Papier wurden bei diesen Durchsuchungen abtransportiert: "Kassiber mit 7.000 Blatt", machte daraus aufgrund der Pressepolitik der Bundesanwaltschaft nicht nur die "Welt" - und immer neue Vermerke, Briefwechsel und Dienstanweisungen sichern seitdem, daß das Thema, die "Zellensteuerung", das "Scheitern" der niemals realisierten Zusammenlegung und neuerdings auch die von Anwälten und Gefangenen eindeutig dementierte Behauptung, ein neuer Hungerstreik stehe bevor, in den Medien bleibt.

"Kassiber" - das klingt geheimnisvoll und illegal, paßt in das Bild vom "Info-System". Die Bundesanwaltschaft verweigerte allerdings auf Nachfrage von KONKRET sowohl eine Erklärung, was denn unter einem "Kassiber" zu verstehen sei, noch was genau denn ein "Info-System" darstelle: Ein Artikel der in Ossendorf inhaftierten Adelheid Schulz für die in 6.000er Auflage öffentlich in Buchläden verkaufte Zeitung "clockwork 129a", der ganz regulär die Knastzensur passiert hatte, wurde in den Erklärungen aus Karlsruhe als "Kassiber" bezeichnet. Gilt aber jeder Text, der im Knast geschrieben wird, als "Kassiber", wird auch die Tatsache, daß sich Genossinnen und Genossen, die draußen jahrelang in einer Gruppe zusammen gekämpft und gelebt haben, nach der Inhaftierung informieren und schreiben, schnell zum "Info-System".

Die Bundesanwaltschaft führt einen Propaganda-Krieg mit Begriffen, die Presse macht sich zur Unterstützergruppe: Während den Anwältinnen und Anwälten seit über einem Jahr der Einblick in die Akten des laufenden Ermittlungsverfahrens verweigert wird, sie weder erfahren, was genau der Tatverdacht ist, noch gegen wen ermittelt wird, ob auch sie selber bereits strafrechtlich ins Visier genommen worden sind, veröffentlichen Zeitungen und Fernsehmagazine auszugsweise Texte, die angeblich aus dem beschlagnahmten Material stammen.

In "Panorama", das sich immer wieder gerne als PR-Agentur für die Staatsschutzbehörden verdingt, wurde eine Collage präsentiert: Abgefilmte Papiere mit Zahlenkolonnen und anderthalb Sätze kurze Zitate aus Briefen, in denen ein unbekannter Adressat harsch aufgefordert wurde, sich für eine Seite zu entscheiden, unterstützten auf eindrucksvolle Weise die Behauptung, daß der Gruppendruck unter den Gefangenen deren Abkehr vom bewaffneten Kampf verhindere und sie gleichzeitig Aktionen außerhalb des Knastes steuerten. Daß die Gefangenen, die sich unter ständiger Kontrolle von Schließern, Verfassungsschutz, Polizei und Staatsanwaltschaften befinden, denen jede Intimsphäre geraubt wird, persönliche Notizen oftmals und schon seit langem in Zahlenreihen verschlüsseln müssen, um sie wenigstens notdürftig dem unmittelbaren Zugriff ihrer Kontrolleure entziehen zu können, wurde selbstverständlich nicht gesagt. Genauso blieb die naheliegende Überlegung außen vor, was wohl private Briefe von z.B. "Panorama"-Redakteuren, würden sie gezielt auszugsweise veröffentlicht, alles "beweisen" könnten.

Gegen "Panorama" und den Generalbundesanwalt von Stahl hat der hannoveraner Strafverteidiger Gerd Klusmeyer mittlerweile Strafanzeige gestellt, weil sie "amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens im Wortlaut öffentlich mitgeteilt (haben), bevor sie in öffentlichen Verhandlungen erörtert worden sind". Die Bundesanwaltschaft weigerte sich gegenüber KONKRET, zu diesen Vorwürfen und zur Strafanzeige Stellung zu beziehen: "Das ist ein laufendes Verfahren."

