Nie wieder deutsche Linke?

09.10.1991 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Legale Linke

Abschied von einem Zerfallsprodukt

Veröffentlicht in: Konkret 10 / 91, S. 35

Das gar nicht so neue Deutschland war gerade ein Vierteljahr alt, die Zeitungen hatten die Meldungen über Attacken neonazistischer Gewalttäter auf Flüchtlingsunterkünfte bereits in die Kurzmeldungsspalten verbannt, da war die Halbwertzeit der "Nie wieder ..." Parole schon überschritten. Heute steht nicht mal mehr ihre Endlagerung an. Als Zerfallsprodukt der in den letzten Monaten stark beschleunigten Atomisierung der Linken wurde sie, dem ökologischen Trend der Zeit zum Wohlgefallen, rückstandsfrei entsorgt.

Als eine der ersten hatte Jutta Ditfurth, damals noch grüne "Radikale Linke", angesichts der bevorstehenden Reichtstagswahlen und ihrer eigenen Kandidatur das "Nie wieder ..." in ein "Na wenn schon" umgebogen. Während des Golfkrieges überzeugte dann die deutsche Friedensbewegung den einen und den anderen in der antinationalen Kampagne aktiven Linksradikalen vom Auseinanderbrechen der Volksgemeinschaft, so daß er sich die Frage stellte: "Wie kann man ... antideutsch sein, wenn es keinen nationalen Konsens gibt, sondern die Nation zerstritten ist?" Schließlich zog "Heiner", ehemals Redakteur der "Nie wieder Deutschland"-Kampagnen-Zeitung, den Schlußstrich unter das kaum über das Entwurfsstadium hinaus geschriebene Kapitel außerparlamentarischer Politik: "Die antinationale Orientierung, die ein Teil der Linken gegen die Wiedervereinigung vorgenommen hat, hat im Golfkrieg einen Knacks bekommen, obwohl ihre strategische Relevanz für Politikentwicklung bereits vorher in die Krise geraten war. `Nie wieder Deutschland taugte zur Agitation gegen den Vereinigungsprozeß und zur Schärfung des Bewußtseins gegenüber der deutschen Geschichte. Als Theorieersatz ist die Formel untauglich, Konflikte wie den Golfkrieg zu erklären."

Nun hat niemand den Golfkrieg ernstlich mit dieser "Formel" erklären wollen, so wenig wie die heute noch gern skandierten "Feuer und Flamme für diesen Staat"oder "Hoch die internationale Solidarität" als Staatsanalyse oder als Erklärung für die Konflikte zwischen den imperialistischen Staaten gemeint sind. Daß der Versuch einer antinationalen Orientierung zudem plötzlich mit dem Etikett "Theorieersatz", Prädikat "untauglich", versehen und im nachhinein als, gerade mal, Agitationsformel und linksradikaler Sensibilisierungskurs in Sachen deutscher Geschichte gedeutet wird, macht die Kritik zwar nicht klarer, ebnet aber vielleicht den Weg zu ihrem (Miß-)Verständnis.

Das Engagement gegen die Wiedervereinigung erscheint im Nachhinein nicht als Beginn einer Reflektion grundsätzlicher Fehler der deutschen Linken, sondern als verschreckter Reflex auf eine überraschende Wende der Politik der Herrschenden. Es war die antinationale Variante der Betroffenen-Politik, eine Ein-Punkt-Bewegung, die sich allerdings dadurch auszeichnete, daß sie sich dem volksgemeinschaftlichen Konsens an einem zentralen Thema, wenn auch nur für kurze Zeit, entgegenstellte: bewußt - aber, wie sich dann zeigte, ohne die Bereitschaft, auch das eigene Selbstverständnis in Frage zu stellen. Der Blick blieb auf die Aktivitäten des Staatsapparats und die Operationen "des Kapitals" gerichtet. Da im Zentrum der Gesellschaft weniger durcheinandergewirbelt wurde als anfangs befürchtet und man die zentrifugalen Kräfte, die an den Rändern Minderheiten zusehends ins Abseits drängten und drängen, nicht wahrnahm, gaben die Kommentatoren und Kommentatorinnen bald schon Entwarnung: kein fahnenschwenkender Nationalismus, kein sofortiger Einsatz deutscher Truppen in aller Welt, kein sofortiges Verbot aller linken Organisationen - alles wird nur halb so deutsch bzw. schlimm.