Die sture Haltung wird den Bundesanwälten nicht sonderlich schwer gemacht - im Zuge der Wiedervereinigung ist die Volksgemeinschaft der Deutschen insgesamt enger zusammen- und von den letzten Staatsfeinden abgerückt. Die Identifikation mit den Zielsetzungen des Apparats ist immer deutlicher zum bestimmenden Moment auch weiter Teile der Opposition geworden. Deswegen erfolgte weder auf die Zwölf-Jahres-Urteile gegen Susanne Albrecht und Werner Lotze, noch gegen die Zurücknahme der wenigen Haftverbesserungen nach dem Hungerstreik nennenswerter Protest. Die Ignorierung rechtsstaatlicher Verfahrensweisen durch die Bundesanwälte wird fraglos hingenommen, weil es der Bekämpfung der RAF dienen könnte. Es ist also kein Zufall, daß selbst die, die sich gegen die zusehends rabiatere Staatsschutzpraxis aussprechen, nicht mehr von Menschenrechten und Humanität reden, sondern nur warnen: "Der Staatsschutz muß wissen, was er tut. Später klage niemand, wenn die Frequenz der Anschläge wächst."

Der Staatsschutz weiß, was er tut, er klagt auch nicht. Die Hardliner-Linie der Bundesanwaltschaft setzt sich zusehends gegen den integrationistischen Kurs des Hamburger Verfassungsschützers Lochte durch - weil die siebziger Jahre vorbei sind, in denen für eine Modernisierung der Gesellschaft eine alternative Intelligenz rekrutiert werden mußte. Weite Teile der ehemaligen Opposition sind integriert, die Gesellschaft ist modernisiert - um die Folgen möglichst effektiv in den Griff zu bekommen, ist jetzt eine härtere Gangart opportun: Lochte und die "taz" sind auslaufende Modelle, die verbliebenen Reste der militanten Opposition bekommen erste Folgen gerade zu spüren.

 

Und ein Nachtrag:

Oliver Tolmein
Muß "Spiegel" machen
Die freie Presse bittet zur Hetzjagd. Ein Nachtrag zu den Geschichten aus 1001 RAF
Veröffentlicht in: Konkret 07 / 91, S. 22

"Die RAF plant die Entführung von Spitzenmanagern" verkündet am Tag der deutschen Einheit das Deutschland-Magazin "Spiegel"; "Anwälte dienen RAF als Kuriere" titelt am gleichen Tag die "Welt". Die Bundesanwaltschaft hat ihren festen freien Mitarbeitern in den Redaktionen die nächste, diesmal etwas ausführlichere Zitatencollage als Denunziationsmaterial zur Verfügung gestellt. Der "Spiegel" greift es dankbar auf: Porträtfotos der Anwälte Dieter Adler und Gerd Klusmeyer illustrieren eine Story, die ein Musterbeispiel für einen Journalismus ist, der nichts mehr sein will als die vierte Staatsgewalt.

Fangschußmentalität ist im "Spiegel" eigentlich nichts Neues - auch nach den Verhaftungen von Ulla Penselin und Ingrid Strobl 1987, um nur ein schnell vergessenes Beispiel zu nennen, war in dem Magazin statt einer Nachricht bald die Cover-Version des Bundeskriminalamtes zu lesen (deren Demontage durch Anwälte und vor Gericht dann, gerade so, als ginge es nicht auch um die eigene Berichterstattung, Jahre später, nachdem die Hetzstory von einst ihren Zweck erfüllt hatte, lapidar vermeldet wurde).

Nichts Neues also - und doch ein bemerkenswert niederträchtiger Fall von Wiederholungstäterschaft: Indem jetzt die Verteidiger ins Visier gerückt werden, unternimmt man den Versuch, den Gefangenen aus der RAF den letzten Schutz vor dem totalen Zugriff des Staatsapparates zu nehmen. Auf diese Art wurde 1977 das Kontaktsperregesetz legitimiert, das während des Deutschen Herbstes die vollständige Isolierung der Gefangenen und damit die entgegen allen anderslautenden Gerichtsbeschlüssen (und "Spiegel"-Storys) noch heute ungeklärten Todesfälle von Stammheim ermöglichte.

Weder der "Spiegel" noch die "Welt" liefern auch nur einen Beleg für die folgenreichen Vorwürfe, die sie gegen die inhaftierten Gefangenen und ihre Anwälte erheben. Die Leserinnen und Leser werden nicht einmal über die fragwürdige Authentizität des dargebotenen Materials informiert: Anders als bei Hausdurchsuchungen schreibt die Strafprozeßordnung für Zellenrazzien im Knast die Anwesenheit von Zeugen nicht vor; nicht einmal die Gefangenen selber hatten in allen Fällen die Möglichkeit, bei der Beschlagnahmung ihrer Briefe und Unterlagen anwesend zu sein. Daß das von der Bundesanwaltschaft an die Medien weitergeleitete Material identisch ist mit dem in den Zellen gefundenen, läßt sich mithin nicht beweisen.

Doch selbst wenn gutgläubig die Authentizität des Materials unterstellt wird, sagen die zitierten Textfragmente keineswegs das aus, was die Staatsschützer und ihre Lohnschreiber behaupten. "dürfen uns nichts vormachen, dh WIR müssen alles viel stärker führen, deutlicher sein, eingreifen", so zitiert beispielsweise der "Spiegel" eine angeblich von Christian Klar stammendeTextpassage, und schreibt dann: "Der Wortlaut des mehrseitigen Kassibers, der im März sichergestellt wurde, kann als Ankündigung eines neuen Hungerstreiks oder eines Attentats interpretiert werden. Vor allem aber belegt er nach Ansicht von Sicherheitsexperten `eindeutig, daß die einsitzenden Terroristen mittlerweile aus den Gefängnissen heraus die Führung der bombenden und schießenden Komplizen übernommen haben."

Nun kann der Text natürlich auch als Kochrezept oder als Silbenrätsel interpretiert werden, weil der Fabulierkunst von Interpreten bekanntlich keine Grenzen gesetzt sind, vor allem wird aber weder das eine noch das andere in dem Text, dessen Entstehungsdatum und Adressaten ungenannt bleiben, auch nur angedeutet. Daß die Zeilen "belegen" sollen, und das auch noch "eindeutig", daß die Gefangenen die Führung der RAF übernommen haben, läßt höchstens darauf schließen, daß die Sicherheitsexperten zuviel Schopenhauer gelesen haben: "Die Welt als Wille und Vorstellung".

Die "Spiegel"-Interpretation ist im übrigen nicht nur sonderbar, weil sie sich aus dem Zitierten nicht herauslesen läßt. Was angeblich "mittlerweile" der Fall sein soll, hat der Bundesanwaltschaft auch schon in den siebziger Jahren den Vorwand für Gesetzes- und Haftverschärfungen geliefert - mit einem Unterschied allerdings: Damals gehörte der heute einsitzende Christian Klar zu den Leuten aus der RAF, die von den Gefangenen (damals u.a. Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof) aus dem Knast heraus kommandiert worden sein sollen, weil, wie es damals hieß und heute wieder heißt: "drinnen die geistigen Köpfe sitzen, draußen die Handwerker". Geändert hat sich noch etwas: Die Gefangenen kommandieren heute die "Kommandoebene" nicht nur, sie üben dem "Spiegel" zufolge sogar "Druck" auf sie aus - wie sie das machen, was sie gegen ihre Genossinnen und Genossen in der Hand haben, bleibt wohl auch weiterhin das Geheimnis des Staatsschutzes. Immerhin wissen die Leserinnen und Leser jetzt, wie sämtliche "Terroristen draußen" heißen: "Bernhard", und wie es ihnen geht: Er "sagt... selbst, ihm gehts dreckig".

Und dann folgt der Beleg dafür, daß es eine Abstimmung zwischen der Kommandoebene der RAF und den Gefangenen über den Herrhausen-Anschlag gegeben habe: Eva Haule-Frimpong habe geschrieben: "jedenfalls in der qualität von angriff müßte das was sein, was so durchhaut wie anfang 85... aber auf jeden fall ist doch klar, ohne praxis gibts keine hist. tatsache... als wenns das gäbe, daß `ne guerilla `ne neue situation schaffen kann ohne praxis."