"Manche unserer Prognosen aus dem letzten Winter treffen heute nicht genau zu", resümierten, zwei für viele, "mir. und mar." im "Arbeiterkampf"; es sei deshalb "unangebracht..., Assoziationen zum Nazifaschismus" herzustellen. Die parallel zum Vereinigungsprozeß etablierte "Euthanasie"-Diskussion (und ihre verborgene Praxis), die immer aggressiveren antisemitischen Aktionen und rassistisch motivierten Überfälle, aber auch die von Regierungsseite initiierte Grenzdiskussion, die zu Taten drängende Asylrechtsdebatte, die Legitimierung des Bundeswehreinsatzes außerhalb des NatoTerritoriums spielten in diesem Szenario so wenig eine Rolle wie die mittlerweile allgemein akzeptierte politische (und juristische) Gleichsetzung des real existierenden Sozialismus mit dem NS-Regime.

Die Wende zum Ende der antideutschen Orientierung brachte aber der Golfkrieg, genauer: die Angriffe des Irak auf Israel und der aus dem beredten Nicht-Verhalten (oder dem nicht nur gelegentlich ungleich beredteren Verhalten) der verbliebenen Linken von interessierter und weniger interessierter Seite entwickelte Antisemitismus-Vorwurf. Unversehens hatte die Geschichte auch die deutschen Antinationalisten und Antinationalistinnen eingeholt. Und wieder folgte auf die unerwartete Konfrontation mit unserer Vergangenheit der Reflex Betroffener anstelle der Reflektion von Revolutionären.

Statt der inflationären Verwendung des Antisemitismus-Vorwurfs mit einer präziseren Kritik an der katastrophalen Haltung weiter Teile der deutschen Linken zu Israel und gegenüber Jüdinnen und Juden zu begegnen und der zweifelsohne praktizierten Funtionalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs zum "Kampfbegriff innerhalb des innerlinken Stellungskriegs" ("hr." im "AK") durch eigene, anders motivierte Interventionen die Wirkung zu nehmen, wurde in schlechter alter Tradition "politische Desorientierung" gerügt und der angebliche Neben- dem vermeintlichen Hauptwiderspruch bedingungslos untergeordnet. Mehr noch: Daß antiisraelische und sogar antisemitische Positionen in der Linken virulent wurden, wurde den Antisemitismus-Kritikern zur Last gelegt. "Broder hat m.E. viel zielgerichteter und routinierter all die Elemente an wirklichem und vermeintlichem Antisemitismus herausgekitzelt/-provoziert, die er vorher kannte..." Zwar beendet "hr." seinen Artikel mit der Sollens-Erklärung: "Sowohl die theoretische als auch die politische Definition des Antisemitismus und ihre Scheidung von unmittelbarer politischer Interessenlage steht daher... bei uns noch an" - bei dieser pflichtbewußt-routiniert formulierten Absichtserklärung ist es dann, obwohl mit dem Ende des Kriegs am Golf die Gefahr "politischer Desorientierung" minimiert worden sein dürfte, aber auch geblieben und damit bei der in ihrer formelhaften Genügsamkeit skandalösen Feststellung: "Es geht nicht darum, linken Antisemitismus zu leugnen ... Selbstverständlich gibt es ihn bei uns, und wir haben ihn in unserer Geschichte aufzuarbeiten."

Es fällt schwer, als Zufall zu begreifen, daß ausgerechnet jetzt, da sich in Deutschland zusehends die Volksgemeinschaft formiert, die das vielfältig vorhandene Ressentiment bekanntlich mit besonderer Konsequenz in Taten übersetzen kann, die übriggebliebenen einheimischen Linken die Ausflucht ins kapitalistisch Allgemeine suchen: Allenthalben wird wieder über die Weltordnung, über Umstrukturierung im Kiez, über Brückenköpfe des Imperialismus und Kolonisierung der Dritten Welt geredet, geschrieben und räsoniert, als seien zwischendurch nicht viel mehr als ein paar Wiesen wiedervereinigt und zum Bauplatz gemacht worden. Dieser leidenschaftslose Abschied von der Kampagne "Nie wieder Deutschland" wird so zum Ausdruck eines vollständigen Scheiterns: Die Linke - jetzt und in diesem Kontext erweist sich die Verallgemeinerung als notwendig - ist nicht nur als staatsfeindliche Kraft von einiger Relevanz am Ende, sie paßt sich derzeit, wenngleich auf die ihr eigene Weise und mit der ihr eigenen Verzögerung, dem Zeit-Ungeist an und wird zum (oppositionellen) Teil im Deutschen System: ein bißchen sensibler im Umgang mit der Geschichte, doch auch "selbstverständlich" ein wenig antisemitisch, behindertenfeindlich und rassistisch - aber als antiimperialistische Antikapitalisten lassen wir nichts auf uns kommen.

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