Nun ist es schwer, aus diesen 43 Worten, die aus mindestens drei Sätzen geklaubt wurden, überhaupt einen Sinn zu destillieren - daß "der Klarname des nächsten RAF-Opfers" in ihnen nicht enthalten ist, ist immerhin selbst dem "Spiegel" aufgefallen. Daß eine Guerilla ohne Praxis keine neue Situation schaffen kann, ist im übrigen genauso unbezweifelbar richtig, wie die Erkenntnis schlicht ist, daß es ohne Praxis keine "hist. tatsache" gibt - und daß sich eine Gefangene aus der RAF, die zum Leidwesen der Bundesanwaltschaft dem Konzept des bewaffneten Kampfes nicht abschwört, Gedanken über die "Qualität von Angriffen" macht (wobei "Angriff", wie man beliebig vielen Flugblättern entnehmen kann, im linken Sprachschatz synonym für fast jede Art von nicht geduldeter politischer Betätigung steht), mag man gut oder schlecht finden, ein Indiz für ihren Kontakt zu Attentätern "draußen" ist es keineswegs.

Daß in einem "Spiegel"-Artikel, in dem aus den Akten der Bundesanwaltschaft zitiert wird, nur dermaßen nichtssagende Textstellen veröffentlicht werden, deutet allerdings darauf hin, daß die nicht-veröffentlichten 7.000 Blatt für die Behauptungen der Bundesanwaltschaft auch bei noch intensiverer "Auswertung" wenig mehr hergeben dürften. Das erklärt auch, wieso auf die scheinbar so "eindeutigen" Befunde, die "Welt" und "Spiegel" mitzuteilen wissen, bisher kein juristischer Schritt erfolgt ist - ein Umstand, den "Spiegel" und "Welt" übrigens kunstvoll zu umschreiben suchen. "Schon im Februar meldete Bundesanwalt Pfaff...", heißt es im "Spiegel", "den `Verdacht ans Bonner Justizministerium, `Nahtstellen zwischen den Gefangenen und der Kommandoebene der RAF könnten die hannoverschen Strafverteidiger Dieter Adler und Gerd Klusmeyer sein ... Der Vorwurf sei `so schwerwiegend, fuhr Pfaff fort, daß Generalbundesanwalt Alexander von Stahl `nunmehr ein Ermittlungsverfahren einleiten müsse."

So schwerwiegend war der Verdacht also schon im Februar - noch vor den jetzt präsentierten Zellenfunden - und was hat Herr von Stahl, bekanntlich kein Zauderer, getan? "Der Generalbundesanwalt wollte allerdings noch vor einer Woche im Gespräch mit der `Welt Ermittlungsverfahren gegen die beiden Rechtsanwälte noch nicht bestätigen", heißt es dortselbst.

Der Verdacht liegt nahe, daß auch Herr von Stahl weiß, daß mit seinem Material ein Prozeß gegen die Anwälte nicht zu führen ist. Wenn die Fakten nicht reichen, muß halt Volkszorn weiterhelfen. Um den zu schüren, hat der Staatsschutz seinen "Spiegel" und seine "Welt": Sie bereiten das Klima, in dem zur Not auch ein Prozeß ohne Fakten gedeiht. Die freie Presse bittet zur Hetzjagd - die Beschuldigten werden nicht gehört, Pardon wird nicht gegeben, die "vierte Gewalt im Staate" funktioniert als Sondereinsatzkommando - rücksichtslos, brutal und im faktisch rechtsfreien Raum.


[1] Wie folgenreich diese Unterstellung der Bundesanwaltschaft sein kann, mußten 1975-78 die Anwälte Groenewold und Croissant erleben: Über Monate wurden ihre Kanzleien observiert, sie wurden zeitweilig inhaftiert, gegen sie wurde ein Strafverfahren eröffnet, in dessen Verlauf relativ hohe Haftstrafen verhängt wurden.

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